„ICH SUCHE NACH MEHR BALANCE IN DER MUSIK“ – YULAN YU IM MICA-INTERVIEW

YULAN YU ist eine facettenreiche Musikerin und Komponistin, die von einer klassischen Ausbildung in China über ein Studium der zeitgenössischen Musik in Graz ihren ganz eigenen Weg geht. Mit ihrem Beitrag „Mägen“, der am 19. Februar vom Spectrum Saxophonquartett im Rahmen des impuls Festivals in Graz aufgeführt wird, kehrt sie zu einem Werk zurück, das gleichermaßen verspielt wie tiefgründig ist. Dabei zeigt sich, wie sehr sie in ihrer Arbeit Harmonie und Einfachheit schätzt, während sie sich zunehmend von der Neuen Musik emanzipiert. Mit Ania Gleich spricht YULAN YU über die Entstehung von „Mägen“, ihren Drang nach neuen Klangwelten und den Mut, musikalische Traditionen auf eigene Weise weiterzuentwickeln. 

Du bist in diesem Jahr mit deinem Stück „Mägen“ beim impuls Festival in Graz vertreten. Was hat dich zu dieser Komposition inspiriert?

Yulan Yu: Das Stück „Mägen“ ist schon vom Titel her etwas Besonderes. Die Inspiration dahinter ist ein bisschen kitschig – ich hatte nämlich lange Zeit eine besondere Verbindung zu Kühen. Damals fühlte sich die Kuh wie mein Spirit Animal an. Kühe haben vier Mägen und verdauen alles immer wieder – sie ruminieren. Das ist bei mir ähnlich: Ich brauche viel Zeit, um eine Idee oder ein Gespräch zu verarbeiten. Früher passierte es mir oft, dass mir im Moment nicht einfiel, wie ich auf einen speziellen Input reagieren sollte, und erst viel später kam dann der „Aha-Moment“. Dadurch fühlte ich mich ein bisschen „Kuh-mäßig“. Irgendwann wollte ich ein Stück schreiben, das dieses Gefühl einfängt.

Kannst du erklären, wie das in der Musik hörbar wird? 

Yulan Yu: In der Komposition habe ich mir vorgestellt, wie es wohl in den Mägen von Kühen während der Verdauung klingt – natürlich auf spielerische Weise und mit viel Fantasie. Das Stück ist ein Quartett mit vier Stimmen, und ich habe formal vier Sätze darum herum gebaut, angelehnt an die vier Mägen. Die Idee ist ganz einfach: Jedes Saxofon, jede:r Musiker:in hat zwei oder vier Motive, die sie abwechselnd spielen. Mein Ziel war es, ein einfaches Stück zu schreiben, das kein kompliziertes Material behandelt.

Du bist bei der Aufführung im Februar aber nicht dabei, oder?

Yulan Yu: Genau, ich bin auf Reisen mit meiner Familie, die im Februar nach Europa kommt. Wir haben einen großen Trip organisiert!

Yulan Yu
Yulan Yu (c) Martin Gervara Kunerth

Schön! Wie fühlt es sich dann an, wenn deine Stücke sich so verselbstständigen?

Yulan Yu: Das finde ich unglaublich schön! Es ist, als würde das Stück eine eigene Identität entwickeln. Bei der Uraufführung von „Mägen“ vor ein paar Jahren klang es ganz anders als bei der Aufführung kürzlich beim Musikprotokoll – wie zwei verschiedene Welten! Das liegt vor allem an der Klangfarbe: Jedes Saxofon, jedes Instrument klingt ein bisschen anders, und die Räumlichkeit verändert sich ebenfalls jedes Mal. Das liebe ich! Es zeigt die Freiheit und die Schönheit der Komposition. Früher wollte ich, dass die Musiker:innen genau das spielen, was ich mir vorgestellt hatte. Aber oft funktioniert das nicht so, wie man es sich ausmalt. Mit der Zeit habe ich gelernt, die Kontrolle los- und mich auf Überraschungen einzulassen.

Hat dieser Wandel mit deinem Wechsel von China nach Europa zu tun?

Yulan Yu: Ja, definitiv. Ich habe gelernt, den Dingen zu vertrauen, die kommen, und sehe sie nicht mehr so „endgültig“. Heute weiß ich, was ich erreichen will, aber genau deshalb kann ich auch Freiräume lassen.

„ICH FOLGE EINFACH MEINEM BAUCHGEFÜHL“

Komponierst du dadurch anders? Oder: Wie hast du gelernt, loszulassen?

Yulan Yu: Damals habe ich oft Klänge aus Stücken anderer Komponist:innen übernommen, die mir gefallen haben. Es war mir wichtig, dass der Klang exakt so umgesetzt wird, wie ich es mir vorgestellt habe. Das mache ich heute nicht mehr. Mir ist bewusst, dass die Musiker:innen ihre Instrumente viel besser kennen als ich. Deswegen gebe ich ihnen jetzt eher eine Harmonie oder einen Klang, den ich mir wünsche, und lasse sie das interpretieren.

Ein lockeres Spiel aus Heranziehen und Loslassen?

