„NUR IM DIALOG KANN ICH MEINE GEDANKEN WEITERFORMULIEREN” – MAJA OSOJNIK IM MICA-INTERVIEW

Auf den Tisch stellt sie die Weihnachtskekse, Kaffeetassen und einen verschließbaren Aschenbecher. MAJA OSOJNIK hat sich in letzter Sekunde doch für die Atelierküche entschieden. „Sorry, aber sonst wär sich das alles nicht ausgegangen heute”, sagt die Arbeitsmaschine. Dann gurgelt die Espressokanne und wir reden. Über ChatGPT und Spaziergänge und Hörgymnastik und das Anziehen einer Hose – die kleinen Themen, die großen Gefühle, dazwischen: ihr Album, das „Doorways” heißt und bei col legno und Mamka Records erschienen ist.

Ich fürchte, wir müssen heute über deine Zeit sprechen.

Maja Osojnik: Ich habe ja nie Zeit, aber ich gehe bewusster mit ihr um. Ich will sie antikapitalistisch nutzen, das heißt: Ich nehme mir das Recht, meine Zeit zu verschwenden. Oder in einer Langsamkeit zu verweilen. Sei es in meinem Alltag oder speziell in der Komposition – ich merke, dass ich immer langsamer werde. Und damit detaillierter, fokussierter. Profunder in der Recherche.

Ja?

Maja Osojnik: Ja, es ist meine Auflehnung gegen die neoliberale Optimierung, die immer nur das Produkt und das Ergebnis in den Vordergrund stellt. Nie den Prozess.

Das ist ein gutes Vorhaben, die Auflehnung.

Maja Osojnik: Weil sonst alles verschwindet, oder? Man sieht oder hört etwas und scrollt daran vorbei und dann ist es weg.

Gleichzeitig steht alles nebeneinander – jemand klatscht sich Gurken ins Gesicht, jemand berichtet aus dem Kriegsgebiet, jemand zeigt einen Einblick in sein Studio.

Maja Osojnik: Man wird zum reinen Inhalt, der verschwimmt. Das stumpft ab für die Welt. Und auch für die Zeit. Ich glaube zwar, dass sich viele dieser Inszenierung bewusst sind. Denn genau das ist es doch – ein Spiel um Öffentlichkeit. Allerdings steht dahinter immer Unsicherheit, immer Angst, immer der Druck, nicht zu genügen. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Ich denke, wir müssen uns in radikaler Empathie üben. Also, den Geschwindigkeitsdruck zu hinterfragen und auf eine Langsamkeit zu beharren.

Wie geht das?

Maja Osojnik: Ja, gute Frage. Es ist schwierig. Ich habe gewisse Kolleg:innen, die ich über alles schätze und von denen ich immer wieder beeindruckt bin, wie schnell sie arbeiten. Gleichzeitig hat mich diese Geschwindigkeit auch verunsichert. Es hat lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass es okay ist – wenn sie schneller sind und ich langsamer.

Du meinst, man soll sich nicht vergleichen?

Maja Osojnik: Ja, auch weil Prozesse verschieden sind. Wenn wir nur das Produkt sehen, überlegen wir nicht, wie es produziert wurde. Wie viel Vorarbeit da drin steckt und so weiter. Wir nehmen nur das Produkt wahr. Der Mensch, der dahinter steht, wird damit zu einer austauschbaren Stellschraube degradiert. Deshalb ist es wichtig …

Zu fragen, wie etwas entstanden ist?

Maja Osojnik: Ja, gerade heute, mit und neben AI. Wenn mich Studierende also fragen, was ein Anwendungsbereich von ChatGPT in der Kunst, der Komposition sein könnte, stelle ich gerne eine Rückfrage: Mit welchem Wissen nutzen wir diese Technologien? Wenn ich ein Grundwissen besitze, kann mir die Technologie helfen. Wenn ich es nicht habe, ist es aber der erste Schritt in die …

Abkürzung – man kürzt …

Maja Osojnik: Sein eigenes Wissen ab. Ein Beispiel dazu: Wenn ich einen Text schreibe, gehe ich durch einen Gehirnkampf. Der Text braucht Knoten. Manchmal schwitzt man, kämpft gegen ihn an, verlegt ihn für die Dauer eines Spaziergangs. Aber gerade durch diesen Weg ergeben sich neue Ideen und Assoziationen. Der Prozess ist deshalb elementarer Teil des Produkts, den ich nicht abkürzen kann.

