mica-Interview mit Wolfram Wagner

Metrische Konstruktionen gehören für Wolfram Wagner ebenso zum Ausgangspunkt von Werken wie auch die sagenumwobene musikalische Idee. Aufgeführt werden seine Kompositionen dank ihrer Zugänglichkeit nicht primär in Konzerten mit Neuer Musik, sondern auch in Kombination mit klassischen Werken. Eines seiner Werke ist auf der CD “Neue Kammermusik aus Niederösterreich” zu finden und zeugt von ebendieser Eingängigkeit. Über sein Verständnis von Neuer Musik, Tonalität und Atonalität sprach er mit Lena Dražić.

Ich würde gerne ein bisschen in der Zeit zurückgehen und bei deiner Ausbildung anfangen. Du hast bei vier verschiedenen Lehrern studiert – bei Erich Urbanner hier an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst …

… bei Urbanner habe ich mein Diplom gemacht, bei Francis Burt war ich dann noch ein oder zwei Jahre lang Gasthörer …

… und dann warst du in London bei Robert Saxton.

Der ist mir von Francis Burt empfohlen worden. Ich wollte in ein fremdsprachiges Land, und da ich außer Deutsch leider nur Englisch kann, war England naheliegend. Damals waren zwei Lehrer hoch im Kurs – Robin Holloway in Cambridge und Robert Saxton in London. Da hat mich London einfach als Stadt mehr interessiert. Dort habe ich ein Postgraduate-Studium gemacht, und in Frankfurt bei Hans Zender noch ein Seminar als Gasthörer. Das war sehr interessant – Zender ist ein Vielwisser, er weiß auch, wie indische Ragas gestimmt sind usw. Er ist ein Kompendium, das merkt man auch seiner Musik an.

War es wichtig für dich, dass das sehr unterschiedliche Komponisten waren, die wiederum ganz verschiedene Ausbildungswege und Einflüsse haben, oder war das eher Zufall?

Wirklich Zufall war nur Erich Urbanner. Ich hatte mich als 16-Jähriger bei Alfred Uhl vorstellig gemacht, der mir sehr ans Herz gelegt hat, Komposition zu studieren, weil ich damals schon recht fleißig komponiert habe. Aber als ich dann die Aufnahmeprüfung gemacht habe, hat er keine neuen Studenten mehr genommen. Da wurde ich Urbanner zugeteilt, was ein großer Glücksfall war, weil er wirklich einer der besten Lehrer ist, die man sich vorstellen kann. Ansonsten habe ich mir immer Lehrer gesucht, die mir interessant schienen, die aber nicht so komponiert haben, wie ich komponieren wollte –das wäre mir blöd vorgekommen. Ich habe mich als Student stilistisch sehr vielfältig betätigt. Ich habe klassizistische, aber auch ganz moderne Stücke geschrieben, die dem damaligen Stand der Zeit entsprochen haben. Man will sich ja messen am Grad der Moderne, das war natürlich auch bei Urbanner sehr präsent. Allerdings hat das dann nach dem Studium ganz aufgehört. Als ich zu komponieren begonnen habe, als 13-, 14-Jähriger, war das zum einen aus Spaß, aber auch ein bisschen aus der Idee heraus, dass ich eigentlich nicht in diesem modernen Sinn komponieren möchte – ich habe da in mir eine gewisse Opposition gespürt. Ich habe mir das – die Wiener Schule und die Folgen – zwar gern und mit Interesse angehört, aber ich habe trotzdem gedacht, so möchte ich eigentlich nicht komponieren. Im Laufe des Studiums ist dieser Gedanke verloren gegangen, aber nach dem Studium und auch jetzt war bzw. ist er wieder ganz aktuell. Meine Latte ist nicht die Modernität, sondern – wenn schon – die Originalität. Ich möchte keine Stilkopien schreiben, aber eben auch keine Stilkopien der gängigen Moderne. Als Komponist freue ich mich, dass sich Leute, die gerne moderne Musik hören, auch für meine Musik interessieren. Genauso freue ich mich aber, dass meine Stücke in  „klassischen“ Konzerten sogar noch mehr aufgeführt werden als in Konzerten mit moderner Musik (wenn man das so schlagwortartig sagen kann), und dass Leute, die Barock, Klassik und Romantik schätzen, auch meine Stücke schätzen. Ich bin aber sehr froh, dass es Komponisten gibt, die sich immer an der Spitze der „Avantgarde“ befinden – ich weiß, den Begriff gibt’s heute nicht mehr in der Form, aber ich sag’s jetzt einfach so – und dass sie’s gut machen.

Du bist einfach für Pluralität.

Beim Musikhören auf jeden Fall, weil mich vieles fasziniert. Beim Schreiben ist es etwas anders. Ich sehe mich nicht als jemanden, der verschiedene Stile mischt – einem Stück liegt eine Idee zugrunde, und die muss verfolgt werden. Was dabei herauskommt, hängt nicht vom Stil, sondern von der Idee ab.

Sind das bei dir außermusikalische Ideen?

Das können durchaus auch außermusikalische Ideen sein, aber bei ungefähr 90 Prozent der Stücke – außer wenn ein Text dabei ist – denke ich nicht an außermusikalische Dinge, sondern gehe von Ideen aus, die man als rein abstrakte, musikalische beschreiben könnte.

Das heißt, der ominöse „Einfall“ …

Richtig. Das können melodische oder rhythmische Einfälle sein, es können aber auch Konstruktionsmechanismen sein.

Deine Stücke sind ja oft sehr rational durchorganisiert und basieren teilweise auf mathematischen Prinzipien. Ist dir das wichtig, damit es nicht in Beliebigkeit kippt?