Yulan Yu: Genau. Wenn ich etwas Konkretes will, versuche ich, es eher zu umschreiben. In den letzten Jahren arbeite ich vor allem mit Musikerfreund:innen zusammen. Wir treffen uns oft und probieren viel aus. Diese Prozesse sind sehr inspirierend und machen die Zusammenarbeit lockerer. So wird alles, was dabei entsteht, eher eine Ko-Kreation.

Da entsteht also viel aus einer improvisatorischen Haltung?

Yulan Yu: Ja, das passiert immer häufiger. In meinen jüngsten Musiktheaterprojekten gibt es keine Noten mehr, sondern alles wird direkt auf der Bühne entwickelt. Allein durch dieses Setting kommt es automatisch zur Improvisation.

Das Spectrum Saxophonquartett wird dein Stück „Mägen“ beim impuls Festival interpretieren. Wie empfindest du es, dass sie dein Stück spielen?

Yulan Yu: Ich bin ganz entspannt! Aber auch neugierig, welche Art von neuer Version daraus entstehen kann.

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Was reizt dich zurzeit besonders, auszuprobieren?

Yulan Yu: Momentan zieht es mich immer mehr in Richtung „cheesy“ Musik! Mit „cheesy“ meine ich einfach schöne Musik im klassischen Sinn. Ich habe 2009 in Graz mit Neuer Musik und zeitgenössischer Komposition angefangen. Davor kannte ich diese Musikrichtung gar nicht, und das war eine völlig neue Welt und echte Herausforderung für mich. Aber nach so vielen Jahren Neuer Musik habe ich gemerkt, dass ich wieder mehr Harmonie brauche. Das empfinde ich gerade als wohltuend. Oder anders ausgedrückt: Ich suche nach mehr Balance in der Musik.

Also willst du dich vom Experimentellen wegbewegen?

Yulan Yu: Zumindest, was die Harmonie angeht. Es geht mir nicht um Tonalität im klassischen Sinn, sondern um ein „harmonisches Feld“. Außerdem arbeite ich mit sehr einfachem Material. Das ist mir inzwischen klar geworden.

Oft geht diese Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung.

Yulan Yu: Genau deshalb ist es bei mir eine langsame Annäherung. Es werden immer weniger meiner Stücke im Kontext Neuer Musik gespielt, weil meine Musik immer „kitschiger“ wird. Aber ich folge einfach meinem Bauchgefühl.

Warum hast du diesen Drang zur Harmonie? Hat das mit der chaotischen Welt um uns herum zu tun?

Yulan Yu: Das ist ein guter Punkt! So habe ich das noch nie gesehen. Ich denke, mein Hintergrund spielt eine Rolle. Meine musikalische Ausbildung in China war sehr klassisch und daher stark auf Harmonie ausgerichtet. Während meines Studiums der zeitgenössischen Komposition in Graz war es spannend, zu experimentieren und meinen Horizont zu erweitern. Aber langsam merke ich, dass mir diese Welt ein wenig fremd ist und nicht das widerspiegelt, was ich anstrebe.

Was ist daran für dich fremd? 

Yulan Yu: Ich erinnere mich an ein Musikfestival in Tel Aviv, wo ich einen Sommerworkshop besucht habe. Wir waren acht junge Komponist:innen, und jede:r hat seine:ihre Werke vorgestellt. Ein Komponist aus Korea präsentierte dabei Musik, die wirklich brutal klang. Als er dann seine Geschichte erzählte – er hatte einige Jahre im Militär gedient und viel Schreckliches erlebt – verstand ich, woher diese Klänge kamen. Seine Musik war tief mit seinem Leben verbunden. Im Vergleich dazu wurde mir klar, dass ich nie so etwas Schlimmes erlebt habe und auch keine Lust mehr habe, solche „weirden“ und brutalen Klänge zu erzeugen.

„ES REICHT NICHT, WENN ETWAS NUR COOL AUSSIEHT UND EINEM TREND FOLGT!“

Weil es nicht mit deiner Seele vereinbar ist?

Yulan Yu: Genau. Während meines Studiums habe ich oft versucht, meine Energie in diese Richtung zu lenken.

In das Dunkle?

Yulan Yu: Ja, oder in den Schmerz. Aber das brauche ich für mich nicht mehr!

Manchmal will man auch einfach nur glückliche Musik hören.

Yulan Yu: Genau! Und ich möchte nicht mehr versuchen, jemand zu sein, der ich nicht bin. Eine Zeit lang habe ich mich selbst dafür kritisiert, dass meine Musik so „cheesy“ klingt. Aber jetzt denke ich: Das ist, was aus mir herauskommt, und daran halte ich fest. Ich bewundere Menschen, die dieses Komplizierte in sich tragen und es umsetzen können, aber für mich funktioniert das einfach nicht.

Musik muss ehrlich sein, aus einem selbst heraus, oder?

Yulan Yu: Absolut. Es reicht nicht, wenn etwas nur cool aussieht oder einem Trend folgt.

Was ist denn dein musikalischer „Happy Place“?

