Auf der Reise zur Selbstentdeckung – Yulan Yu im Porträt

Dieses Porträt von Yoko Yamada entstand im Zuge der Lehrveranstaltung „Ästhetischer Diskurs, Reflexion, Kritik: Schreiben und Sprechen über Neue Musik“ von Monika Voithofer im Wintersemester 2022/23 am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien und wird als Teil einer Kooperation mit mica – music austria hier im Magazin veröffentlicht. Für diese Aufgabenstellung konnten die Studierenden frei eine aufstrebende Persönlichkeit aus dem Bereich der neuen Musik wählen.

Ihre Kompositionswerke wurden bei Festivals und Konzertreihen wie musikprotokoll, open music, impuls etc. in verschiedenen europäischen Ländern aufgeführt. 2016 gewann sie den Musikförderungspreis der Stadt Graz. 2018 war sie Finalistin der Ö1 Talentebörse und 2019 wurde sie als START-Stipendiatin des österreichischen Bundeskanzleramtes ausgewählt. Die talentierte Musikerin hat vieles herausragend gemeistert, einige Schwierigkeiten verlangten ihr dennoch Überwindung ab.

Leistungsgesellschaft China

1990 in Jiangmien, in einer Stadt in der Nähe Hongkongs im Süden Chinas geboren, hatte sie zunächst keine besondere Beziehung zu Musik. Im Alter von drei oder vier Jahren ging sie in einen Kindergarten mit Schwerpunkt Musik, da es damals ein Trend war, die Kinder musikalisch zu erziehen. Sie lernte Notenlesen und wurde, wie alle anderen Kinder, zum absoluten Gehör trainiert. Sie lernte E-Piano und Klavier, wobei der Unterricht auf Genauigkeit und Richtigkeit ausgerichtet war, nicht hingegen auf Selbstausdruck. „Deshalb hat mir das Klavierspielen keinen großen Spaß gemacht, aber ich binnicht auf die Idee gekommen, darauf zu verzichten, sondern habejeden Tag ungefähr eine Stunde gespielt.“  Nebenbei sang sie in einem Kinderchor. „Das hat mir viel Spaß gemacht. Ich habe den Eindruck gewonnen, keine Solistin zu sein, sondern ich wollte mit den anderen Leuten gemeinsam musizieren.“ 

Im Alter von etwa zehn Jahre hat sie angefangen, Melodien zu schreiben und Pop-Musik zu komponieren und dabei ihr Talent entdeckt. Von der zeitgenössischen Musik aber hatte sie noch keine Ahnung.

Nach der Matura trat im Alter von siebzehn Jahren eine Wende ein: „Mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass ich ins Ausland muss. Es war intuitiv. Ich konnte mir nicht vorstellen, an einer chinesischen Musikuniversität zu studieren.

Weg nach Graz

Die in China geborene Komponistin kam im Alter von achtzehn Jahren nach Österreich und begann mit dem Kompositionsstudium in der Klasse von Klaus Lang, das sie 2019 mit dem Titel Master of Arts mit Auszeichnung abschloss.

Zufälligerweise gab es damals eine Chinesin aus der gleichen Stadt, sechs Jahre älter als ich, die Komposition an der Kunstuniversität Graz studierte. Als ich sie kontaktierte, hat sie mich gleich angerufen und mir Hilfe für die Aufnahmeprüfung ander Kunstuniversität Graz angeboten. Da hörte ich zum ersten Mal von ‚zeitgenössischer Musik‘. Es war ein Schock. Ich dachte: Kann das auch Musik sein?

Als Aufgabe für die Aufnahmeprüfung komponierte sie drei Stücke in zeitgenössischer Ästhetik. „Ich fand es am Anfang komisch, aber es war neu, interessant und eine Herausforderung. Es war für mich ein ‚Task‘ – eine Aufgabe, die ich machen musste. Es fiel mir nicht so schwer, weil ich eswollte, obwohl esmir keinen besonderenSpaß machte. Aber ich mag Herausforderungen, Erledigungen der Aufgaben, es war jaalles neu. In diesem Sinne war es dann doch auch Spaß.“ So ist sie nach Graz gekommen, um die Prüfung zu machen, die sie als eine der jüngsten Kandidatinnen bestanden hat. Seitdem lebt sie in Graz.

