Da ist eine melancholische Grundschwingung, mit der JULIA LACHERSTORFER Menschen oft dort begegnet, wo es schmerzt. Gab es mit ihrem Solodebütalbum „Spinnerin“ eine Umschreibung traditioneller Liederzählungen aus weiblicher Perspektive, holt die Violinistin mit ihrem zweiten Soloalbum „Nachbarin“, das am 19. und 20. April vorgestellt vorgestellt wird, Gefährtinnen im Raum, im Geist und in der Seele in ihre Kompositionen. Daneben leitet sie zusammen mit Simon Zöchbauer bereits seit 2018 die wellenklænge in Lunz am See, ein Festival für zeitgenössisches Musikgeschehen zwischen den Künsten. JULIA LACHERSTORFER im Gespräch mit Sylvia Wendrock über narratives Komponieren, den weiblichen Blick und Contemporary Folk.
„Spinnerin“ bewegt ein transgenerationales Thema der weiblichen Linie. Ist dir das bewusst?
Julia Lacherstorfer: Dieses Thema beschäftigt mich eigentlich unentwegt. Wahrscheinlich, weil ich sehr eng mit meinen Großeltern aufgewachsen bin und zu dieser Generation immer einen sehr liebevollen Bezug hatte. Ich mochte es, Geschichten davon zu hören, wie es früher war, auch als ich damals in einem Altenheim arbeitete. Mein Vater ist ein Sammler von alten Sachen und meine Mutter beschäftigt sich viel mit Familiensystemen, das hat mich sicher beeinflusst. Mir war immer klar, dass die Geschehnisse aus den vorigen Generationen eine Wirkung auf uns haben. Wenn dafür ein Kanal in einem geöffnet ist, sind Dinge auf anderen Ebenen wahrnehmbar, für die schwer rationale Erklärungen zu finden sind. Auch das Interesse, in die Geschichten hineinzuspüren, ließ mich so viel erkennen: wie eng meine Großmutter mit ihrer Schwiegermutter zusammengelebt hat, die sehr böse zu ihr war. Warum meine Großmutter zu der geworden ist, die sie war. Was das mit meiner Mutter gemacht hat und mit meiner Schwester und mir. Es ist einfach ein grundlegendes Interesse an solchen systemischen Zusammenhängen da.
„Ich erlebe Auswirkungen des Patriarchats, spüre ein Gefühl von Ungerechtigkeit gegenüber Menschen marginalisierter Gruppen aus meinem Umfeld.“
War es eine bewusste Entscheidung, diesem Gespür auf künstlerischem Wege Ausdruck zu verleihen? Eignet sich Musik ganz besonders dafür?
Julia Lacherstorfer: Ich kann meine Wünsche und Passionen musikalisch total in meinem Bandkollektiv ALMA umsetzen und in verschiedensten Formationen gemeinsam mit meinem Mann Simon Zöchbauer. Was mich innerlich beschäftigt und antreibt, wollte ich aber keiner Gruppe aufdrücken, nicht jede:r kann damit etwas anfangen, was mich beschäftigt. So ist „Spinnerin“ entstanden und jetzt in Folge „Nachbarin“. Eine Verarbeitung von inneren Prozessen steht allerdings gar nicht so sehr im Vordergrund. Es ist eher die Anteilnahme an dem, was gesellschaftlich passiert. Das schließt mich natürlich mit ein: Ich erlebe Auswirkungen des Patriarchats, spüre ein Gefühl von Ungerechtigkeit gegenüber Menschen marginalisierter Gruppen aus meinem Umfeld. Dafür ist Musik und der Ausdruck davon das Mittel, das mir zur Verfügung steht. Ich bin keine Politikerin, zum Glück. Musik ist mein Medium, mich diesen Themen anzunähern.
Viele Lieder singst du in Dialekt, was natürlich sofort in den entsprechenden Sprachraum führt. Es gibt aber auch Lieder in Hochsprache, eines auf Bosnisch …
Julia Lacherstorfer: Mir war klar, dass ich nicht auf Englisch singen würde, weil es einfach nicht meine Muttersprache ist und nicht ausdrücken könnte, worum es mir geht. Gleichzeitig hatte ich auch sehr lang Hemmungen, Texte in Dialekt zu schreiben, weil mir die Gefahr zu groß schien, nach Schlager zu klingen. Ich habe gerade für „Spinnerin“ die Texte sehr oft überarbeitet. Auch bei „Nachbarin“ gab es Lieder, bei denen ich von Anfang an wusste, wovon ich singen will, in meinen ersten Skizzen aber erkannte, dass es unmöglich so geht. Enorm häufiges Drübergehen, Kürzen und Verschlanken waren nötig, damit eine Essenz übrigbleibt, eine Emotion auszudrücken, ohne kitschig zu werden. Die Lieder in Hochsprache mussten einfach so sein. Im Moment des Schreibens ist es eigentlich recht klar, was welche Sprache für mich erfordert. „Stade se cvijee rosom kititi“ ist ein traditioneller bosnischer Sevdah. Nataša Mirković hat es mit eingebracht, wir wollten schon lange gemeinsam etwas singen. Und in dem Stück „Atmen, Rennen, Halten“ spricht sie von ihren Fluchterfahrungen.
