Das Klangforum Wien auf den Spuren von Oskar Serti (Nachbericht)

Am Samstag und Sonntag versuchte man endlich zu ergründen, was es mit dem ungarischen Dichter und Musikliebhaber Oskar Serti auf sich hat. Jedenfalls erlebte man grandiose Musik von Gerald Resch, aber auch von Beat Furrer, Bernhard Lang, Peter Ablinger und vielen anderen. In der sechsstündigen netZZeit-Produktion, einer  ‚Nachdenklichkeit in sieben Teilen’ in allen Sälen des Wiener Konzerthauses, leitete  in der Inszenierung von Markus Kupferblum der begabte junge Franzose Jean Deroyer das Ensemble. „Collection Serti“,  von Gerald Resch, der diesjährige Erste Bank-Kompositionsauftrag, war eine zentrale Station des Geschehens. Sein Stück wurde im Hauptfoyer aufgeführt.

Der 1959 in Belgien geborene interdisziplinäre Künstler Patrick Corillon, Spiritus rector des Projekts, gibt ungern zu, Oskar Serti selbst erfunden zu haben, er versteht sich vielmehr als dessen Biograf sowie Entdecker seiner Werke und Hinterlassenschaften. Zwischen den eigentlichen Konzerten in den verschiedenen Sälen boten die Klangforum-Mitglieder, nicht zu vergessen auch Regisseur Kupferblum, ,Klangforum-Dramaturg Sven Hartberger und Netzzeit-Prinzipal  Michael Scheidl übers ganze Haus verteilte Spielhandlungen bei Garderoben und Buffets, auf Stiegen, in Gängen, Foyers und auch in den Sälen. Im Hauptfoyer konnte man vor dem großen Konzert im Großen Saal  in Vitrinen bereits die Instrumentensammlung von Oskar Serti bestaunen, die dieser im Lauf seines Lebens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erworben hat, unter anderem auch bei Uraufführungen berühmter Werke, an den angebrachten Schildern erfuhr man, bei welchen Werken (etwa Bartóks Wunderbaren Mandarin oder Stockhausen) sie von wem gespielt wurden und natürlich auch, um was für eine Art von Instrument (von der Geige über das Xylophon bis zum Saxophon) es sich handelt.

Man wurde auch darüber informiert, dass die Musiker des Klangforums diese Musikinstrumente, ausgestellt in glaslosen Vitrinen, zwar spielen, aber nicht herausnehmen, sondern nur gleichsam besuchen und bedienen dürfen.  Das „große Konzert Nummer I bot sodann Werke von Georges Aphergis (Seesaw) und Vladimir Tarnopolski (Foucaults Pendulum).

Dann folgte eine Motivsuche mit den Musikerinnen und Musikern, die zu erzählen und zu zeigen versuchten (auch bewehrt mit gemalten Rouleaux, veranschaulichenden Zeigetafeln oder chinesischen Schatten, die sie animieren konnten, zur Not in einen Mantel gekleidet, den sie an- und ausziehen,  an einem Haken oder über einen Stuhl  aufhängen oder legen konnten), welche Emotionen den großen Musikkenner und Liebhaber einer berühmten Pianistin beim Konzertbesuch bewegten, etwa wie er in Paris  unabsichtlich sein Billett von seinem Platz auf dem Konzerthausbalkon fallen ließ, das von dem Luftströmungen im Saal genau auf einer Taste des Klaviers der Solistin landete (Forscher sind nicht ganz einig, ob es das hohe dis oder gis war), wie er einmal durch Anlegen eines Schuhbandes auf dem schönen Bein seiner neben ihm Sitzenden deren Emotionen zu teilen versuchte und so weiter. Wenn es einem gut gefiel, glückte es auch, dieselbe Geschichte zweimal von verschiedenen Protagonisten erzählt zu bekommen. Es ging um Sertis Vorfreude auf ein Konzert, seine mit Erinnerungstücken aus der Vergangenheit gefüllten Manteltaschen, Orakel, musizierende Engel und ähnliches. Immer äußerst exakt und „wissenschaftlich“.

