HERBERT GRASSL wurde 1948 in Laas in Südtirol geboren und lebt seit 1975 in Salzburg. Er studierte Musikerziehung und Chorleitung am Salzburger Mozarteum sowie ebendort Komposition bei Cesar Bresgen und postgradual bei Irmfried Radauer und Boguslaw Schaeffer. Zweimal erhielt er das Österreichische Staatsstipendium. Von 1988 bis 1997 leitete er das Österreichische Ensemble für Neue Musik (œnm) und dirigierte eine Vielzahl von Konzerten weltweit. Bis 2017 war er künstlerischer Leiter der Internationalen Paul Hofhaymer Gesellschaft Salzburg. Als Composer in Residence 2022 des Zentrums zeitgenössischer Musik Kärnten ist ihm am Montag, 30. Jänner 2023 ein Konzert gewidmet, bei dem ein Werk zur Uraufführung gelangt und weitere Kompositionen von ihm sowie von Hossam Mahmoud zu hören sind. Michael Franz Woels hat HERBERT GRASSL in Salzburg Parsch besucht und im Komponierzimmer mit ihm über sein Anti-Weihnachtslied, die Bekanntschaft mit H. C. Artmann und den klangmobilen John Cage gesprochen.
Ensemblestücke und Liedbearbeitungen von dir sind am 30. Jänner im Konzerthaus Klagenfurt, interpretiert vom Ensemble NeuRaum, zu hören.
Herbert Grassl: Es werden vier Stücke von mir aufgeführt – sowie die Uraufführung eines Klarinetten-Solo-Stückes mit dem Titel „Atem der Reinheit“ von Hossam Mahmoud. Von mir stehen eine Uraufführung mit dem Titel „RITORNELL 3“, die Bearbeitung von drei Rilke Liedern, gesungen von der Altistin Bernadette Furch, sowie zwei Solostücke für Violoncello auf dem Programm.
In „RITORNELL 3“ geht es um eine Kindheitserinnerung, die sich mir stark eingeprägt hat. In dieser Zeit, in den 1950er-Jahren, konnten wir im Urlaub noch nicht ans Meer fahren. Das begehrte Urlaubsgebiet für uns war ein Almgebiet im Laaser Tal, das sich bis auf ca. 2500 Meter hoch ausbreitet. Dort gab es kaum Tourismus. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal bewusst mit dem „Schrägwagen“ einer Material-Standseilbahn hochfahren durfte. Mit der Bahn wurden die Marmorblöcke ins Tal geliefert – der Transport von Personen war wohl nicht erlaubt, wurde aber toleriert.
Im Alter von ca. fünf Jahren hat sich das Erlebnis dieser Fahrt dermaßen eingeprägt, dass ich es noch heute nacherleben kann: Wartezeit, ein Signal, dann spannte sich langsam das Seil und mit einem kleinen Ruck ging es bergauf. Die Geräusche der Maschine, das regelmäßige Schlagen auf den Gleisen sind in dieser Komposition nachempfunden und angedeutet.
Der strahlend weiße Stein hat mich viele Jahre später – relativ staubfrei im Arbeitszimmer – mehrmals inspiriert und beschäftigt, u. a. in einer Komposition im Marmorwerk für Blechbläser Ensemble: 1995 dann die Aufführung der Komposition „Berührungen“ im Göflaner Marmorbruch.
Die „Berührungen“, ein gemeinsames Projekt mit dem Maler Jörg Hofer, wurden zuerst in Salzburg und in Dresden aufgeführt. Wie im Titel angedeutet, geht es darin um eine Annäherung von Musik und Malerei. Hofer gibt in seinen Bildern der Leinwand mit verflüssigtem Marmorstaub Struktur. Dadurch entfalten die aufgetragenen Farben eine besondere Wirkung. Mit Videoaufnahmen in Bewegung gesetzt wurden sie zur Vorlage meiner Musik.
Im Sommer 1995 wurde eine Aufführung der „Berührungen“ im Göflaner Marmorbruch auf 2250 Meter Seehöhe realisiert.
Du hast das Thema Marmor jetzt schon angesprochen. Dein Vater war ein Steinmetz, wie sehr haben dich „skulpturale Überlegungen“ beim Komponieren beeinflusst?