Wie kommt der Buddhismus mit zu „Nachbarin“?
Julia Lacherstorfer: Im Sommer wurden wir vom besten Kindergartenfreund meines Mannes zum Besuch seines Lamas in der Stupa in Grafenwörth mit eingeladen – ein irrsinnig schöner Ort. An einem Tag erzählte dieser von der grünen Tara und das faszinierte mich, weil sie eine feministische Gottheit ist, die es ablehnte, als männliche Gottheit wieder zu inkarnieren. Das Mantra der grünen Tara lässt mich seitdem nicht mehr los.
Das narrative Komponieren ist deine individuelle Arbeitsmethode, was verstehst du darunter?
Julia Lacherstorfer: Die Musik entsteht sehr unterschiedlich. Manchmal reicht schon das Wissen um ein geplantes Interview mit einer bestimmten Person und ich habe schon vorher eine bestimmte Vorstellung von dem Stück und Texte werden dann eingeflochten. Manchmal ist es so, dass erst beim Nachhören des Interviews Musik daraus entsteht. Bei dem Gespräch mit der Sängerin und Historikerin Monika Schwabegger über ihre Großmutter war es so, dass ich mit dem Erzählten das Stück in einem Gang fertig geschrieben habe. Die Inspirationen kommen also sehr unterschiedlich daher. Manchmal funktioniert es, dass ich mit einem bestimmten Fertigstellungslimit produktiv werde. Aber für einen so großen thematischen Bogen wie meinem Album versuche ich, mir Zeit zu geben, um sicherzugehen, dass die Ideen, die ich habe, auch wirklich gut und aus einer ungestörten Anbindung entstanden sind, nicht erzwungen und konstruiert, sondern ein echtes Bedürfnis.
Hörst du die Gesprächsinhalte musikalisch?
Julia Lacherstorfer: In irgendeiner Weise müssen das Thema oder die Person in meinem Innenleben etwas auslösen. Das versuche ich dann mit verschiedenen Instrumentarien und Stilistiken experimentierend in eine Form zu bringen. Eine Person, die mich nicht anspricht, würde ich nicht zum Interview bitten. Und wenn eine Person sich die Zeit für so ein Gespräch nimmt und ich das filme und aufnehme, ist es schon klar, dass ich damit etwas fertigen werde. Das so abschätzen zu können, ist einfach Teil meiner Recherche.
„Wenn es so schwierig ist, diese Lieder zu finden, dann gibt es offensichtlich zu wenige davon.“
Kannst du dich an den Moment erinnern, als die Idee geboren wurde, narrativ zu komponieren, also für „Spinnerin“ und „Nachbarin“ Frauen zu befragen, um zu weiblichen Perspektiven für Female Folk bzw. Contemporary Folk zu kommen?
Julia Lacherstorfer: Ich wusste, dass ich an einem Programm arbeiten wollte, das sich mit weiblichen Narrativen im traditionellen Liedgut beschäftigt und musste relativ schnell erkennen, dass es wahnsinnig mühselig ist, diese Lieder zu finden. Es gibt Menschen wie Evelyn Fink-Mennel in Vorarlberg, die einen Buchband zu Weiblichkeit im traditionellen Liedgut herausgegeben hat. Aber das sind nur ganz vereinzelt Bücher in einem Universum von Büchern mit männlichen Narrativen. Das war der zündende Moment: Im Österreichischen Volksliedwerk habe ich mich durch Bücher durchgearbeitet und erkannt, dass ich keine Ethnomusikologin bin, es ist nicht mein Arbeitsbereich, dass ich mich durch Archive ackere, sondern ich will Musik machen. Wenn es so schwierig ist, diese Lieder zu finden, dann gibt es offensichtlich zu wenige davon. Ich wollte also mit einem zeitgenössischem Zugang Narrative einfangen und Lieder machen, weil das, was wir jetzt singen, bereits hunderte Jahre alt ist. Wenn ich will, dass sich die Narrative im traditionellen Liedgut und generell in der Gesellschaft ändern, muss ich anfangen, sie zu sammeln und in Musik zu übersetzen. Sonst singen wir in 200 Jahren noch immer das, was vor 300 Jahren entstanden ist. Dann sind die Inhalte schon 500 Jahre alt. Das ist mein Beitrag an Veränderung, die passieren möge, den ich leisten kann.
