Nachruf Claudio Abbado

Apropos großer Dirigent: Eines seiner letzten Interviews zu seinem 80. Geburtstags im Juni mit der „Zeit“ begann mit der Feststellung der Interviewerin: „Maestro Abbado, große Dirigenten werden oft sehr alt“ … Abbado unterbrach sofort: „Das Adjektiv ‚groß’ würde ich nur in Ausnahmefällen auf Dirigenten anwenden, auf Wilhelm Furtwängler vielleicht oder auf Arturo Toscanini. Beide bewundere ich sehr, aber groß sind vor allem die Komponisten.“ Claudio Abbado ist am 20. Jänner gestorben. Dreizehn Jahre lang hatte er seinem Krebsleiden getrotzt und bis zum Schluss dirigiert. Ja, er war ein großer Dirigent, vor allem aber jemand, der nie als Despot mit den Musikern arbeitete.

Kaum eine Persönlichkeit oder Institution des internationalen Musiklebens, die seiner nicht mit Worten ehrlicher Trauer gedacht hat, aber auch alle Musikliebhaber dieser Welt sind über seinen Tod traurig. Tiefe Bestürzung löste Abbados Tod im Mozart-Orchester aus, das der Stardirigent 2004 zur Förderung junger Talente gegründet hatte. „Bis Donnerstag hatte Abbado noch eine Schumann-Symphonie einstudiert. Er dirigierte mit 80 Jahren wie mit 18. Er hatte ein Orchester mit jungen Menschen gebildet, die für die Musik lebten“, kommentierte Massimo Biscardi, Kunstdirektor des Mozart-Orchesters.

Vergegenwärtigen wir hier nur in kurzen Stichworten die Stationen seines Lebens, die auch viel mit Wien und Salzburg zu tun haben: Claudio Abbado wurde am 26. Juni 1933 in Mailand als Sohn einer Musikerfamilie geboren, er studierte zunächst am Konservatorium Giuseppe Verdi in Mailand Orchesterleitung, Klavier und Komposition und dann mit 23 Jahren bei Hans Swarowski an der Wiener Musikakademie, wo er in die Welt von Bruckner, Mahler und der Zweiten Wiener Schule eintauchte. 1958 gewann er seinen ersten Preis in Tanglewood, wohin er mit seinem Freund Zubin Mehta, den er aus Studien- und Staatsopernstehplatzzeiten in Wien kannte, gegangen war. 1963 begann er beim Radio-Sinfonieorchester Berlin, 1965 hob er an der Mailänder Scala die Oper „Atomtod“ von Giacomo Manzoni aus der Taufe. Im selben Jahr trat er erstmals ans Pult der Wiener Philharmoniker: mit Mahlers Zweiter bei den Salzburger Festspielen. Als musikalischer Direktor der Scala machte er das Publikum mit Alban Berg bekannt. Er brachte zahlreiche Werke von Luigi Nono zur Uraufführung, 1975 etwa „Al gran sole carico d’amore“ oder 1984 den „Prometeo“. Und in linkem musikalischen Denken, das er zusammen mit Nono und dem Pianisten Maurizio Pollini kultivierte, richtete er die Konzertreihen „Musica nel nostro tempo“ und „Musica/Realtà“ ein. Die Mailänder Uraufführung von Nonos „Al gran sole“ war 1975 der Leuchtturm dieser Bewegung. Regie führte Juri Ljubimow, der unbequeme Leiter des Moskauer Taganka-Theaters, mit dem Abbado an der Scala auch einen spektakulären „Boris Godunow“ herausbrachte.

