Es gibt Dinge, die werden immer größer und größer, bis sie irgendwann den vorgegebenen Rahmen sprengen und der Punkt erreicht ist, an dem man umdenken muss. So geschehen bei „Bestiario“, Angelica Castellos letztem Album, das zugleich ihr erstes als Solo-Künstlerin und Komponistin ist. In unterschiedlichsten Formationen – etwa im Duo mit Billy Roisz oder mit Thomas Grill, Maja Osojnik, und Matija Schellander im „Low Frequenzy Orchestra“ – trat sie bis dahin als Interpretin an der Flöte und anderen Instrumenten (Recorders, Devices) in Erscheinung, ein eigenes Album allerdings, das sie als Solo-Künstlerin vorstellt, erschien ihr nie wichtig. „Zum einen, weil ich dachte, das braucht ohnehin niemand. Zum anderen aber war es auch eine ganz bewusste Haltung, die ich einnahm“, erzählt die gebürtige Mexikanerin, die in Wien längst eine zweite, dauerhafte Heimat gefunden hat. Doch Meinungen sind dazu da, um geändert zu werden: Als das erste Album des Low Frequenzy Orchestras herauskam und sie hautnah erfuhr, was es bedeutet ein Album zu machen, wurde diese Haltung nachhaltig erschüttert. Weitere Alben, an denen sie mitwirkte, folgten, und irgendwann wollte sie auch für sich selbst, für ihre ganz persönliche Kunst, eine derartige Momentaufnahme. Ein Dokument also, das eine ganz bestimmte Phase des Lebens abbildet.
Als dann das in Polen beheimatete Avantgarde-Label Monotype Records an sie heran trat und fragte, ob sie nicht eine Kassette (für eine Mini-Auflage von 75 Stück) aufnehmen wolle, war der Moment gekommen, sich endgültig von der Verweigerungshaltung zu verabschieden. „Warum nicht dachte ich und sagte zu.“ Das Projekt aber, die Arbeit an einzelnen Tracks, wurde immer intensiver, die Stücke selber uferten aus. Und so wurde die Kassette verschoben und ein Album gemacht. Das dunkle, das monolithische „Bestiario“. Trotz ihrer Abstraktheit erzählen die auf ihm versammelten sieben Stücke allesamt Geschichten, verarbeiten persönliche Erfahrungen.
Abstraktion und Narration – wie passt das zusammen? Ganz einfach: Zum einen ist die Abstraktion die einzige Form, in der sich Castello musikalisch ausdrücken kann, ausdrücken will. Ähnlich wie bei einem Gedicht aber soll der Rezipient die Tiefe der Gefühle spüren, auch wenn er dabei etwas völlig anderes verstehen kann als Castello selbst oder jeder erdenkliche andere Rezipient. „Die Ausgangsidee ist nicht mehr wichtig“, meint Castello. „Unterschiedliche Interpretationen wären geradezu ideal.“
Castello liebt es also, konkrete Geschichten zu verarbeiten. Wie etwa die Erfahrungen, die sie als Kind machte, als sie – mit ihren Eltern und Geschwistern auf dem Weg nach Acapulco – nach langem Schlaf im Auto in einer mexikanischen Autobahnraststätte erwachte. „Du wachst auf und bist plötzlich an diesem fremden, völlig trashigen Ort: Beton, Schmutz, betrunkene Leute. Um eine Glühbirne kreisen Millionen von Insekten. Und inmitten dieses traumartigen Szenarios sitzt eine riesige Kröte und glotzt dich an.“ Ein Gemälde wie von Hopper erdacht, das sich ideal dafür eignet, eine dieser intensiven musikalischen Stimmungen zu erzeugen, auf die sich Castello spezialisiert hat. Die Erfahrungen, die verarbeitet wurden, sind auf „Bestiario“ immer spürbar, auch ohne dass man den konkreten Hintergrund kennt: Etwa in La Fontaine 1 und 2, in denen es um die bekannte Fabel der faulen Zikade und der emsigen Ameise geht. Oder in „Louise“, das ihre Liebe für die Künstlerin Louise Bourgeois verhandelt. „Ich war Jahre lang besessen von ihr“, erzählt sie. Im Stück selbst geht es um das Unheimliche und Erschreckende. Die Partitur folgt der Struktur einer Spinne. Die Flötenklänge mischen sich mit Field Recordings aus einer Kirche in Yucatan. „Wie viele andere Mexikaner auch habe ich eine zwiespältige Beziehung zur katholischen Welt“, sagt sie. Die Angst vor der Übermutter könnte als Thema nicht passender sein, um diese Ambivalenz künstlerisch zu verarbeiten.