Die Narrative verändern, aber auch das Musikalische im Lied erneuern.
Julia Lacherstorfer: Das passiert automatisch, weil ich meinen Stil habe. Musik ist ja auch Ausdruck einer Kultur, Musik aus den Bergregionen Österreichs klingt anders als Musik aus Skandinavien. Mir ist wichtig, dass Musik, die ich kreiere, zeitgemäß klingt.
Wie kommt es zu dem Titel „Farvel“ auf dem Album?
Julia Lacherstorfer: Vor Jahren unterrichtete ich an einer dänischen Fiddle School in Breklum unter der Leitung des dänischen Geigers Harald Haugaard. 140 junge Leute verströmen dort eine super Energy. Und auf der Heimfahrt von Dänemark schrieb ich dann dieses Stück „Farvel“. Es lag ewig in der Schublade, bis letztes Jahr meine Kollegin Nicole Janß ihre Tochter Vivi durch Suizid verloren hat. Wir sprachen für „Nachbarin“ in einem Interview darüber, worin sie mir von den herausragenden Malkünsten und Restaurationsarbeiten ihrer Tochter erzählte. In Kirchen Dänemarks hatte sie Fresken und Reliefs gemalt, wovon Videos existieren, in denen sie Geige spielt. Plötzlich wusste ich, wofür „Farvel“ da ist – Farvel ist das dänische Wort für Farewell: Es ist ein friedvoller, liebevoller Abschied für sie. So hat das Stück seine Bestimmung gefunden.
Möchte man eine Linie von der „Spinnerin“ zur „Nachbarin“ nachzeichnen, wird die Methode fortgeführt, inhaltlich aber subjektiver, wenn du von deinen Nachbarinnen erzählst, während es zuvor eher auf deine Herkunft und deren Umgebung zielt.
Julia Lacherstorfer: Ich empfinde es eher umgekehrt: „Spinnerin“ war ein subjektiverer Blick auf meine Vergangenheit, meine Großmutter, die bäuerliche Linie. Bei „Nachbarin“ sprechen die Personen für sich. Ich habe sie zwar ausgewählt und in gewisser Weise kuratiert, aber die Personen sprechen für sich, erzählen ihre Geschichte. Und ich möchte, dass diese Geschichte hörbar wird und ich Anteil nehme.
Willst du mit dieser Art, Geschichten zu kuratieren, fortfahren?
Julia Lacherstorfer: Ich habe zwar eine vage Idee, aber alle meine mir nahestehenden Personen gebeten, dass sie mich davon abhalten mögen, jetzt gleich wieder etwas Neues zu machen, weil es einfach irre viel Arbeit ist. Die letzten zwei Jahre haben so viel Zeit und Geld diesbezüglich gekostet. Ich bring so oft Projekte ins Rollen, die mich überrollen und dann hole ich wieder auf. Das ist ein ungeheurer Kraftakt, der mir aber auch immer wieder viel Erfüllung bringt.
Du hast neben ALMA ja noch weitere Projekte: Ramsch & Rosen als Duo und extended, du leitest mit Simon Zöchbauer das Festival wellenklænge in Lunz am See …
Julia Lacherstorfer: Ich versuche sehr achtsam mit meinen Kräften umzugehen, weil ich immer wieder in Erschöpfungszustände gerate. Zwar kann ich viel auf die Beine stellen, brauche vielleicht dazwischen aber auch mehr Erholungsphasen als andere Menschen, kommt mir manchmal vor. Dieser Eindruck wird noch stärker, wenn ich sehe, wie meine Schwester mit kleinem Kind wahnsinnig viele Konzerte spielt, nach Deutschland tourt und an der Uni unterrichtet. Sie tut das mit einer sehr großen Gelassenheit, die ich sehr bewundere. Meine Arbeit erfordert so viel Headspace und kommt mit viel Verantwortung daher, das macht es manchmal etwas erschöpfend. Gleichzeitig ist es ja so bereichernd, etwas für Andere auf die Beine zu stellen: Förderanträge für Künstler:innen in Lunz am See, unglaublich viele organisatorische Prozesse und herausfordernde Koordination. Und es gibt auch noch viel Luft nach oben bezüglich des Förderwesens für Musik generell. Das ist im Tanz, Theater- und Performancebereich einfach viel durchdachter strukturiert, wenn beispielsweise mitbedacht wird, dass ein Bühnenprogramm sechs Wochen Probenzeit im Vorlauf braucht. In der Musik gibt es zwar Verantwortliche, denen das klar ist, aber es ist noch nicht umgesetzt. Und deshalb arbeiten Musiker:innen Wirklichkeit viel zu oft unbezahlt.