In Teil IV konnte man im Mozart- und im Schubertsaal weitere „kleine Konzerte“ hören. Es erklang von Stefano Gervasoni „Animato“ (für 8 Instrumente),  bei dem die Faszination für Fado, Cante Jondo und Luigi Nono hörbar wird, sowie Franco Donatonis „Hot“,  ein Stück für Saxophon und ein Ensemble mit sechs weiteren Ausführenden. Das ist  eine Art von “imaginary jazz”, das mit der Rhythmussektion (Piano, Bass, Perkussion) beginnt, dann erst kommen Trompete und Posaune dazu. Das Solo-Saxophon (mit Echo in der Klarinette) blies Gerald Preinfalk, der dafür den verdienten großen Applaus erhielt.

Nicht minder groß aber war die Begeisterung für Beat Furrers Klavierquintett „Spur“ aus dem Jahr 1998. Bei „Wien Modern“ wurde dieses Klavierquintett einst uraufgeführt und erschien seither immer wieder auf den Programmen. Ausgangspunkt ist mittelalterliche Hoquetus-Mehrstimmigkeit und der Versuch die traditionelle Instrumentalbesetzung „wieder neu, anders erfahrbar“ zu machen. „Spur“ so sagte Beat Furrer einmal, „ist ein Überbleibsel einer Bewegung: Spuren im Schnee, Bremsspuren…“.  Nicht nur die Kenner waren fasziniert, denn das Klangforum-Streichquartett spielte gemeinsam mit dem jüngsten Mitgliederzugang des Ensembles, dem großartigen, aus Finnland stammenden Pianisten Joonas Ahonen, das schwierig-virtuose Stück, eines von Furrers besten Kammermusikwerken, schlichtweg grandios, sodass die künstlerische Idee des Komponisten, Klavier- und Streicherklang einmal zu vereinigen, dann wieder voneinander zu distanzieren und mit Eigengesetzlichkeit zu versehen, hörbar aufging.

Großzügig wurden auch unterdessen Buffets mit kostenlosen Getränken (Wein) und kleinen Imbissen eröffnet, an denen sich die Besucher nach Belieben stärken und zur Vernissage zweier Installationen schreiten konnten. Da erklangen zum einen im Wotruba-Salon Erik Saties berühmte „Vexations“, das sind Quälereien aus zwei Notenzeilen, ein Wiederholungsepos, das nach dem Willen Saties 840 Mal wiederholt werden muss. Manche Musiker gestanden, sie hätten irgendwann bei der 595. Wiederholung die Vorführung abbrechen müssen um nicht in Wahnsinn zu verfallen. Eine Aufführung von John Cage, die er in New York 1963 zusammen mit elf weiteren Pianisten organisierte, dauerte 18 Stunden und 40 Minuten.

Im Berio-Saal war das Stück weiss/weisslich 31 e (Membrane, Regen) zu hören, eine der wunderbarsten Erfindungen im gleichnamigen Zyklus von Peter Ablinger. Von kundiger Hand werden im festgelegten Abstand in einem Lavoir nass gemachte, leicht ausgewrungene Schwammtücher aufgehängt, deren Wassertropfen nach etwa 20 Sekunden auf Glasröhren unterschiedlicher Länge und Frequenz zu tropfen beginnen. Hängen und klingen alle 8 (zuerst Accelerando, dann Ritardando), werden die Tücher eines nach dem andern wieder abgehängt, am Ende tropft und klingt nur mehr ein Tuch / eine Röhre.

Es war gleichzeitig zu diesen Installationen auch Ausstellungseröffnung. Die Vernissage im Mozartsaalbuffet widmete sich einer Anthologie ungarischer Gedichte – eine Sammlung illustrierter ungarischer Kinderlieder, die Kunst der fahrenden Sänger Pannoniens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Serti sammelte und aufzeichnete. Sven Hartberger, an dem ein Schauspieler verloren gegangen ist, erzählte Geschichten, assistiert von jeweils einen Instrument, das von einem Klangforum-Mitglied dazu gespielt wird. In sämtlichen Vitrinen im ganzen Haus wurden die Instrumente der Collection Serti auch gespielt, jeweils mit Solo-Stücken darunter Etüden von Enno Poppe,  eine Ent(?)fesselung für einen Cellisten von Wolfram Schurig, ein Blaues Fragment von Pierluigi Billone, aus fluc `n flex von Bernhard Gander, ein 6-letter Letter von Elliot Carter, Kurtágs all`ongherese, Donatonis Stück im Argot, Giacinto Scelsis Manto …

