Wohl kaum je war es so einfach, Musik zu fixieren und somit das gleiche Material wiederholte Male auf gleiche Weise abzuspielen. Genau diesen Möglichkeiten zeitgenössischer Musikreproduktion widersetzt sich Karlheinz Essl. Was bei improvisatorischen Performances als inhärentes Merkmal zu verbuchen ist, zeigt sich im Gegensatz zum konventionellen Werkbegriff auch in seinen Kompositionen. Zugleich stellt Essl sein Schaffen in einen Dialog mit der Tradition, ohne dass seine Werke dabei selbst traditionell anmuten. So beispielsweise in seiner Lexikon-Sonate, für die er seit 1992 musikalische Gesten aus Werken bedeutender Komponisten von Johann Sebastian Bach über Wolfgang A. Mozart bis hin zu Schönberg, Boulez und Stockhausen algorithmisch formalisiert hat.
Die veränderbaren Parameter werden Zufalls- und Strukturgeneratoren durchlaufend auf ein selbstspielendes Klavier übertragen und erzeugen ein Stück, das bei jeder Aufführung eine andere Gestalt annimmt. Von der Formalisierung typischer musikalischer Gesten angeregt, erweiterte er sein Vorhaben zur sogenannten Real Time Composition Library, die es ihm selbst wie auch anderen Komponisten ermöglicht, sich dieser Gesten auch in anderen kompositorischen Zusammenhängen zu bedienen. So sind es Meta-Instrumente, mit denen er Meta-Kompositionen schafft – Musik über Musik, ohne dass diese wörtlich zitiert wird.
Eine Metakomposition ist auch der Zyklus Sequitur, der inzwischen mehr als ein Dutzend Teile u. a. für Trompete, Flöte und Cello wie auch für E-Gitarre, Akkordeon und Toy Piano umfasst. Das Konzept bezieht sich auf die Sequenze von Luciano Berio und hat mit diesen das Ausloten spieltechnischer Möglichkeiten solistisch eingesetzter Instrumente gemein. Diese Ausgangssituation erweitert Essl um ein Computerprogramm, welches das vom Interpreten Gespielte elektronisch verändert wiedergibt und es ihm ermöglicht, in Interaktion mit dem von ihm zuvor Gespielten zu treten.
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Neben diesen klein besetzten Werken umfasst das Schaffen Essls auch umfangreichere Kammermusik- und Orchesterkompositionen. Sein dazu notwendiges Handwerk erlernte er beim Kompositionsstudium bei Friedrich Cerha, für dessen Spiegel III er den elektronischen Part realisierte; Elektroakustische Musik studierte er bei Dieter Kaufmann.
Auch selbst steht der ausgebildete Kontrabassist gerne auf der Bühne, wenn er etwa seine Lexikon-Sonate zur Aufführung bringt, und auch mit freien Improvisationen tritt er in Erscheinung. Zwar weniger mit den ursprünglich gelernten Instrument, sondern mit elektronischen Devices und gelegentlich auch mit einem mit Rillen versehenen Teil eines Baumstammes, den er ähnlich einem Schlaginstrument in Schwingung versetzt und das Gespielte in Echtzeit elektronisch verändert. Auch dazu erarbeitete er sich zwischen 1998 und 2010 ein Computerprogramm, das es ihm ermöglicht, je nach Aufführungssituation und persönlichen Vorlieben diverse Parameter einzustellen.
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Die Freude am Spiel aus dem Moment heraus gewann er bereits in seiner Jugend beim Klavierunterricht; und auch seine spätere Berührung mit dem Jazz ist dieser Leidenschaft entgegengekommen. Vielleicht mag daher auch die Skepsis vor allem Unveränderlichen liegen. Regelmäßig veranstaltet er „Blind Dates“, bei denen jedes Mal in der improvisatorischen Interaktion der Musiker unwiederholbare Ereignisse zu Gehör kommen.
Neben dem Komponieren und Musizieren gibt Essl seine Vorstellung von Musik aber auch in anderer Form weiter, denn inzwischen unterrichtet er selbst etwa an der Wiener Musikuniversität und kuratiert Konzertreihen im Schömerhaus.
Doris Weberberger