1979 bis 1987 war er Chefdirigent beim London Symphony Orchestra, 1985 führte er in Zusammenarbeit mit Hans Landesmann den thematisch ausgerichteten Konzertzyklus „Mahler, Vienna and the 20th Century“ durch.1986 kam es zu einem weiteren Schritt, als Abbado zusammen mit Claus Helmut Drese die Leitung der Wiener Staatsoper übernahm. Hier vertiefte er die Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern, die sich in einer Vielzahl von Konzerten und Aufnahmen niederschlug, hier erneuerte er das Opernrepertoire; unvergessen Bergs „Wozzeck“ mit Hildegard Behrens und Franz Grundheber, die „Chowanschtschina“ von Mussorgsky, Verdis „Simon Boccanegra“, Debussys „Pelléas et Mélisande“, Schuberts „Fierrabras“ mit Ruth Berghaus, Rossinis „Viaggio a Reims“, Schrekers „Fernen Klang“, Janáčeks „Totenhaus“ (in Salzburg).

Mit den Philharmonikern kratzte er mit Werken von Schönberg, Webern, Berg, Bartók, Strawinski und Ligeti an der Patina der Abonnnementkonzerte. „Von Bach bis Ligeti, von Mozart bis Boulez, von Schubert bis Rihm – die Breite des gemeinsam erarbeiteten Repertoires, innerhalb dessen Beethoven, Bruckner, Brahms, Mahler und Richard Strauss besondere Schwerpunkte bildeten, ermöglicht eine Vorstellung von jener Horizonterweiterung, die sein Wirken für uns bedeutete. Und dieses Wirken erstreckte sich auf die verschiedensten Bereiche: auf unsere Abonnementkonzerte, in deren Rahmen er 92 Mal auftrat, auf das Neujahrskonzert, das er 1988 und 1991 leitete, auf die Gesellschaft der Musikfreunde, die Wiener Festwochen, die Salzburger Mozartwoche, das Linzer Brucknerhaus …“, schreibt Clemens Hellsberg im Nachruf der Wiener Philharmoniker.

Hinzuzufügen, dass seine Arä in Wien 1991 durch diverse Intrigen ein vor allem für die Stadt wenig rühmliches Ende nahm. „Aller musikalische Glanz half nicht darüber hinweg, dass er und sein Intendant Claus Helmut Drese die unbequemen, also fürs Abonnement falschen Stücke brachten: die für die ewigen Querulanten die Sonne Mozarts, Wagners, Verdis und auch von Strauss trüben konnten. Hinzu kam die Regie: Berghaus, Ronconi, Kupfer, Dresen, Flimm, Kirchner, Bondy, Vitez, Grüber – des Murrens war kein Ende. Entnervt demissionierte Abbado. Der Nachfolger Gustav Mahlers musste feststellen, dass sich seit dem Scheitern seines Vorgängers an der schönen, blauen Donau wenig geändert hat“, schreibt Gerhard R. Koch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
Zum letzten Mal am Dirigentenpult des Hauses am Ring stand er bei einer Vorstellung von „Boris Godunow“ vor zwanzig Jahren: am 30. September 1994. Im Gedenken an ihren ehemaligen Musikdirektor hisst die Wiener Staatsoper die schwarze Flagge und widmet Claudio Abbado am 23. Jänner 2014 die Vorstellung von Boris Godunow.

Die Gründung von Wien Modern

Aber schon 1988 gründete er gemeinsam mit Lothar Knessl, der damals als Pressereferent an der Staatsoper war, das Festival Wien Modern, das endlich die „Luft von anderem Planeten“ in die Stadt brachte. Lothar Knessl, anfänglich der eigentliche „Macher“ des Festivals, führte zum 20-jährigen Bestehen des Festivals 2008 im Falter ein Gespräch mit Abbado über die Anfänge, der damals erzählte:
„Ich dachte, ich sollte mich bei dieser Stadt bedanken für alles, was ich hier gelernt habe, für die Herzlichkeit, die ich hier erlebt habe. Also wollte ich etwas Wichtiges machen. Das war zum einen die Gründung des Gustav Mahler-Jugendorchesters – und zum anderen eben Wien Modern. Wobei anfangs alle gesagt haben, das sei unmöglich. Ich erinnere mich: Helmut Zilk war eine große Hilfe und dann ganz begeistert, weil das Festival gleich so viel Publikum hatte. Einer seiner Mitarbeiter erzählte mir, man habe schon seit vielen Jahren erfolglos versucht, so etwas zu machen, gemeinsam mit mehreren Veranstaltern – und dann kommt ein Italiener und es gelingt. Er hat wohl nicht gewusst, dass der Schwarzenbergplatz wie eine Mauer zwischen Musikverein und Konzerthaus stand. Aber dann waren alle gute Freunde, einschließlich der Staatsoper, und jeder hat mitgearbeitet.“

