Begeistert vom wunderbaren Wahnsinn. In der Oper „Wind“ von Alexander Moosbrugger spielen Orgelpfeifen Hauptrollen

Mit einem ganz besonderen Opernprojekt warten die Bregenzer Festspiele im Sommer 2021 auf. Im Rahmen des zweiten Opernateliers hat der aus dem Bregenzerwald stammende Komponist und Organist ALEXANDER MOOSBRUGGER während eines vierjährigen Entstehungsprozesses seine erste Oper „Wind“ komponiert. Fünf Einblicke in das Opernatelier haben die Werkentstehung begleitet und ließen bereits erahnen, dass hier etwas ganz Außergewöhnliches entsteht und zu erleben sein wird.

Die Vorlage für seine Oper fand Alexander Moosbrugger in einem Kunstwerk der Renaissancezeit. Vor fünfhundert Jahren schrieb Francesco Colonna das Aufsehen erregende Buch „Hypnerotomachia Poliphili“. Kunstvoll erzählt er darin die Liebesgeschichte von Polia und Poliphilo. Ein Traum in einem Traum führt auf vielen assoziativen Wegen in einer kunstvollen Sprache durch Naturgeschichten, philosophische Gedankenspiele, Proportionsrätsel, Architekturbeschreibungen und Gleichnisse. Genau 172 Holzschnitte illustrieren und deuten die vielgestaltigen Fantasiewelten.

Zwischen Wachsein und Traum

Eine bedeutende Inspiration für Alexander Moosbruggers Oper war der besondere Bewusstseinszustand, in den wir kommen, wenn wir einschlafen beziehungsweise uns um Schlaf bemühen. In diesen Schlafphasen finden Träume statt und in diese Sphäre zwischen Wachsein und Schlaf tritt der Komponist Alexander Moosbrugger in der Oper „Wind“ mit vielgestaltigen musikalisch-bildnerischen Assoziationsfeldern ein. Auf unterschiedlichen Erzählebenen finden Begegnungen statt und werden Bilder aus der berühmten Vorlage künstlerisch „angetippt“.

Die Sopranistin Hanna Herfurtner und der Countertenor Hagen Matzeit, der zugleich auch Bariton singt, verkörpern die Rollen der Polia und des Poliphilo. Ihnen zur Seite fungieren eine Erzählerin und ein Erzähler, die wiederum mit zugespielten Stimmen perspektivisch verwoben und schließlich zum Alter Ego der Polia und des Poliphilo werden.

Komponist und Orgelbauer

Der Clou der Oper „Wind“ bildet ein extra für dieses Projekt erbautes, raumgreifendes Orgel-Instrument. Alexander Moosbrugger und der Chef der weltweit renommierten Orgelbaufirma Rieger, Wendelin Eberle, sind seit vielen Jahren befreundet und schätzen die Arbeit des jeweils anderen. Es ist ein Glücksfall, dass Wendelin Eberle über viel Forschergeist und eine ausgeprägte künstlerische Ader verfügt. Bereits für eine Klanginstallation im Bregenzer Künstlerhaus Palais Thurn & Taxis vor zwanzig Jahren wirkten die beiden zusammen. Damals kam eine riesige 32‘ Orgelpfeife zum Einsatz, die nun wieder eine darstellende Rolle in der Oper „Wind“ spielen wird. „Ich kenne Alexander seit langem sehr gut und wir sind seit vielen Jahren befreundet. Immer wieder einmal ist er mit Gedanken auf uns zugekommen und umgekehrt auch“, erzählt Wendelin Eberle von der ersten Ideenfindung. „Insofern war es nicht so überraschend für mich, sondern ein weiterer Austausch von Gedanken als mir Alexander seine Ideen vorgestellt hat. Schrittweise sind die Pläne für ein Orgelinstrument aktueller geworden und es hat sich herauskristallisiert, dass das Projekt in irgendeiner Art realisiert wird. Ich habe mich ziemlich spontan bereit erklärt, hier mitzumachen. Dann hat es Treffen mit den Verantwortlichen bei den Bregenzer Festspielen und Flaka Haliti, die den Raum gestaltet, gegeben und das Werk ist nach und nach gewachsen.“

Ein raumgreifendes Instrument für die Werkstattbühne

Aus dem Bestand an Orgelpfeifen, die im Firmengebäude in Schwarzach gelagert sind, wurde ein aus 172 Orgelpfeifen bestehendes Instrument gebaut, das in der Oper „Wind“ eine Hauptrolle spielen wird. Im Tonumfang decken die Holz- und Metallpfeifen den gesamten Hörbereich ab. Jede einzelne Pfeife verfügt über ein elektronisch gesteuertes Ventilsystem, das es ermöglicht, den gesamten Einschwingvorgang, von den ersten Luftbewegungen über den Einschwingvorgang und den Übergang von den Windgeräuschen bis zum Ton der Pfeife kreativ zu gestalten, zu manipulieren und damit zu komponieren. In enger Zusammenarbeit mit Thomas Hummel vom SWR Experimentalstudio Stuttgart wurde ein spezifisches Orgelinstrument mit innovativer Technik gebaut.

opernatelier 3, rieger orgelbau in schwarzach, bregenzer festspiele, (c) anja koehler | andereart.de

Ausgeklügelte Elektronik macht bisher Ungehörtes hörbar

All die Technik spielt sich jedoch nie im Vordergrund ab, sondern sie schafft die Grundlage und ermöglicht bislang nicht gehörte Tongebungen mit Orgelpfeifen, räumliche Hörerlebnisse und ganz spezielle musikalische Raumwahrnehmungen. Die Orgelpfeifeninstallation stellt nämlich zugleich den Bühnenraum dar, flankiert von den Zuschauerinnen und Zuschauern, die in den musikalischen Erlebnisraum integriert sind.