Collection Serti von Gerald Resch

Als Höhepunkt dann die Uraufführung des langen Abends, zu der sich alle Zuhörenden im Hauptfoyer versammelten.  In den räumlich verteilten Vitrinen versammelten sich die Klangforum-Musiker, Peter Böhm oblag die Aussteuerung. Das vom Träger des Erste-Bank-Kompositionspreis 2011 für das Ensemble komponierte Stück erwies sich als faszinierend, spannend und keine Sekunde langweilig. Reschens Kommentar, aufgezeichnet auch vom Kurator des Preises, Lothar Knessl: „14 Musiker steigen nach und nach in die 14 Vitrinen und beginnen ohne Koordination durch einen Dirigenten zu spielen, wobei sich ihre jeweiligen Musiken immer stärker überlappen. Nach und nach verdichtet sich die Musik zu einem kompakten Ensemblestück aus 14 gleichzeitig erklingenden Partien. Dabei organisiert sich das Ensemble gewissermaßen von selbst, die Musiker reagieren auf bestimmte akustische Signale und interagieren – teilweise auch ohne gegenseitigen Sichtkontakt – rein musikalisch.“ Je nach Standort, man konnte sich ja auch durch den Raum bewegen, verändert sich das wahrgenommene Stück etwas.

Es wäre nicht Gerald Resch, hätte er nur irgendetwas für jedes Instrument komponiert. Das Ensemble kann selbst mittels Stoppuhren den Zeitablauf koordinieren. Resch: „Wichtig sind die Trennung nach Instrumentenfamilien, oder Grundkonstellationen, wer der jeweilige Nachbar ist;  zum Beispiel  spielt neben der Flöte der Kontrabass, neben der Klarinette die Trompete, klanglich ungleiche Paare. Einerseits überspringende Verkettungen, andererseits die jeweils am weitesten entfernten Antipoden.“ Strukturen eines ersten Durchlaufs erscheinen in Varianten mehrfach verändert wieder.

Das Stück birgt also auch Wiedererkennbarkeit. Resch ist überzeugt: „Anschaulichkeit muss ja nicht einschichtig sein. Deshalb habe ich Calvino so gern. Es geht ihm überhaupt nicht um Aktualität, sondern um gute Literatur. Er springt zwischen den Zeiten umher, überzeugt, dass es grundsätzliche Begriffe gibt, die ihre Gültigkeit über die Zeiten hinweg bewahren. Anschaulichkeit ist ein solcher begriff. Ohne diese kippt ein Musikstück leicht in etwas Beliebiges, mitunter Plapperhaftes“. Es war nicht plapperhaft, es war vergnüglich zu hören und kann hoffentlich bald wieder gehört werden.

Von Gerald Resch, der auch mit Schülern des Billroth-Gymnasiums einen zwanzigstündigen Workshop organisiert, den er gemeinsam mit Thade Buchborn am 21. November präsentieren wird, sind bei Wien Modern noch weitere spannende Werke zu hören, an selben Tag seine „Grounds“ für Ensemble (2009), eine Auseinandersetzung mit der englischen Renaissance-Musik,  und „Knoten“ für Fagott und Kammerorchester (2009) im Musikverein mit dem Ensemble Kontrapunkte. Am Tag zuvor (20.11) spielt der Geiger Benjamin Schmid im Großen Saal im Konzerthaus seine „Schlieren“  für Violine und Orchester mit dem RSO Wien unter James MacMillan.