Bild der Musikerin Maja Osojnik
Kürzt nicht ab: Maja Osojnik © Christopher Sturmer

Mir fällt gerade auf: Es ist auch Diebstahl. Weniger an vorhandenen Werken, sondern an sich selbst. Man bestiehlt seine eigene Erfahrung, die man hätte machen können, um zu einem Ergebnis zu kommen.

Maja Osojnik: Genau. Es ist eine Abkürzung, die zum Diebstahl führt. Allerdings will ich nicht diejenige sein, die sagt, dass diese Technologie nur schlecht ist. Es gibt spannende Anwendungsbereiche, auch in der Kunst. Manche führen das Programm an seine Grenzen, rufen Glitches hervor. Man kann also mit der Maschine spielen, die Frage ist aber: Welches Wissen wird dir angeboten und wie überprüft man – objektiv – dieses Wissen?

Wie sind wir jetzt wieder bei ChatGPT gelandet?

Maja Osojnik: Wegen der Zeit?

Ah, ja, die Zeit. „Doorways”, dein aktuelles Album, muss man sich ja, sorry für den Begriff: erarbeiten.

Maja Osojnik: Und sich dem Stück fast schon ergeben. (lacht)

„MAN BEREITET SICH VOR, MAN HAT EINE VORFREUDE. UND WECHSELT VIELLEICHT DIE HOSE, BEVOR MAN DAS HAUS VERLÄSST.”

Ja, ich kann bei einem Dreiviertelstundenstück nicht einfach zu Minute 27 skippen und dann sagen, das ist es. 

Maja Osojnik: Genau. Es stellt sich gegen die reine Verwertbarkeit und ist auch eine Frage: Wie hören wir? Ich meine damit nicht nur das Stück, sondern auch uns und einander, also: Wie hören wir uns zu? Diese Frage lässt sich angesichts immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen schwer beantworten. Das soll übrigens nicht heißen, dass komprimierte Gedanken keine Berechtigung haben. Trotzdem spielt Zeit immer eine Rolle. 

Welche?

Maja Osojnik: Nehmen wir an, in einem Stück kommt ein sehr lautes Forzato, also ein starkes musikalisches Element, das einen Schock hervorruft. Wie lange dauert es von der Spannung zur Entspannung? Oft viel länger, als wir glauben. Denn die Wahrnehmung trickst uns aus. Allerdings braucht es die Erfahrung der anderen Elemente, die Dynamik, diese Phasen des Hinführens und Loslassens – also das ganze Stück –, um zu realisieren, was passiert. „Doorways” ist deshalb ein Angebot von mir, einen Ausflug zu machen.

Um woanders hinzukommen?

Maja Osojnik: Unbedingt. Man denkt anders über ein Stück, einen Film, eine Ausstellung, wenn man vor Ort – an einem Ort – damit war. Deshalb gehe ich so gern zu Konzerten oder ins Kino. Es geht dabei natürlich um ein kollektives Erlebnis. Es geht aber auch um den Weg dorthin und nach Hause. Man bereitet sich vor, man hat eine Vorfreude. Und wechselt vielleicht die Hose, bevor man das Haus verlässt.

Oder zieht überhaupt eine an.

Maja Osojnik: Ja, genau. Jedenfalls, was ich sagen will: Man denkt über das Wahrgenommene anders nach, wenn man dafür wo war. Gerade die Kunst, aber insbesondere die Musik klebt an der Zeit. Wenn man sich die Zeit nicht nimmt, kann man nichts erleben.

Bild des Albumcovers Doorways
Albumcover “Doorways”

Ist das ein Grund, warum du gern strickst?

Maja Osojnik: In mir ist eine Unruhe, die ich damit bearbeiten kann. Gleichzeitig hat all meine Arbeit mit meinen Händen zu tun. Ich schreibe sogar über sie, weil ich merke, wie nervös sie sind. Wie oft ich Dinge versehentlich fallen lasse. Das Stricken ermöglicht es mir aber, nicht über meine Hände nachzudenken. Sie tun einfach. Deshalb stricke ich nur intuitiv, ohne genauen Plan. 

Und im Flow der Musik?

Maja Osojnik: Ich versuche, das immer stärker zu trennen. In der letzten Strickphase habe ich während des Hörens oft aufgehört zu stricken, weil ich bei einer Sache sein wollte. Ich glaube ja nicht an Multitasking. Ich glaube eher an den gerichteten Fokus.

Ich habe eine Zeitlang während der Arbeit puren Noise gehört …

Maja Osojnik: Ich auch! Weil ich das Gefühl habe, dass es alles andere ausblendet und mir hilft, mich zu konzentrieren.