Yulan Yu: Das ist schwer zu beschreiben, nachdem ich so viel Unterschiedliches höre. In meiner Playlist findet sich genauso viel elektronische Musik, wie Pop, als auch World Music.

Auf welcher Art von Bühne würdest du deine Musik denn gerne zukünftig sehen?

Yulan Yu: Ehrlich gesagt träume ich davon, Musik zu machen, die sich keinem Genre zuordnen lässt. Deshalb habe ich keine konkrete Antwort auf die Frage. Aber ich möchte mich, wie gesagt, aus der zeitgenössischen Musikszene etwas herauslösen. In letzter Zeit fühle ich mich dort oft fehl am Platz. Also wer weiß, wohin es mich noch führt!

Also bist du gerade dabei, deine neue musikalische Voice“ zu finden?

Yulan Yu: Ja, das stimmt. Seit ein paar Jahren arbeite ich enger mit Freund:innen zusammen, initiiere mit ihnen gemeinsam Projekte und suche nach Förderungen. Ehrlich gesagt, erwarte ich nicht, dass der große Auftrag plötzlich kommt. Es ist mir lieber, wenn ich eine Idee habe, wir gemeinsam ein Konzept entwickeln und versuchen, eine Förderung zu bekommen, um es zusammen umzusetzen.

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Welche konkreten Projekte gibt es schon?

Yulan Yu: Ich bin Mitglied im Verein „Seven Circles“. Zusammen haben wir schon mindestens vier Projekte umgesetzt. Außerdem bin ich in einen anderen Verein involviert, der „Echoes“ heißt. Das ist ein Ensemble für östliche Musik, bei dem wir uns vor allem mit traditioneller Musik beschäftigen. Dort spiele ich auch mit. Vor zwei Jahren habe ich auch ein Musiktheaterstück für „Echoes“ komponiert, in dem ich mit Mantras gearbeitet habe.

Mantras – inwiefern?

Yulan Yu: Es handelt sich um eine sehr simple Melodie, die immer wiederholt wird. Das ist eine Richtung meiner Arbeit, die mich auch jetzt noch sehr interessiert: „Einfache“ Projekte gemeinsam mit meinem Verein zu entwickeln.

Findest du es schwieriger, eine einfache Melodie gut klingen zu lassen?

Yulan Yu: Ja, manchmal denke ich, dass man wirklich viel Genialität braucht, um eine einfache, gute Melodie zu komponieren.

Du lebst ja eigentlich in Graz. Was treibt dich nach Wien?

Yulan Yu: Wir haben nächste Woche ein Konzert in Wien, und ich bin jetzt zur Vorbereitung hier. Das Konzert ist eine Kollaboration zwischen „Echoes“ und „Between Feathers“. Dabei gibt es an dem Abend sieben oder acht gemeinsame Aufführungen, wobei jedes Stück so komponiert ist, dass es für beide Ensembles funktioniert.

Was darf man sich darunter vorstellen?

Yulan Yu: Zusätzlich zu den schon genannten Kollektiven ist auch „Die andere Saite“ dabei, ein Komponist:innenkollektiv, das es schon seit über 40 Jahren gibt. Alle teilnehmenden Komponist:innen stammen aus diesem Kollektiv. Deswegen gibt es auch einen „cheesy“ Beitrag von mir! Das Konzert selbst wird recht konventionell sein – jede:r hat ein Stück –, aber wir versuchen, durch die räumliche Gestaltung etwas Besonderes zu schaffen.

Graz war vor allem für die zeitgenössische Musik wichtig für dich. Hast du das Gefühl, dass du dich auch von Graz lösen möchtest?

Yulan Yu: Ja, ich merke immer deutlicher, dass ich mehr und mehr weg möchte. Ich glaube nicht, dass ich mich komplett von Graz trennen werde, aber ich wünsche mir eine weitere Station, die mein Spektrum erweitert.

Hast du bestimmte Länder oder Orte im Kopf, wo du dir vorstellen könntest zu leben oder zu arbeiten?

Yulan Yu: Noch nicht konkret! Ich habe erst 2024 meine Daueraufenthaltsbestätigung für die EU bekommen – das war eine große Erleichterung. Vorher musste ich jedes Jahr daran denken, mein Visum zu verlängern. Das hat mich auch mit Graz verbunden, weil ich Angst hatte, dass bei einem Umzug alles von vorne beginnen müsste. Jetzt bin ich flexibler und kann schauen, was für mich passt.

Es steht also viel Neues an! Umso mehr danke ich dir für das Gespräch.

Ania Gleich 

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Termine:

Dienstag, 18. Februar 2025
Between Feathers Fraktionen Festival
Yulan Yu: Wane:ing
Bielefeld (DE), Zionskirche Bethel

Mittwoch, 19. Februar 2025
Spectrum Saxophonquartett @ Impuls Festival
Yulan Yu: Mägen
Graz, Theater im Palais

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Links:
Yulan Yu (Website)
Yulan Yu (Instagram)
Yulan Yu (music austria Musikdatenbank)
Impuls Festival (Website)
Spectrum Saxophonquartett
Echoes (Ensemble)
Seven Circles (Verein)
Between Feathers (Ensemble)