In der Klasse von Klaus Lang

Es war alles anders als in China. Ich war in der Klasse von Klaus Lang. In China hat der Lehrer alles dirigiert und genaue Anweisungen gegeben, wie man komponieren soll. Klaus gab weder Aufgaben noch Anweisungen, er hat mich nicht gezwungen, zu komponieren. Bis dahin war ich immer an die Aufgaben gebundenund plötzlich hatteich Freiheit. Ich wusste nicht, was ich machen soll.“ Das erste Jahr war schwierig, sie fühlte sich verloren. Klaus Lang sagte ihr, sie solle versuchen, nur mit zwei Noten zu komponieren. „Ich habe den Ton c als erste Note und einen Hauch – also einen Luftklangals zweiten Ton gewählt und daraus ein Chorstück komponiert. Das war für mich der erste Schritt. Ich dachte: Also, es muss nicht alles so kompliziert sein.“ 

Was ist zeitgenössische Musik? – Was brachte ihr das Kompositionsstudium?

Auf die Frage, was denn zeitgenössische Musik sei, bekam sie eine klare Antwort: Pop-Musik könne jeder komponieren, aber zeitgenössische Musik hat eine andere Ästhetik, die viel mit Intelligenz und Vernunft zu tun habe. Es heißt aber nicht, dass einfache Musik nicht schön sei. Sie hört immer wieder Pop, elektronische Musik, Beat, alternative Musik und auch sonst alle möglichen Musikrichtungen. Aber um „zeitgenössische Komposition“ zu machen, muss man etwas lernen. Sie hat zehn Jahre lang diverse Kompositionstechniken an der Universität studiert, um zeitgenössische Musik zu verstehen. Sie findet, es gibt sehr wenig Interaktion zwischen den Gattungen. „Ältere Generationen dieser Richtung hatten damals wirklich ‚neue‘ Musik geschaffen. Stockhausen zum Beispiel hatte schmerzhafte Musik komponiert, da er den Krieg erfuhr. Es war Zeitgeist, Brutalität, Gewalt und Hässlichkeit in der Musik zum Ausdruck zu bringen. Aber ich bin ausder Nachkriegsgeneration, ohne Kriegserfahrung, ohne große Schwierigkeiten im Leben, und ich kann die schmerzhafte Musik nicht als Selbstausdruck machen. Ich möchte etwas Lebendiges, Experimentelles mit meinen befreundeten Musikern gemeinsam machen und eine grenzenlose Mischung, einCross-Over-Stück komponieren.

Zweite Krise führte zur Umarmung ihrer eigenen Wurzel

Nach dem Abschluss des Master-Studium 2019 hatte ich eine große psychische Krise. Ich litt unter Orientierungslosigkeit. Es gab keine Aufgabe, die ich erledigen musste.“ Sie lernte damals in Graz einige Musiker und Musikerinnen aus verschiedenen Ländern kennen, aus Griechenland, aus der Türkei, aus dem arabischen Raum usw.  Selbst spielt sie chinesische Zupfinstrumente (Guzheng). „Da habe ich zum ersten Mal gelernt, meine Wurzeln zu umarmen. Bis dahin versuchte ich, mich an die europäische Kultur anzupassen, aber in dieser Zeit habe ich meine chinesischen Wurzeln entdeckt und sie als einen Teil von mir angenommen.

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Zu ihren Werken

Ihre Werke haben oft originelle Titel, etwa das Werk „Mägen“ für Saxophonquartett (2017/6 Minuten). „Ja, die Pluralform von Magen ist Mägen. Ich dachte dabei an Kühe. Ich finde Kühe immer sympathisch, weil sie vier Mägen haben und immer wiederkauen. Ich kann mir vorstellen, ich wäre eine Kuh. Wenn ich etwas Neues sehe und höre, brauche ich viel Zeit, dieses zu verdauen.“ Das Stück klingt sehr meditativ, beruhigend, aber außerdem organisch, mit Humor und Dramaturgie. 

Auf die neueste Komposition auf ihrer Website „in den Dünen (Nacht)“ (2022/12 Minuten) hat die Komponistin hingewiesen. „Die Kombination von Naturklang und Melodie ist gut gelungen.“ Inspiration waren die Naturphänomene von Dünen, die sie in YouTube-Videos gefunden hatte.