Zum Beschluss wurde im Großen Saal eines der Ur-Stücke des Differenz-Wiederholung-Zyklus von Bernhard Lang aufgeführt. Und nicht nur die (großartigen) Solisten im Stück (Salome Kammer, Risgar Koshnaw und Jerome Ibrahim Todd), die Musiker des Klangforum, auch Dirigent Jean Deroyer, die Videozuspielungs- und Klangregisseure hatten hier noch einmal einiges zu tun. Differenz/Wiederholung 2 ist ein multimediales Stück, das eine Musikperformance eines elektrischen Instrumentalensembles mit drei Stimmen ebenso wie eine Videoinstallation auf mehreren Projektionswänden einschließt. Es wurde vom Musikprotokoll 1999 in Auftrag gegeben und in Graz uraufgeführt, dann auch bei Wien Modern. Langs Stück basiert auf Texten von Gilles Deleuze, William Burroughs und Christian Loidl. Es geht um die dialektische Poetik der Begriffe Wiederholung und Differenz bei Deleuze und um die  biologischen Repetitionen bei Burroughs. Lang entwickelte musikalisch eine umfassende  „Loop-Grammatik“, auf die kam er vor allem durch die Beschäftigung mit dem Filmen von Martin Arnold. Seine Überlegungen zu DW sind ausführlich in einem sehr guten mica-Interview nachzulesen, das Susanna Niedermayr vor fünf Jahren mit ihm geführt hat und das auf der mica-Website zu finden ist.

Da kommt auch die Rede auf den englischen Künstler und Turntablisten Philip Jeck, mit dem Bernhard Lang sein Projekt TablesAreTurned gestaltet hat, das am 14. November bei Wien Modern in Erstaufführung zu hören sein wird.  Lang sagte damals: „Für mich hat niemand anderer virtuoser den Sprung in der Rille thematisiert. Er hat den Schallplattenhänger, dieses einfache Phänomen, den Stopp, zu einem ästhetischen Prinzip erhoben. Das war, glaub ich, seine Entdeckung und das verdanke ich wirklich ihm; die Idee, dass eigentlich dieser Schnackler am Ende des Samples, dieser Knackpunkt, dieser Point of Return, wichtiger wird als das eigentliche Sample. Damit wurde eigentlich eine neue Form der Rhythmik erfunden und auch eine neue Wahrnehmung dessen, was in diesem Sample auf dieser Schallplatte eigentlich passiert. Ich denke, dass der Sprung in der Rille ein ganz ein eigenes Phänomen ist, das sich interessanter Weise bei Jeck immer im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses abspielt und das auch eine durchaus hypnotische Wirkung hat.“
Heinz Rögl

Oskar Serti geht ins Konzert. Warum?
6.& 7. November in allen Sälen des Wiener Konzerthauses

INTERPRETEN
Klangforum Wien Kammerensemble
Salome Kammer Sprecherin
Risgar Koshnaw Gesang
Jerome Ibrahim Todd Rapper
Yaron Deutsch E-Gitarre
Lukas Schiske Schlagwerk
Gerald Preinfalk Saxophon
Dimitrios Polisoidis E-Viola
Markus Kupferblum Inszenierung
Peter Böhm Klangregie
Florian Bogner Klangregie
Jean Deroyer Dirigent

PROGRAMM

«Oder aber auch: …» Patrick Corillon
Oskar Serti geht ins Konzert. Warum? Eine Nachdenklichkeit in sieben Teilen

Peter Ablinger
Weiß/Weißlich 31e (Membrane, Regen) (1996)

Georges Aperghis
SEESAW (2009)

Pierluigi Billone
Blaues Fragment

Elliott Carter
A 6-letter Letter

Franco Donatoni
Argot

Franco Donatoni
Hot (1989)

Beat Furrer
Spur für Klavier und Streichquartett (1998)

Bernhard Gander
fluc ‘n’ flex (2007-2009)

Stefano Gervasoni
Animato (1992)

György Kurtág
In nomine – all’ongherese (Games and Messages) (1984 ab)

Bernhard Lang
Differenz/Wiederholung 2 (1999)

Matthias Pintscher
Shining Forth

Enno Poppe
Etüden

Gerald Resch
collection serti (2011)
(Erste Bank-Kompositionsauftrag)

Erik Satie
Vexations (1892-1893)

Giacinto Scelsi
Manto III (1957)

Giacinto Scelsi
Tre Pezzi (1956)

R. Murray Schafer
Ariadne’s dance

Wolfram Schurig
(Ent?)fesselung für Violoncello solo (1989)

Vladimir Tarnopolski
Foucault’s Pendulum (2004)

ANMERKUNG
Eine netZZeit Produktion im Auftrag von WIEN MODERN und der Wiener Konzerthausgesellschaft. Erste Bank-Kompositionsauftrag

Foto Gerald Resch: Georg Lembergh

Links:
Wien Modern