Genau. 

Maja Osojnik: Glenn Gould hat einige Zeit sogar so geübt, mit einem angeschalteten Staubsauger im Hintergrund – nicht um sich abzulenken, sondern damit er sich fokussieren konnte. Gould sagte, er lernte durch das zufällige Zusammentreffen von Mozart und dem Staubsauger, dass das, Zitat: innere Ohr der Vorstellungskraft eine sehr viel stärkere Stimulanz ist als jede äußere Beobachtung. 

Lass es mich mal pathetisch formulieren: Noise ist wie die Kaffeebohne in einer guten Parfümerie – sie neutralisiert, setzt dich zurück, fokussiert. 

Maja Osojnik: Ja, sofern du sie bewusst einsetzt, kann es so sein. Gerade wenn man – so wie ich – mit vielen Elementen spielt. Ich nenne den Zugang dazu ja nicht umsonst Hörgymnastik. Man kann Sound wie Plastilin kneten – mit den Ohren und spielerisch. Die Komposition ladet dann ein, gehört zu sein wie eine Art Drehknopf, der hochsensibel die Veränderungen in den Fokus rückt, die Schärfe immer wieder neu zu justieren versucht, um die Umgebung, die Klangnatur des Ortes festzuhalten.

Das ist bei „Doorways” auch spannend. An einem Punkt kommt eine schöne Melodie, nach einem langen, lauten Chaos. 

Maja Osojnik: Das Fragile und Weiche koexistiert mit dem Harten und Prägnanten, oder? Ich denke mir oft: Wenn man Noise total stretcht, wird sie Melodie. Oder umgekehrt: Wenn man Melodie komprimiert, wird sie Noise. Mit diesen mikroskopischen Vorstellungen und Kontrasten spiele ich, weil sich unter vielen Schichten des Noise auch fragile Gerüste befinden können. Die Frage ist, wie lange man sich Zeit nimmt, um sie zu entdecken.

Ich finde gut, dass du Mehrzahl: Gerüste sagst. Es heißt ja auch „Doorways”, also Türen. Im Sinne von: nicht nur eine, sondern mehrere.

Maja Osojnik: Weil es nicht nur einen Weg, nicht nur eine Tür gibt. Und weil jeder Mensch sie anders wahrnimmt. Selbst wenn wir denselben Film sehen, dasselbe Stück hören – wir werden es unterschiedlich deuten. Weil es abhängig ist von deinem Wissen, deiner Realität, deiner Tagesverfassung und deinem Lebensabschnitt.  

Das Schöne ist: Jede dieser Deutungen ist richtig, oder?

Maja Osojnik: Unbedingt. Worauf es wirklich ankommt, ist der Dialog, um diese Wahrheiten zu vergleichen und eine neue Wahrheit dazuzustellen. Manchmal fürchte ich, dass wir uns diesen Dialog, den Diskurs, gar nicht mehr erlauben, weil wir Angst haben, etwas Falsches zu sagen. Oder falsch verstanden zu werden. 

Ist das kein Produkt dieser Schnelllebigkeit? Also, wenn statt der Auseinandersetzung immer sofort die Verurteilung folgt?

Maja Osojnik: Ja, es fehlt der wichtige Raum des Verstehens. 

Oder des Probierens, sich zu verstehen?

Maja Osojnik: Das macht es aus, der offene Raum, die Offenheit. Sie zu bewahren, ist mein Ziel. Dafür muss ich mich manchmal zurückziehen, um mich nach einem Prozess des alleinigen Arbeitens wieder das Kollektiv zu suchen, weil: Nur im Dialog kann ich meine Gedanken weiter formulieren. 

Bild der Musikerin Maja Osojnik im Schatten
Osojnik gibt es auch in Farbe © Alex Gotter

Es gibt ein schönes Buch von Jean-Luc Nancy, „Corpus” – darin schreibt er, dass ein Körper eigentlich kein Körper ist. Ein Körper, egal wie man ihn definiert, bedingt immer einen anderen Körper.

Maja Osojnik: Ich finde auch, dass ich mich durch das Gegenüber selbst definiere und erkenne. Wachstum passiert durch Auseinandersetzung, durch Konfrontation mit dem anderen. 

Schön, dass du Konfrontation sagst. Weil das eigentlich ein gutes Gespräch ist – ein Auf-die-Probe-Stellen der eigenen Gedanken.