Jede der 172 Pfeifen, in Analogie zu den im Buch von Colonna abgedruckten 172 Holzschnitten, wird ihren spezifischen Klangcharakter ausspielen. Die Sängerin und der Sänger treten in Interaktion mit den Pfeifen und der ganze Bühnenraum wird musikalisch vermessen. Mitunter wandert oder flitzt der Klang durch den Raum. Von jeder Position aus haben die Zuhörenden ein individuelles Hörerlebnis. Das räumliche Hören werde sicher besonders spannend, unterstreicht Wendelin Eberle, „denn die Schallquelle kommt nicht nur aus einer Richtung, vielmehr bin ich als Zuhörer von Klängen umgeben.“ Der Bühnenraum und die riesigen Pfeifen seien imposant für das Auge, aber auch das, was die Kleinen klanglich zu bieten hätten, dürfe man nicht unterschätzen, ergänzt Alexander Moosbrugger.

Träume eröffnen viele Erzählperspektiven

Die Geschichte aus Poliphilos Traum soll sich in der Fantasie der Zuhörenden durch sinnliche Wahrnehmungen, aus visuellen Ideen, Allegorien und fantasievollen „Quergedanken“ entfalten. Neben der Sängerin und dem Sänger als Protagonisten, den Sprechrollen und den Orgelpfeifen gestalten das Quatuor Diotima sowie das KlangForum Heidelberg mit Mezzosopran, Alt und Bariton die Musik der fantasiereichen Geschichte. In vielgestaltigen Verwebungen treten die Vokal- und Instrumentalparts zueinander in Beziehung. Musik der Renaissance in der Transformation von Alexander Moosbrugger sowie eigene Tonsysteme dienen unter anderem als Grundlage für das musikalische Geschehen. In einer Szene erklingt eine Invention, in der die Sopranistin mit den Orgelpfeifen interagiert. Eher rezitativisch bildet das Streichquartett Resonanzräume aus, die die Träume des Poliphilo musikalisch ausdeuten.

Hochmusikalische Sprache

Bereits die Buchvorlage von Francesco Colonna zeichnet sich durch eine hochmusikalische Sprache aus. Viele Passagen, insbesondere in der englischen Übersetzung, hätten eine wunderbare Vokalabfolge und eine Sprachrhythmik, die für sich selbst schon Musik seien, erzählt Alexander Moosbrugger. Die Sprache im Buch ist mehrdeutig. Auch in der Oper „Wind“ werden in mehreren Sprachen verschiedene Dinge erzählt, so gibt es eine Sprache für die Architektur, eine Sprache für die Liebe, eine Sprache für die Vermessung und eine Sprache für psychologische Einschätzungen.

Eine bildende Künstlerin gestaltet den Bühnenraum

Colonnas „Hypnerotomachia Poliphili“ beinhaltet auch zahlreiche, sehr detaillierte Architekturbeschreibungen. Musik und Architektur sind enge Verwandte und der Spruch, Architektur sei gefrorene Musik, wurde zu einer berühmten Metapher. Räumliche Unterteilungen, die einen Raum erschließen, bieten auch Alexander Moosbrugger Anhaltspunkte für seine musikalischen Gestalten. Diese werden auch optisch erlebbar, beispielsweise in den sechszehn Inseln, die mit Orgelpfeifen bestückt sind. Für die Raumgestaltung der Oper „Wind“ zeichnet die bildende Künstlerin Flaka Haliti verantwortlich. Sie ließ sich von den Geschichten und insbesondere von den Holzschnitten inspirieren. Für die Zuhörenden sollen Räume geschaffen werden, die sinnliche Wahrnehmungen gewähren, zu eigenen Assoziationen anregen und in fantasiereiche Hörerlebniswelten führen.

Bislang ein singuläres Ereignis

Ein derartiges Bühnenwerk, bei dem ein Orgelinstrument sowohl den musikalischen als auch den Bühnenraum und das Auditorium mit einbezieht und überdies als wichtiger Protagonist mitwirkt, ist einzigartig. Schade wäre, wenn die Oper „Wind“ nach der Uraufführung in Bregenz ein Solitär bleiben müsste und nicht auf weiteren internationalen Bühnen gezeigt würde, weil keine Folgeaufführungen zustande kommen. Bislang konnten keine Kooperationspartner gewonnen werden. Alexander Moosbrugger ist überzeugt davon, dass das Orgelinstrument auch als „Stand-alone-Projekt“ überzeugen könnte.

Silvia Thurner

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur, im Juli 2021 erschienen.

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Termin:
Donnerstag, 19. August 2021

Bregenzer Festspiele, Werkstattbühne, 20 Uhr
Alexander Moosbrugger: „Wind“, Oper, Uraufführung
Text vom Komponisten nach Francesco Colonnas „Hypnerotomachia Poliphili“
Opernatelier in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Bregenz

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Links:
Alexander Moosbrugger
Alexander Moosbrugger (Musikdokumentation Vorarlberg)
Alexander Moosbrugger (music austria Datenbank)
Bregenzer Festspiele