Die Idee, Komponisten einzuladen, schlug ein: Schon im ersten Jahr war Luigi Nono zu Gast, György Ligeti und György Kurtág (er war überhaupt zum ersten Mal in Wien zu hören) kamen, Pierre Boulez, ein damals junger Komponist namens Wolfgang Rihm. Abbado ermöglichte die Staatsopernproduktion der Oper „Die Blinden“ von Beat Furrer, dirigierte selbst auch Herbert Willis „Froschmäusekrieg“.
Das große Bestreben Abbados war außerdem die Einbeziehung anderer Künste, zu denen man Querverbindungen suchte. 1991, fünf Jahre nach dem Tod des großen sowjetischen Filmregisseurs Andrej Tarkowski, „war es in Wien erstmals möglich“, so Abbado, „sein gesamtes künstlerisches Vermächtnis zu zeigen. Tarkowski als Film- und Opernregisseur, als Dichter, Philosoph, Maler. Ich hatte noch das Glück, bei seiner einzigen Operninszenierung mit ihm zu arbeiten, Mussorgskis ‚Boris Godunow‘ in London, diese Produktion konnte ich dann an die Wiener Staatsoper holen. Und ich habe ein Uraufführungskonzert dirigiert mit Kompositionen, die für ihn geschrieben wurden: Beat Furrers ‚Face de la Chaleur‘, Wolfgang Rihms ‚bildlos/weglos‘, György Kurtágs ‚What is the Word‘, Luigi Nonos ‚No hay caminos hay que caminar‘ …“

„Mit seinem Einsatz für die Neue Musik hat er in Wien unendlich viel bewirkt – in einer Stadt wo die Neue Musik nicht zum Alltag gehört hat“, sagte Musikverein-Chef Thomas Angyan im Gespräch mit der APA vor einigen Tagen. Zuletzt habe er Abbado im Dezember in Bologna besucht. Obwohl Abbados Tod ein „schlimmer Verlust“ für die ganze Musikwelt sei, müsse man es „auch so sehen, dass ihm nach seiner schweren Krankheit im Jahr 2000 noch dreizehn Jahre geschenkt wurden, in denen er uns noch so viel Musik gegeben hat, die uns bleiben wird. Dafür muss man eigentlich dankbar sein.“
Angyans persönliche Freundschaft mit dem Dirigenten geht auf 1979 zurück, als die beiden – Angyan damals noch bei der Jeunesse – erste Planungen für ein Europäisches Jugendorchester aufnahmen. „Da hat eine ganz intensive Freundschaft begonnen, die dazu geführt hat, dass Abbado, Hans Landesmann und ich das Gustav Mahler Jugendorchester gegründet und die ersten zwei Jahre noch rund um den Eisernen Vorhang organisiert haben“, erinnert sich Angyan. „Sie hat auch zum Festival Wien Modern geführt.“

In Wien habe Abbado vor allem durch dieses Festival „eine ganz, ganz wichtige Funktion eingenommen“, im Musikverein sei er auch in seinen Jahren als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker „jede Saison zu Gast“ gewesen „und er hat immer betont, dass das Auftreten im Musikverein für ihn der absolute Höhepunkt war“. Mit dem von ihm gegründeten Orchestra Mozart hatte Abbado erst 2012/13 wieder eine Reihe jährlicher Residenzen begonnen – die zweite wäre für den kommenden Juni geplant gewesen.

