Die Utopie des Klanges in einer entzauberten Welt – zum Schaffen von GEORG FRIEDRICH HAAS

In diffuser Masse rauschen Tonkaskaden in die Tiefe, die abwärtsgerichtete Bewegung wird unentwegt wiederholt; der Tonraum schraubt sich hartnäckig zunächst nach unten, dann auch in die Höhe – aber nur scheinbar, denn GEORG FRIEDRICH HAAS changiert mit der Verlagerung von Akzenten und Lautstärke und schafft so die Illusion einer endlosen Weitung des Tonraumes. Während sich das trügerische Spiel schließlich selbst entblößt, indem die Verlangsamung der Abläufe die innere Faktur offen legt, entfaltet sich ein schillernder Klangraum, in dem „wohltemperierte“ Töne auf entlegene Obertonakkorde treffen.

Interesse am schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn

Die Rede ist von dem Ensemblestück „in vain“, eines jener Stücke, mit denen sich Georg Friedrich Haas (geb. 1953 in Graz) zu Beginn der Nullerjahre als einer der herausragenden österreichischen Komponisten der Gegenwart positionierte. Der Titel „in vain“ (zu Deutsch: „vergebens“) stünde hier, so Haas, für „das Zurückkehren in überwunden geglaubte Situationen“ – ein solcher Kommentar impliziert natürlich eine außermusikalische Deutung. Bei Haas ist er durchaus politisch zu verstehen, ganz konkret als Ausdruck eines gravierenden Utopieverlustes.

Der Komponist gesellt sich hier zu einem erlauchten Kreis Desillusionierter: Friedrich Hölderlin und dessen Romangestalt Hyperion, die als Protagonisten in Haas’ Kammeroper „Nacht“ auftreten (1996) und sich als Referenz in Werken wie „Hyperion – Konzert für Licht und Orchester“ (2006) wiederfinden, oder Rainer Maria Rilke, den Haas im Titel seines Schlagzeugkonzert „Wer, wenn ich schriee, hörte mich…“ (1999) zitiert. Dann wären da noch Franz Kafka, Edgar Allan Poe und Rosa Luxemburg, deren Texte Haas im Libretto seiner Oper „Die schöne Wunde“ zusammenführt (2003), und der norwegische Maler Lars Hertervig, Protagonist der Oper „Melancholia“ (2007).

In seiner Kammeroper „Nacht“ interpretiert Haas das Scheitern der Französischen Revolution und die Beobachtung, dass aus gesellschaftlichen Vordenkern herrschsüchtige Despoten werden, als existenziell bedrohlichen Utopieverlust im Leben des Schriftstellers Hölderlin. Das Kippen von revolutionären Bewegungen in diktatorische Regime ist auch heute, 200 Jahre nach der Französischen Revolution, in vielen Teilen der Welt von größter Aktualität. Dem Schicksal von Individuen, die um ihre Ideale betrogen werden, auf unterschiedliche Art zu gesellschaftlichen Außenseitern geraten und sich auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn bewegen, gilt Haas’ fortwährendes Interesse.

Das erwähnte Ensemblestück „in vain“ entstand in einer sehr intensiven Schaffensphase um 2000, zwei Jahre nachdem Haas den Schritt in die Unabhängigkeit gewagt, seinen Posten als Kompositionsprofessor an der Grazer Musikuniversität auf Eis gelegt und sich in die Einsamkeit des Komponierens zurückgezogen hatte. Nach einem Aufenthalt in Berlin als DAAD-Stipendiat verbrachte er den Winter 2000/01 an einem abgeschiedenen Ort an der Südwestküste Irlands. Doch dort packte ihn bald die Unruhe – Haas, der in bergdörflicher Umgebung in Vorarlberg aufgewachsen ist, ging zurück nach Wien bzw. Graz, wo er zwischen 2002 und 2005 erneut unterrichtete, ehe er eine Professur an der Musik-Akademie in Basel angeboten bekam. Seit September 2013 ist Georg Friedrich Haas MacDowell Professor of Music an der renommierten Columbia University in New York.

Faszination für die „wunderbar ,falschen‘, schwebungsreichen Dur- und Dominantseptakkorde“

Die Jahre um 2000 markierten einen Wendepunkt in Haas’ Schaffen. Seine stilistische Festigung ging einher mit einem zunehmenden Verzicht auf mathematisch und computergestützte Kompositionsmethoden. Klanglich und strukturell hatte sich seine musikalische Sprache dadurch nicht eklatant verändert, jedoch erlaubte Haas ab Ende der Neunzigerjahre seinem kompositorischen Instinkt mehr Freiheiten als zuvor. „Nach selbstkritischer Betrachtung“ habe er, so Haas in einem Gespräch im Jahr 2005, in den Werken, in denen er „viel mit abstrakten Konstruktionsprinzipien gearbeitet“ hatte, „in klanglicher Hinsicht durchaus Elemente von Willkür und Beliebigkeit“ festgestellt.