Die Titel geben den Hörern und Hörerinnen abstrakte Information. Die Interpretation und Vorstellung überlässt sie diesen selbst.

Um zu komponieren, braucht sie Inspirationen, Inputs, Ideen, Meditationen. Oft kommen solche aus Bildern oder aus Sprachen. Die sprachbegabte Komponistin meistert Kantonesisch als Muttersprache, daneben Mandarin (Hochchinesisch), Englisch und Deutsch perfekt, und lernte außerdem Französisch und Spanisch. Sie versucht, immer wieder neue Sprachen zu lernen. „Ich habe ein gutes Gedächtnis.“ Sicherlich spielt hier auch ihr Fleiß, Aufgaben so gut wie möglich zu erledigen, eine große Rolle. In erster Linie faszinieren sie die Klänge der verschiedenen Sprachen, hinzu kommt als zweite Ebene die Semantik, die ihr eine andere Dimension eröffnet. 

Sie verwendet oft Luftgeräusche sowie Naturklänge und natürliches Flageolett bei Streichinstrumenten. „Wir sind alle ein Teil der Natur. Zwar ist die Musik ‚artifiziell‘, aber ich stecke viele Naturelemente in die Musik. Ich mag solche natürlichen Klänge.

Sie nimmt diese Inspiration zuerst als kleine Motive, als Materialien, die sich als Variationen nach einem Plan entwickeln, so, wie sie ein Haus baut. Manchmal gelingt es nach Plan, ab und zu aber auch nicht. In diesem Fall verlangen die Materialien etwas anderes. „Da muss ich flexibel sein. Ich fange aber immer klein an, gebe dann einige Schichten dazu, bilde Variationen und Wiederholungen.

In ihrem YouTube-Channel hat sie während der Corona-Zeit sechs Monate lang jede Woche kleine Kompositionen, Musik-Videos als freie Experimente hochgeladen. „Es war eine Aufgabe, die ich mir selbst gestellt habe. Es ist für mich ein Platz für freie Experimente. Ich darf alles machen, Pop-Song-Cover, elektronische Beat-Musik, sogar einCover von Bach. Als Komponistin habe ich gefunden, was in mir steckt. Nicht nur zeitgenössische Musik, sondern auch Melodien und alle möglichen anderen Elemente. Das macht mir Spaß.

nos incogniti
nos incogniti (c) Martin Guevara Kunerth

Weitere Projekte

Nach zehn Jahren des Kompositionsstudiums will sie sich nun eine kleine Pause erlauben. Sie komponiert und veranstaltet im März ein Kindermusiktheater, bei dem sie auch Klavier spielen wird. Da will sie diesmal auch Platz für Improvisationen einbauen. In der zweiten Hälfte des Jahres will sie kleine Stücke für sechs bis acht Musiker komponieren. Neben dem Komponieren lernt sie Tanzen sowie andere Sprachen.

Man hat das Gefühl, als habe sie eine lange Reise der Befreiung vom Leistungsdruck hin zur Selbstentdeckung hinter sich. Mit der Freiheit, mit der sie am Anfang nicht viel anfangen konnte, hat sie inzwischen viele Möglichkeiten für ihre weitere musikalische Entwicklung in der Hand. Das Wichtigste ist für sie dabei die Ehrlichkeit. Menschen als einen Teil der Natur zu erfassen und sich selbst gegenüber ehrlich zu bleiben; diese zwei Prinzipien scheinen  für ihr künstlerisches Leben entscheidend zu sein.

Das für die Komposition notwendige Werkzeug, die Kompositionstechnik, gewann sie durch ihren Fleiß und ihr Talent. Jetzt steht ihr die ganze Welt offen – sowohl die Außenwelt mit internationalen Musikern und Musikerinnen sowie ihre Innenwelt, voll von Neugierde, Interesse für Sprachen sowie alle möglichen Klänge und ihren kulturellen Wurzeln. In letzter Zeit traut sie sich, traditionelle chinesische Pentatonik in ihren Werken klingen zu lassen. Umso mehr sind wir gespannt, welche Werke sie in Zukunft zur Welt bringt.

Yoko Yamada

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Termin:

Samstag, 4. März 2023
multi-media theatre for children
SevenCircles
KiG! Saal 3, Graz

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Links:
Yulan Yu
Yulan Yu (music austria Datenbank)