„YOU ARE NEVER ORIGINAL“ – CARLOS GONZÁLES BOLAÑOS IM PORTRÄT

Dieses Porträt von Magdalena Mittermayr entstand im Zuge der Lehrveranstaltung „Ästhetischer Diskurs, Reflexion, Kritik: Schreiben und Sprechen über Neue Musik“ von Monika Voithofer im Wintersemester 2022/23 am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien und wird als Teil einer Kooperation mit mica – music austria hier im Magazin veröffentlicht. Für diese Aufgabenstellung konnten die Studierenden frei eine aufstrebende Persönlichkeit aus dem Bereich der neuen Musik wählen.

„Ich versuche, nach Lösungen zu suchen, […] jedes Stück stellt seine Frage.“ – So beschreibt Carlos Gonzáles Bolaños seinen Zugang in seinem Schaffen neuer, experimenteller Musik. Der 1991 geborene Komponist aus Gran Canaria legt seinen Fokus auf instrumentale und elektroakustische Musik, ebenso multimediale Projekte mit unterschiedlichen Charakteristiken. Ob dieser Vielfalt im Œuvre tragen die Stücke stets seine persönliche Signatur. Jüngst wurde er als Repräsentant der Anton Bruckner Privatuniversität ausgewählt, um ein Auftragswerk für die Kooperation „Next Generation – Young Composers 2022“ von Ö1 und AspekteSALZBURG zu komponieren. Im Gespräch zeigt sich Bolaños’ neugieriger und offener Geist – das Streben nach Authentizität und Bodenständigkeit favorisiert er, entgegen einer vermeintlichen Originalität und Innovation.

Carlos Gonzáles Bolaños entdeckte durch seine universitäre Ausbildung in Spanien, insbesondere seinem Masterstudium in Madrid bei Sergio Luque, seine Leidenschaft für Soundsynthese und Algorithmik, welche fundamentale Rollen in seinen Schaffensprozessen einnehmen. Sein wichtigstes Instrument – der Computer – ist dabei essenziell, um die Klänge, Strukturen und musikalischen Daten zu bearbeiten, zu verarbeiten und zu kontextualisieren. Dabei fällt es ihm schwer, sich auf wenige Inspirationsquellen zu konkretisieren. Ein jedes Projekt brauche eigene ästhetische Komponenten und Fragen zu Klangfarben, technische Formalismen oder technische Konzepte. Mit Andreas Weixler, seinem Professor an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, findet Bolaños einen Gesprächs- und Diskussionspartner für seine aktuellen musikalischen Themen.

Ideen für seinen musikalischen Ausdruck findet er auch im Austausch und der Zusammenarbeit mit Künstler:innen und Ensembles aus diversen außermusikalischen Bereichen. Seine rezenten Werke sind mitunter von der polysemantischen Poesie José Miguel Pereras, einem Gran-Canarischen Dichter inspiriert. Bolaños musikalisches Denken stimmt mit Pereras Poesie überein, welche eine freie Suche nach einer mehrdeutigen, klangvollen und anspruchsvollen Sprache charakterisiert. Einzelne Verse werden aufgegriffen und beeinflussen bewusst und unbewusst die musikalische Verarbeitung. Zudem nehmen vergangene Kooperationen, etwa mit Zirkusartisten wie Pablo de Rada Moniz und Filmdirektoren wie Victor M. Guerra Höhepunkte in seinem Lebenslauf ein, welche in ihren Endprodukten vom reichhaltigen künstlerischen Transfer geprägt sind. Bolaños profitiert hier von seiner Neugier, die speziell auch einen Fokus auf andere Arten der Produktion von elektronischer Musik – beispielsweise Electronic Dance Music – legt, um stetig neue Methoden und Stilmittel zu erfahren. Entscheidend sind hier für ihn die unterschiedlichen persönlichen Backgrounds der Beteiligten und die verschiedenen Herangehensweisen aufgrund von divergierten Ausbildungswegen, die neue stilistische Zugänge und Werkzeuge bereithalten. 