Die Schwierigkeit der Einordnung lässt Fördermöglichkeiten nicht zu, wenn Musik die Disziplinen aufsprengt, was einen unglaublichen Gewinn darstellt.
Julia Lacherstorfer: Ich fühle mich in diesem Anliegen von der Stadt Wien und der Musikabteilung MA7 sehr gesehen und weiß, dass ihnen das ein Anliegen ist. Es wird einfach trotzdem noch dauern, bis wir dort sind, wo der Theaterbereich beispielsweise längst ist. Man muss sich das Wissen so zusammenklauben. Deshalb haben Simon und ich uns auch im Rahmen der wellenklænge das Jahresprogramm we:create für künstlerische Entwicklung überlegt, in welchem wir auch Beratungen in Projektentwicklung und Fördermittelsuche anbieten. Das ist etwas, das uns nie jemand beigebracht hat. Diese vielen Jahre an Versuch und Scheitern können so vielleicht etwas weiterbringen. Auch künstlerischer Unterricht bei Lylit, Marie Spaemann, David Six, Lukas Kranzelbinder und anderen ist Teil dieses Programms.
Lunz am See trägt dieses Jahr den Slogan: Wut & Wandel. Ich verstehe Wut hier als Energie, die den Wandel hervorbringen könnte.
Julia Lacherstorfer: In gewisser Weise ist es eine logische Fortführung vom Thema des Vorjahres: Mut & Gerechtigkeit. Zudem ist es von Amani Abuzahra inspiriert, mit der ich für „Nachbarin“ ein Interview geführt habe und deren neues Buch „Ein Ort namens Wut“ heißt und davon handelt, was Rassismus mit unseren Gefühlen macht. Die produktive Kraft von Wut, wo sie herkommt, was sie verdeckt, dass sie uns ins Handeln bringen kann, aber auch ein Indikator für Ungerechtigkeit ist und aber eben auch der feministische Aspekt davon: dass man Frauen Wut weniger zugesteht als Männern und diese Emotion bei ihnen und marginalisierten Gruppen anders konnotiert als bei Männern. Es ist einfach eine sehr unbeliebte Emotion, aber ein sehr großer Indikator und kann in der produktiven Ausführung ein Warnsignal mit sich bringen – vorausgesetzt, die Leute schenken dem auch Gehör und sind bereit, Privilegien aufzugeben und nicht zu glauben, mehr Rechte zu haben, weil ich zufällig hier geboren bin.
Wandel ist ein ebenso unbeliebtes Thema, keine angenehme Bewegung. Wird es dadurch ein schwieriges Festival?
Julia Lacherstorfer: Es bringt Herausforderungen mit sich, klar. Jedes Thema, jede Saison hat ihre eigenen Tücken. Auch hier: Wir könnten es uns leichter machen. Aber der Kartenverkauf ist auch heuer wieder sensationell angelaufen und es ist schön zu sehen, dass unser Publikum unseren Weg so treu mitgeht!
Herzlichen Dank für das Gespräch!
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Termine:
Mittwoch, 19. April 2023
NACHBARIN
„A DIVERSE NARRATIVE“ VOR-PREMIERE
BROT Pressbaum, AT
Donnerstag, 20. April 2023
NACHBARIN
„A DIVERSE NARRATIVE“
Sargfabrik, Wien, AT
Freitag, 02. Juni 2023
RAMSCH & ROSEN
BERGEN
Sthuham, Micheldorf, AT
Donnerstag, 29. Juni 2023
RAMSCH & ROSEN
BERGEN
Salon Dürnstein, AT
Freitag, 10. Juni 2023
JULIA LACHERSTORFER
STORYTELLING FESTIVAL
Sconarium, Bad Schönau, AT
16.–22. Juli 2023
SCHALLWELLEN MUSIKWERKSTATT
Lunz am See, AT
www.wellenklaenge.at
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Links:
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