Herbert Grassl: Neben meinem Vater bin ich in der Umgebung von Steinmetzen und Bildhauern aufgewachsen. Jahrelang wurden im Marmorwerk Kreuze für gefallene amerikanische Soldaten hergestellt. Der Laaser Marmor hat eine einmalige kristalline Struktur. Derzeit wird für den Überbau des Ground Zero in New York der Marmor geliefert [Anm.: für den World Trade Center Transportation Hub].
Berühmte Bildhauer haben diesen Stein für ihre Arbeiten ausgewählt. Was kann man vom Bildhauer lernen? Er muss, um seine Figur zu vollenden, alles Überflüssige weghauen. „Die Idee liegt im Inneren eingeschlossen. Alles, was du tun musst, ist, den überschüssigen Stein zu entfernen“, sagte Michelangelo Buonarroti.
Was bedeutet das, übertragen auf die Erarbeitung einer Komposition? Ich muss auf das Wesentliche hinarbeiten und mich darauf konzentrieren. Entwürfe und Ideen müssen aussortiert werden, zahlreiche Skizzen landen im Papierkorb, bis sich das Endprodukt – es ist vielleicht immer noch nicht perfekt – herausschält.
Bestimmte Strukturen in meiner Musik kann ich auch von der Natur ableiten. Die abstrakte Kunstmusik kommt ohne abgeleitete Vorstellungen nicht aus. Das beginnt schon mit der Vorstellung der Tonhöhe: hoch – tief, der Akkorde: eng – weit oder von Dur und Moll: hart – weich.
Wenn ich mir den Verlauf des Tagliamento [Anm.: einer der letzten Wildflüsse in Oberitalien, Friaul], mit all seinen Wendungen und Facetten, die die Natur bestimmt hat, in Musik gesetzt, vorstelle, erhalte ich ein Geflecht von sich ständig dynamisch verändernden Ton- Rhythmusgruppen. Komplexität mit wechselnder Dynamik. Ich finde Musik muss nicht immer zur Gänze erfassbar sein.
„DESHALB DIESES WEIHNACHTS WIEGENLIED, MIT VERSTÖRUNGEN“
Kommen wir wieder zurück zur Aufführung am 30. Jänner. Die Stücke entstanden im Rahmen deiner Residency 2022 des ZZM Kärnten (Zentrum zeitgenössischer Musik Kärnten). In „RITORNELL 3“ spielt eine Kindheitserinnerung eine zentrale Rolle. Auch bei den anderen Stücken?
Herbert Grassl: Ein Stück trägt den Titel „Berceuse de noël“, übersetzt in etwa: Weihnachts-Wiegenlied. Es ist allerdings ein „Anti-Weihnachtslied“ geworden, denn ich habe um Weihnachten herum meist meine Depressionen. Die wichtigsten Ereignisse in den Medien sind die veröffentlichten Verkaufszahlen im Weihnachtsgeschäft. Es ist eine Zeit der Anspannung der Menschen, unerträglicher Werbung, Kaufdruck, häuslicher Gewalt. Reiche Potentaten auf der einen, Hunger, brutaler Krieg, Armseligkeit auf der anderen Seite.
„Berceuse de noël“ ist denjenigen gewidmet, denen die Tür bei der Herbergsuche nicht aufgemacht wird.
Am 30. Jänner wird auch ein Stück von Hossam Mahmoud gespielt, wie du anfangs erwähnt hast. Ist dieses Stück zusammen mit deinen neuen Stücken entstanden? Ihr habt ja immer wieder auch gemeinsam Stücke komponiert?
Herbert Grassl: Die Stücke für den 30. Jänner sind unabhängig voneinander entstanden. Das Stück „Eingeklemmt“ [Anm.: für großes Orchester in vier Orchestergruppen, 2008], das bei den Klangspuren Schwaz mit dem Tiroler Sinfonieorchester Innsbruck unter Johannes Kalitzke uraufgeführt wurde, ist eine Gemeinschaftskomposition, ebenso das Stück „Von Liebe reden…“.
Man sitzt nicht zusammen und sucht Töne und Motive. Nach Absprachen komponiert zunächst jeder seine zugewiesenen Teile. Dann kann man eventuell Überleitungen einfügen und nach Bedarf Teile zusammenfügen. Am Ende wird die Komposition noch gemeinsam ausgearbeitet.