ENTKOMMEN DER TRADITION DES INSTRUMENTALREPERTOIRES

In der Inklusion klassischer Musikinstrumente strebt Carlos Gonzáles Bolaños ein Überschreiten der üblichen Traditionen an und erweitert die Spieltechniken über das Erforschen des „Körperlichen“ der Instrumente. In seinem Stück „Lied auf die Handelsstadt“ (2021) findet eine reaktive Resonanz digitaler Instrumente auf musikalische Daten statt, die von einer externen akustischen Quelle, der Klarinette, in Echtzeit abgerufen wird. Dabei werden die traditionellen Klarinettenklänge erweitert und durch akusmatische Eingriffe orchestriert. Es entsteht eine komplexe interaktive Symbiose. In der Kreation der Komposition vollzieht sich der Prozess wie das Erbauen eines Puzzles: Einzelne Punkte werden herausgearbeitet und miteinander zu einem großen Ganzen verknüpft. Das Werk bietet ein spannendes akustisches Erlebnis, das die Rollen zwischen Klarinette und digitaler Klangproduktion verschwinden und verschmelzen lässt. Es findet ein lebendiger und ausdrucksstarker Dialog zwischen Klarinette und der ungewöhnlichen Elektronik statt, welcher versucht, (scheinbar) verschiedene Genres zu kreuzen.

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YOUNG COMPOSERS 2022

Durch die Ausschreibung von Ö1 und aspekteSALZBURG im letzten Jahr bekam Bolaños die Möglichkeit, ein Werk für das Ensemble Phace zu komponieren, das im März 2022 im ORF Radiokulturhaus Wien sowie bei den aspekten zur Aufführung kam. Mit dieser spannenden Erfahrung wagte er sich in den Stil der New Complexity, die seiner Klassifikation jedoch nach „nicht so komplex“ sei. Seine Notation bedient sich der traditionellen Symbolsprache, das Problem der Komplexität zeigt sich im Inhalt. In dieser Komplexität versucht er eher eine natürliche und dynamische Art der Formulierung vorzuschlagen, als eine eindeutige Interpretation festzulegen. Sein Ziel in der Instrumentalmusik ist es, immer ausdrucksstärkere Musik hervorzubringen, sie technisch zu steigern und zu verbessern, aber auch musikalisch kohärent zu erzählen. Mit der Komposition „Diez líquidos“(2022) für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine, Viola und Cello zwang er auch die Musiker:innen dazu, ausdrucksvoller zu spielen. Das anspruchsvolle Werk verlangt von den Interpret:innen größere technische und psychologische Anstrengung sowie ein größeres Engagement für das Stück. Einer der Schlüssel dazu liegt in den kleinen Details der Unvorhersehbarkeit; in Phrasierung, Dynamik, Stimmung.

Aktuell befindet sich Bolaños in einer Übergangszeit seiner Kompositionstätigkeit. Seit September 2022 lebt er in Graz, genießt dort das vielfältige kulturelle Leben und das große Engagement für neue Kreationen, das er dort findet. Mit dem Umzug überwältigen ihn die Eindrücke der neuen Umgebung, die seine Recherche und Projektarbeit anregen.

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KONZEPT DER ORIGINALITÄT

Stilistisch beschreibt Bolaños seine Arbeiten in den letzten Jahren als sehr konstant, im Gegenteil zu seiner elektroakustischen Musik, bei der technische und stilistische Fragen offener angesprochen werden. „Jedes Stück ist so, als würde man das Fenster zu seiner Welt öffnen; aber man verbessert es immer weiter.” Die Auseinandersetzung mit der epistemologischen Wertigkeit und der kritischen Beurteilung der Werke sind grundlegend. Das perfekte Stück sei jenes, welches gut klingt, jedoch auch eine starke Formalisierung in sich birgt. Die Kunst ist es hier, diese Komponenten geschickt auszubalancieren. „Es ist ein Prozess, bei dem man nach Dingen sucht, die einen wirklich interessieren, und versucht, etwas Gutes zu schaffen.“ Die Musik muss einen Mehrwert haben und nicht nur den Anforderungen des Komponisten entsprechen. Dabei findet ein Zusammenfügen von Inspiration und individuellem Geist statt. Wichtig sind grundsätzliche Fragen: wer er ist, wofür er steht und wie originell seine Stücke sein können. „Man ist nie originell, man kann der Tradition nicht entkommen.“ Das Konzept von Originalität hätte ihm schon viel Kopfzerbrechen bereitet, es ist für ihn aber von großer Bedeutung, ehrlich zu sein, sich treu zu sein, das Beste zu geben und etwas „Gutes“ mit Mehrwert zu kreieren. „Es ist mir egal, ob es originell ist!” Carlos Gonzáles Bolaños konzentriert sich mit dieser unaufgeregten Einstellung auf seine musikalische Arbeit, die kohärent mit seinen Werten einhergeht und für ihn epistemologisch wertvolle Ergebnisse erzielt.

Magdalena Mittermayr

Links:
Carlos Gonzáles Bolaños (YouTube)
Carlos Gonzáles Bolaños (music austria Datenbank)