In einem ersten Schritt suchte er „nach Gesetzmäßigkeiten, die der menschlichen Empfindung nachkonstruiert sind“ und die er „mittels Computer in musikalische Parameter“ bringen konnte. Ab ca. 1995 habe er dann „Konstruktionsprinzipien generell vermieden“. Nicht nur  das künstlerische Selbstbewusstsein wuchs, auch die Auftragslage verbesserte sich. Haas’ zunächst risikobehafteter Schritt in die Unabhängigkeit hatte sich also gelohnt. Es entstanden neben „in vain“ richtungsweisende Kompositionen wie das Violinkonzert (1998), das „Blumenstück“ nach der „Rede des toten Christus vom Weltengebäude herab, dass kein Gott sei“ aus Jean Pauls „Siebenkäs“ für 32-stimmigen Chor, Basstuba und Streichquintett, „Torso“ nach Franz Schuberts unvollendeter Klaviersonate C-Dur D 840 für großes Orchester (beide 2000), das Orchesterwerk „Natures mortes“, die Oper „Die schöne Wunde“ (beide 2003) und das Cellokonzert (2004).

Um Haas’ musikalischer Ästhetik auf die Spur zu kommen, empfiehlt es sich, nicht nur seiner Musik zu lauschen, sondern auch einen Blick in seine Schriften zu werfen. In den „Fünf Thesen zur Mikrotonalität“ erläutert Haas seine Ansicht, dass Dissonanzen und Schwebungen, nicht ein „Übel“ der Musizierpraxis darstellen, sondern „ein menschliches Grundbedürfnis“. „Dass es nicht die Übereinstimmung mit den Proportionen der Teiltonreihe ist, die in den unterschiedlichen Musiktraditionen gesucht wird, sondern die Abweichung; nicht die Verschmelzung, sondern die Reibung“, davon ist Haas überzeugt. So ist es auch zu verstehen, wenn der Komponist von seiner Faszination für die „wunderbar ‘falschen’, schwebungsreichen Dur- und Dominantseptakkorde“ spricht, die er – ihrem System, der Tonalität, entrückt – in ihrer Klanglichkeit zur Geltung bringt.

Durchdringung des profanen Lebens mit einer geradezu mystischen Kraft der Klänge

Die zwölftönige gleichstufige Temperierung, die wir als sogenannte „wohltemperierte Stimmung“ vom Klavier her kennen, mit Mikrotonalität in Austausch zu bringen, ist eine der Quintessenzen seines Komponierens. Als prägenden Einfluss nennt Haas hier die Harmonik des kaum bekannten russischen Komponisten Ivan Wyschnegradsky (1893 – 1979), dessen Idee von „nicht-oktavierenden Tonräumen“ Haas intensiv rezipiert hat. Es geht hier um den Ansatz, Tonräume nicht in Oktaven einzuteilen, sondern in Intervalle, die von der Oktave eine kleine Spur abweichen (d. h. mikrotonal variierte Septen und Nonen). Daraus ergeben sich die für Haas so charakteristischen Quart-Quint-Schichtungen. Auch der Einsatz von Mikrotönen wird von diesen „nicht-oktavierenden“ Tonräumen impliziert, wenngleich Wyschnegradskys mathematische Weiterteilung des temperierten Halbtones die Vielfältigkeit der mikrotonalen Klänge bei Haas beileibe nicht hinreichend erklärt. Mikrotonalität kann unter anderem auch durch den Einsatz von Obertonakkorden (insbesondere auf Streichinstrumenten), durch sogenannte Klangspaltung (mikrotonale Verdichtung einer kleine Tonregion, z. B. eines Ganztones) oder durch den Einsatz von Schlaginstrumenten als Klangkörper (Gongs mit instabilem Grundton, Nachhall-Effekte von Fellen) hervorgerufen werden. Die menschliche Stimme eröffnet hier durch ihre Fähigkeit, frei zu intonieren, ebenfalls viele Möglichkeiten.

Letztlich – so könnte man Haas’ wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit des Klanges zusammenfassen – bleiben alle Stimmungssysteme Fiktion. Der Debatte über die vermeintliche Natürlichkeit der Obertonreihe im Gegensatz zur Künstlichkeit der zwölftönigen gleichstufigen Temperierung begegnet Haas mit der trockenen Erkenntnis, dass „ein aus Teiltönen der Obertonreihe gebildeter Akkord keine detaillierte Übertragung einer Analyse eines realen Instrumentalklanges, sondern eine Abstraktion, beinahe eine Fiktion“ sei. Doch dieser abstrakte Akkord – und darin liegt das kompositorische Fazit – entwickle eine „eigene, selbständige Qualität“ (Haas).

Es ist ein bemerkenswerter klanglicher Facettenreichtum, der Haas’ Musik so faszinierend macht. Seine Werke sind von einer Dramaturgie des Klanges erfüllt, die sich dem Hörer ganz unmittelbar und vor allem nonverbal erschließt. Sie zeugen von einer Durchdringung des profanen Lebens mit einer geradezu mystischen Kraft der Klänge, die das Anmutige und Raue, Üppige und Hässliche in sich vereinen – einer Klangwelt, in der die Reibung das Maß aller Dinge darstellt und nicht der Gleichklang.
Lisa Farthofer

Foto 1: Astrid Ackermann
Foto 2: Universal Edition/Eric Marinitsch

http://www.wienmodern.at/