Eine weitere Komposition von mir, drei Lieder nach Texten von Rainer Maria Rilke für Altstimme, habe ich schon für mehrere Ensembles bearbeitet. Die Bearbeitung für die elf Musiker:innen des Ensembles NeuRaum finde ich spannend, vor allem durch die Hinzufügung der Instrumente Zither und Hackbrett.
Den Dichter H.C. Artmann habe ich noch als Student in Salzburg kennengelernt. Die beiden Solostücke für Violoncello sind ein Auftragswerk der Bücherwürmer Lana. Mit diesem Literaturveranstalter hatte Artmann eine intensive Beziehung. Elmar Locher, Germanistik-Professor
und Präsident der Gesellschaft, hatte mich eingeladen, ein Werk zu komponieren. Ein Jahr nach dem Tod H. C. Artmanns wurde dieses Solostück in Lana uraufgeführt. Diese Komposition besteht aus zwei Teilen: „Adieu H. C. Artmann“ und „med ana rodn dintn.“
Im 2. Stück bedient der Cellist auch eine Fußtrommel. In „med ana rodn dintn“ wehrte Artmann sich damals gegen eine böse Diffamierung durch die FPÖ. Es gab in Wien [Anm.: in den 1990er-Jahren] ein Plakate mit dem Slogan: „Lieben Sie Scholten, Jelinek, Haupt, Paymann, Plasterk… oder Kunst und Kultur“. Auch H. C. Artmann wurde als sogenannter Staatskünstler angegriffen. Unkenntnis und Ignoranz eines großen Teils der Bevölkerung wird belohnt, damit kann man Wähler:innen rekrutieren.
Ein befreundeter Künstler, Anton Thuswaldner, hat 1991 den – für Renovierungsarbeiten abgesperrten – Mozartsteg über die Salzach eingehüllt. Im diesem Mozartjahr [Anm.: 200. Todestag] hat die Stadtgemeinde ein größeres Budget freigemacht, um „für die Moderne etwas zu machen“. Zu dieser Zeit sind auch die Klangmobile entstanden. Gleichzeitig wurde das Mozartdenkmal mit Einkaufswägen zugebaut – ein kraftvoller Hinweis auf den Missbrauch der Werbemarke Mozart in Salzburg. Das haben viele Mitbewohner:innen dieser Stadt nicht toleriert.
Wir hatten in dieser Zeit die ersten Aktionen mit den Klangmobilen [Anm.: der Maler und Projektkünstler Otto Beck hat damit die Idee von der Einbindung moderner Musik in natürliche Klangwelten verfolgt]. In Salzburg war eine aufgeladene Stimmung spürbar. Bei einer Fahrt mit den Klangmobilen wurde ein Mädchen, das mit dem ersten Rad gefahren ist, von einer Frau heruntergerissen und beschimpft: „Ihr gehört ins Arbeitslager!“
„JUNGE MENSCHEN ÜBERNEHMEN VERANTWORTUNG UND GREIFEN ZU ENTSPRECHENDEN MASSNAHMEN.“
Auch die österreichischen Klimaaktivist:innen erfahren ja mittlerweile bei ihren Aktionen Misshandlungen im öffentlichen Raum…
Herbert Grassl: Warum wird der Anlass für diese Aktionen nicht wirklich ernstgenommen? Wir wissen, dass unsere Ressourcen aufgebraucht sind. Aber sind wir bereit, der Zerstörung Einhalt zu gebieten? Junge Menschen übernehmen Verantwortung und greifen zu entsprechenden Maßnahmen. Ich gratuliere ihnen für diesen Mut! Es geht darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen und auch mit krassen Aktionen auf der Straße die Autofahrer:innen zu veranlassen, sich die Frage zu stellen, ob es noch sinnvoll ist, mit dem Auto und nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Fahrrad in die Stadt zu fahren. Aber mit der Anschüttung von Kunstwerken kann man diese Ziele sicher nicht erreichen.