Maja Osojnik: Ja, man konfrontiert sich dadurch selbst. In der Konfrontation mit dem anderen. Ich bin zwar eine schlechte Streiterin. Aber die Vorstellung eines fruchtbaren Streits hat etwas sehr Reizendes. Vielleicht mag ich Hip-Hop deshalb so gerne. Die Battles sind ja nichts anderes als Dampfrauslassen mit Humor innerhalb gewisser Rahmenbedingungen.

„MAN WÜRDE DRAUFKOMMEN, WIE VIELE ÄNGSTE UND WÜNSCHE UND BEDÜRFNISSE MAN MIT ANDEREN TEILT.”

Das Humor-Ding ist wichtig. Das fehlt in der Diskussion um sogenannte Safer Spaces nämlich immer. Die Leute nehmen sich zu ernst und beklatschen sich nur noch selbst – weil ja schon alle potenziellen Konfrontationen rausgefiltert wurden.

Maja Osojnik: Dadurch verliert man den Kontakt zur Welt, zur Realität. Und auch wenn Safer Spaces wichtig sind, die Frage bleibt: Wie gehen wir mit uns um, in einer Welt, die nur noch von einem Konflikt in den nächsten wandelt? Ist darin also ein menschenfreundlicher Streit möglich? Ich würde es mir wünschen. Man würde nämlich draufkommen, wie viele Ängste und Wünsche und Bedürfnisse man mit anderen Menschen teilt. 

Deshalb wäre es wichtig, das Ähnlichgedachte zu konfrontieren und nicht immer nur zu bestätigen.

Maja Osojnik: Es gibt dieses Buch von Heinz von Foerster: „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners”. Darin geht es um den Dialog zweier Intellektueller. Sie schätzen sich wert, aber auf einer kommunikativen Streitebene. Das heißt, sie fordern sich im Dialog heraus – lustvoll und spielerisch und ohne, dass sich Seiten verhärten.

Weil sie sich aufeinander einlassen.

Maja Osojnik: Und sich zuhören und darauf eingehen, ja. 

Das ist ein guter Übergang zurück zu deinem Stück. Vielleicht sagt man einfach mal nichts für eine Dreiviertelstunde und hört nur zu und dann sagt man wieder etwas – anderes.

Maja Osojnik: Das führt mich wiederum zu dem genannten Beispiel der Spannung und Entspannung. Vor zwei Jahren war ich das erste Mal auf La Palma. Dort habe ich absolute Stille erlebt. Und darin habe ich verstanden, wie mein Körper beginnt, sich zu entspannen. Ich behaupte von mir zwar, dass ich eine Arbeitsmaschine bin, die viel aushält. Die alles aushält. Aber erst durch die komplette Entspannung, durch das Erlebnis der absoluten Stille, habe ich verstanden, wie viel wir eigentlich filtern müssen, um zu funktionieren. Ideal wäre also eine Gesellschaft, in der beides möglich ist – durch lautes Noise zu surfen und die Möglichkeit zu haben, sich vollkommen zu entspannen. Das ist ein utopischer Gedanke, aber …

Ich finde gar nicht, dass das so utopisch ist. Heute laufen eh fast alle mit Kopfhörern rum, die alles ausblenden, nicht?

Maja Osojnik: Ich habe seit zwei Wochen solche Kopfhörer. Und sie gleich mal ausprobiert, im Zug, auf einer Reise. Es war überhaupt kein gutes Gefühl, weil ich plötzlich so isoliert war – fast so, als würde ich mir den Sinn der Reise wegnehmen. Ich kommuniziere nämlich gerne, auch mit fremden Leuten. Das ist wichtig für eine Reise. Auch im Alltag in der Stadt.

Ist es eine Verantwortung, sich nicht auszublenden, sondern hinzuhören?

Maja Osojnik: Schon. Man entscheidet sich ja, in der Stadt, unter Menschen zu leben. Wir mögen alle in einem Ameisenhaufen sein, aber die bewusste Teilnahme trägt zu einer besseren Gesellschaft bei. Dazu fällt mir abschließend ein schöner Satz von Jenny Odell ein, aus ihrem Buch „How to do Nothing”: Einfaches Bewusstsein ist der Keim der Verantwortung. Das ist es doch, was uns ausmacht, nicht?

Ich bedanke mich für deine Zeit!

Christoph Benkeser

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Livetermine von Mala Osojnik finden Sie unter https://maja.klingt.org/upcoming/

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Links:
Maja Osojnik (Homepage)
Maja Osojnik (Wikipedia)
Maja Osojnik (Instagram)
Maja Osojnik (mica-Datenbank)
Mamka Records (Homepage)