„Kunst ist Manipulation ohne jedwede Intervention“, sagte Bourgeois einmal. Gilt das auch für Castello selbst und ihre Kunst? „Idealerweise ja“, sagt sie spontan mit einem Lächeln im Gesicht. „Das heißt, wenn ich sie richtig verstehe“ lenkt sie ein. „Du hast ein Ding, und entweder wirkt es oder es wirkt nicht.“
Sie selbst sei kein Mensch, der viel bestimmen will. „Die Klänge suchen sich oft selbst ihren Weg.“ Auch wenn es Understatement ist: Castello geht davon aus, dass sich ihre Arbeit im Schaffen eines bestimmten Settings erschöpft. Dafür zapft sie verschiedene Klangquellen an. Die Konstante sind ihre Flöten – von Herbert Petzold gefertigte Hybride zwischen Blockflöte und Orgelpfeife – die sie auf die unterschiedlichsten Arten zu spielen pflegt, immer aber intuitiv wie beim Erschaffen einer Skulptur. „Die Sachen stehen für sich.“
Eine eigene Klangsprache allerdings sucht sie nicht; „ich bewundere Leute wie Fennesz und Hautzinger, die ihren ganz eigenen Klang gefunden haben. Aber mein Ziel liegt woanders.“ Wenngleich sie an ein fixes Instrumentarium gebunden ist, das nur ein bestimmtes, wieder erkennbares Klangspektrum zur Verfügung hat: „Mich interessieren Situationen, in denen man sich befindet. Wenn man mich hört, soll das genau gerade nichts mit meiner Person zu tun haben.“
„Bestiario“ fungiert gewissermaßen auch als Startschuss für weitere Solo-Projekte. „Lange habe ich mich gegen das Aufnehmen von Alben gesperrt, jetzt macht es richtig Spaß.“ Weitere Labels haben seitdem angefragt, weitere Alben werden folgen, was nicht heißt, dass sie nicht auch ihre zahlreichen Kooperationen und Kollaborationen mit anderen Künstlern fortsetzen wird.
Ihre gemeinsame Arbeit mit Billy Roisz etwa, die wohl über die Jahre zu so etwas wie ihrem musikalischen Lebensmenschen geworden ist. Die Resultate, welche die beiden erzielen, bezeichnet sie selbst als „nicht schön“. Damit meint sie, dass die Improvisation experimentell und roh ist. „Dunkel, noisig, tief“ sei das. Und selbst die Videos, die Roisz zu den Live-Improvisationen, die sie zuletzt im Rahmen einer gemeinsamen Tournee auch quer durch Südamerika führten, einspielt, seien nicht so stilisiert wie ihre sonstigen Werke, sondern vielmehr eine Art „Action Painting“ . Die erzeugten Klänge würden einfach in den Video-Mixer eingespeist. Was dabei rauskommt, wird wie zufällig auf die Wand geworfen. Analog und schmutzig. Die Musik, improvisiert. Das Bild, ein Abfallsprodukt des Zufalls.
Oder auch das mit ihrem Lebensgefährten, dem Ausnahme-Gitarrist Burkhard Stangl, betriebene Projekt „Chesterfield“, dessen spröder Charme immer auch wieder live in und rund um Wien zu bewundern ist. Ein anderes Projekt, das ihr sehr am Herzen liegt, ist das gemeinsam mit Stangl und Martin Siewert betriebene Projekt zur Dekonstruktion von Liebesliedern aus den 1950er Jahren, in dem sie als „la doctora corazon“ für den Kitsch zuständig ist. „Den Kitsch in meiner Musik auszuleben traue ich mich immer mehr.“ Kitsch, der hierzulande ja unter strenger Quarantäne steht, begegnet sie schon allein aufgrund ihrer Herkunft ungleich offener. In Mexiko erfreuen sich die Leute einfach am Kitsch. Er ist der „Cheap Thrill“, der alle glücklich mache. Aber nicht nur die Herkunft, auch ihre Ausbildung hat den Weg für einen vorurteilsfreien Umgang geebnet. Die Auseinandersetzung mit Barockmusik, die man im Zuge der Ausbildung zur Flötistin pflegt, sei zutiefst nostalgisch und sentimental, meint sie.
Alles andere als nostalgisch ist ihre aufopfernde Arbeit als Veranstalterin für Neue Musik in der Kirche St. Ruprecht (www.neue-musik.at). Nachdem neue, experimentelle Musik oft in Bars stattfände, wollte Castello einen anderen, einen würdigen Ort, an dem Musik im Sitzen konsumiert werden könne, etablieren, an dem sich verschiedene Generationen treffen und einen offenen Diskurs über Musik führen können. Dass eine Kirche zum Austragungsort wurde, ist alles andere als Zufall. „Das wollte ich unbedingt.“ Der organisatorische Aufwand sei zwar hoch, der Spaß und die Qualität des dargebotenen rechtfertigten ihn aber. Heuer wurde der organisierende Verein aufgestockt und damit auf ein noch solideres Fundament gestellt. Und irgendwann in ferner Zukunft will sich Castello dann aus der Organisation verabschieden. Das Projekt aber soll dann so eigenständig und nachhaltig sein, dass es auch ohne sie weitergeführt werden kann. (MD)
Foto Angelica Castello 2: Oliver Hangl
Foto Angelica Castello 1: David Murobi
http://castello.klingt.org