Umweltthemen waren für dich schon früh sehr zentral. Über dein „Orchesterstück 5 (Eine Alpensinfonie)“ schreibst Du: „Dabei muss kein direkter Bezug zum gleichnamigen Werk von Richard Strauss hergestellt werden. Allzuviel hat sich in der Zeit zwischen 1915 und 1988 in den Alpen verändert: aus der Aufbruchstimmung, dem überwindbaren Abenteuer und imposanten Naturerlebnis ist heute ein wehmütiger Abgesang geworden. Ein Abgesang über den undramatischen Niedergang, begleitet vom allmählichen Sterben der Natur.“
Herbert Grassl: Nachdem ich viel in den Bergen wandere, ist die Veränderung für mich präsent und deutlich sichtbar. Die Zerstörung hat ja viele Dimensionen und die mag ich jetzt nicht alle aufzählen. In größeren Zeiträumen betrachtet sind wir nicht die letzte, aber vielleicht die vorletzte Generation.
Die Klangmobile-Aktionen, die du gemeinsam mit Otto Beck durchgeführt hast, waren ein sehr zukunftsweisendes Projekt. Heute machen sich Musiker:innen und Veranstalter:innen vermehrt Gedanken, wie sie ihre Reisen organisieren, ihr Equipment transportieren und ihre Veranstaltungen möglichst ressourcenschonend durchführen.
Hast du eigentlich noch Kontakt zu Otto Beck?
Herbert Grassl: Wenig. Die Idee, die ersten Entwürfe, das ist alles von ihm. Eine zweite wichtige Person war Wolfgang Spannberger. Er hat die „Klangboxen“ entwickelt, welche die Räder erst zu Klangmobilen gemacht haben. Er war auch bei den ersten Aktionen als Tonmeister dabei und hat vor allem die Studioaufnahmen und die Übertragungen technisch realisiert. Als damaliger Leiter des œnm war ich für den musikalischen Teil zuständig. Es gab dann eine Serie von Konzerten in Salzburg und in einigen Städten Europas.
Ein Höhepunkt waren die Weltmusik Tage 1997 in Seoul. Der Transport war nicht einfach, wir mussten die Räder zersägen, um sie in einem Container für den Flug transportfähig zu machen. In Seoul wurden sie wieder zusammengesetzt. Ein weiterer Höhepunkt war für mich eine Aufführung in der Salzburger Altstadt, im Hof Wolf-Dietrichsruh. Die Klangmobile konnten dann mit leiser Musik, wunderbar beleuchtet, durch den Abend schweben.
„MIT ZWÖLF JAHREN WUSSTE ICH NOCH NICHT, WIE EIN KLAVIER AUSSIEHT.“
Vom Klima und den Klangmobilen wieder zurück zur Komposition. Wo kam ursprünglich dein Interesse am Komponieren her?
Herbert Grassl: Mein erster Bezug zur Musik war der zur Blasmusik. Mit zwölf Jahren wusste ich noch nicht einmal, wie ein Klavier aussieht. Von der Blaskapelle war ich schon als Kind dermaßen begeistert, dass ich geweint habe, wenn ich die Kapelle anmarschieren hörte und sie sah. So bin ich dann schon mit zwölf Jahren, nach dreimonatiger Ausbildung, als Mitglied mitmarschiert. Ich habe begeistert Horn, später Trompete gespielt, das war dann meine Flucht-Welt. Aber ich habe neben den Musikstücken, die wir gespielt haben, immer auch eigene Klänge „gehört“.
Nach acht Jahren Volksschule musste ich mich für eine Lehre entscheiden. Im Dorf waren zwei Stellen frei – eine als Verkäufer und eine als Mechaniker. So habe ich fast vier Jahre in einer ziemlich heruntergekommenen Werkstatt erlitten. Nach dem „vorverlegten“ Militärdienst, den ich zum Glück fast vierzehn Monate lang in der Militärkapelle verbrachte, konnte ich im Herbst 1969 endlich die Aufnahmeprüfung am Mozarteum wagen – das war der Beginn des Musikstudiums an der damaligen Akademie „Mozarteum“ in Salzburg, an der ich später unter anderem auch Komposition studieren konnte.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Michael Franz Woels
Termin:
Montag, 30. Jänner 2023, 19.30 Uhr
Konzerthaus Klagenfurt, Neuer Saal
Werke von Herbert Grassl und Hossam Mahmoud
Link:
Herbert Grassl
Herbert Grassl (music austria Datenbank)
Zentrum zeitgenössischer Musik