Arbeit mit jungen Musikern

Das zweite Wichtige, was Abbado als Künstler und Menschen so auszeichnete, war sein unermüdlicher Einsatz für junge Musikerinnen und Musiker. Daniel Barenboim würdigte Abbados Pionierrolle, da dieser „während seiner gesamten Karriere mit jungen Musikern arbeitete, sie forderte und förderte“.
Ein Kommentator eines Standard-Nachrufs schreibt in seinem Posting:  „In den Erinnerungen von Hans Landesmann ‚Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum‘ (Zsolnay Verlag) blätternd, stößt man auf dieses: ‚Da hatte Abbado eine auf Anhieb faszinierende Idee. Warum sollte man nicht versuchen, hochbegabte junge Menschen aus den Ländern der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie zusammenzuführen und deren Kräfte in einem großen, mitteleuropäischen Symphonieorchester zu bündeln? Diese Kernländer Europas hätten doch eine gemeinsame Tradition, einen ganz spezifischen Klang. … Ein Name für die neue Orchesterinitiative war rasch gefunden. Wer verkörperte besser den zentraleuropäischen Gedanken der ins Auge gefassten Gründung als Gustav Mahler?“. Abbado war also auch „Spiritus rector eines Kulturraums“.

Nachdem Abbado seinen Vertrag in Berlin 1998 kündigte, widmete er sich hauptsächlich der Arbeit mit jungen Musikern. Er gründete mehrere Orchester, so 1978 das European Community Youth Orchestra, 1986 gemeinsam mit Hans Landesmann das Gustav Mahler-Jugendorchester, aus denen 1981 das Chamber Orchestra of Europe bzw. 1997 das Mahler Chamber Orchestra hervorgingen; 2004 gründete er das Orchestra Mozart. Bis zuletzt war er Leiter des von ihm 2003 gegründeten Lucerne Festival Orchestra, das international renommierte Solisten, Kammermusiker und Musikprofessoren rund um die Stammbesetzung aus den Reihen des Mahler Chamber Orchestra vereint.

Trotz Sparmaßnahmen des italienischen Staats und erzwungenen Pausen war der Dirigent noch in diesem Sommer sehr zuversichtlich, was das Orchestra Mozart betrifft: „Das  macht in Bologna jetzt ein Musiktherapieprojekt, Tamino, wobei die Musiker ehrenamtlich in Kindergärten oder Behinderteneinrichtungen gehen. In einem anderen Projekt, Papageno, spielen wir in Gefängnissen. Stellen Sie sich vor, einige Monate nach einem solchen Konzert haben die Häftlinge mir ein Geschenk gemacht: ein Schiff, nur aus Streichhölzern gebaut – aber unglaublich perfekt. Was für ein wunderbares Geschenk! Jetzt haben sie im Gefängnis sogar einen Chor gegründet. Das zeigt doch, dass die Musik etwas verändert hat für diese Menschen in ihrer schrecklichen Situation. Und unsere Planungen für das Kulturzentrum in Bologna gehen auch weiter.“

Für seine Rückkehr an die Mailänder Scala, der Claudio Abbado fast zwei Jahrzehnte lang – auch als Chef – verbunden war, forderte er 2009 keine Gage. Vielmehr sollten die Stadtväter, so Abbados Bedingung, zur Verbesserung der Luftqualität 90.000 Bäume in die Welt setzen. Und als Abbado in Italien zum Senator auf Lebenszeit ernannt wurde, bekundete er, sein Gehalt ausschließlich für Musikerstipendien einsetzen zu wollen. In einem Guardian-Interview im Jahr 2009 formulierte Abbado sein Credo: „Für mich ist Zuhören das Allerwichtigste: einander zuhören, zuhören, was andere Menschen zu sagen haben, auf die Musik hören“.

Heinz Rögl

Foto Claudio Abbado: Orchestra Mozart