Es hat damit zu tun. Ich habe Stücke geschrieben, in denen ich frei vor mich hin fantasiere, ganz assoziativ, und andere Stücke, die streng einem Konzept folgen. Wenn ich ein Konzept aufstelle, befolge ich es auch – ich bin nicht der Typ, der ein Konzept aufstellt, um es zu brechen. Wenn eine mathematische oder metrische Konstruktion im Hintergrund steht, dann setze ich sie auch um. Das freie Fantasieren hat den Vorteil, dass ein Stück sehr spontan klingen kann, bringt aber die Gefahr mit sich, dass es beliebig klingen kann – das will ich natürlich vermeiden. Ich will nicht, dass man sich ein Stück anhört und sagt: Ja, klingt hübsch, aber man hätte es auch anders machen können. Ich weiß, dass man jedes Stück in jedem Moment auch anders machen kann, aber es soll sich doch hinterher das Gefühl einstellen: Ja, das war so, wie’s sein soll. Ich habe mich ziemlich viel damit befasst, ich habe auch den Gedanken verfolgt, ob es in der Musik so etwas Ähnliches geben kann wie in der Mathematik – A ist größer als B und B ist größer als C, daraus folgt: A ist größer als C.

Es gibt ja den Begriff der musikalischen Logik.

Ja, richtig. Aber die mathematische Logik kann nur eine Aussage zulassen. In der Musik gibt es hingegen Stücke – zum Beispiel die „Jupiter-Symphonie“ oder eine Bach-Fuge – wo man sich am Ende auch denkt, das geht nicht anders. Das ist aber der große Trugschluss – eine Bach-Fuge könnte in jedem Moment auch anders weitergehen. Es gibt in der Musik diesen 100-prozentigen Schluss nicht. Wenn ich Konstruktionen verwende, dann am liebsten solche, die Spontaneität nicht ausschließen. Ich liebe Konstruktionen, die mir erlauben, in jedem Moment jeden beliebigen Ton zu setzen, ohne die Konstruktion zu unterbrechen.

Kannst du ein Beispiel für so eine Konstruktion geben?

Ich liebe z. B. metrische Konstruktionen: wenn man verschiedene Zyklen übereinanderlegt, einen Zweier- und einen Dreierzyklus beispielsweise, und darüber noch einen Fünferzyklus. Der Zweier- und der Dreierzyklus treffen häufig aufeinander. Dass der Fünferzyklus den Dreier- und den Zweierzyklus zugleich trifft, passiert relativ selten.
Diese Zyklen müssen für das Publikum einwandfrei wahrnehmbar sein.

In deiner Familie gibt es ja viele MusikerInnen – deine Frau ist Cellistin, und auch deine Kinder spielen Instrumente.

Das stimmt. Ich komme zwar selbst aus keiner MusikerInnenfamilie, aber ich habe eine Musikerin geheiratet, und meine Kinder spielen auch Instrumente. Mein Sohn Dominik spielt sogar wirklich gut Kontrabass, der ist mit seinen 15 Jahren schon auf der Uni.

Du wirst mit deiner Frau und deine beiden Kinder im November im Naturhistorischen Museum ein Flötenquartett von dir uraufführen.

Ja, darauf freue ich mich schon. Wir haben auch in der Vergangenheit öfter zusammengespielt, aber das hier wird ein richtig professionelles Konzert, da müssen sich die Kinder auch nicht genieren. Einige Komponisten haben dafür etwas geschrieben – Herwig Reiter, Akos Banlaky und ich. Ich mag die Musik von Banlaky und von Reiter – das sind Komponisten, die eine Musik schreiben, die ohne Umschweife zum Hörer findet …

Wie geht’s dir denn mit dem Begriff der „Neuen Musik“? Das ist ja ein Terminus, der durch Entwicklungen im frühen 20. Jahrhundert geprägt ist, die als Bruch mit der Tradition empfunden wurden – vor allem der Verzicht auf die Tonalität –, auch wenn sie nicht immer so gedacht waren. Kannst du in Bezug auf das, was du machst, mit diesem Begriff etwas anfangen, oder ist das eher ein Konzept, von dem du dich abgrenzt?

Na ja, die Neue Musik in diesem Sinne – als fortschrittliche Musik – hat im 20. Jahrhundert das Musikleben enorm weitergebracht. Das hat mich schon als Jugendlicher total fasziniert, es schreckt aber natürlich auch viele ab. Wenn etwas schräg klingt, erfordert das eben eine gewisse Offenheit von den ZuhörerInnen …

Es gibt auch KomponistInnen, die sagen, sie sehen die Neue Musik als Irrweg. Manche meinen, sie sei nicht mehr verständlich, nicht mehr emotional nachvollziehbar …

Es stimmt, vieles ist nicht mehr verständlich und emotional nachvollziehbar, es gibt auch bessere und schlechtere Stücke – aber als Irrweg würde ich die Neue Musik insgesamt nicht bezeichnen. Ein Komponist von heute hat alle Mittel zur Verfügung – ich kann einen Einzelton, einen Dreiklang, einen Cluster oder verschobene Zwölftonakkorde verwenden, je nachdem, wie es die Idee des Stückes erfordert. In diesem Sinne hat die Neue Musik des 20. und auch des 21. Jahrhunderts Enormes bewirkt. Aber andererseits glaube ich nicht, dass ich als Komponist zeitgenössischer Musik verpflichtet bin, diese Tradition fortzusetzen. Es hat immer auch andere Traditionen gegeben: Zur Zeit, als in Wien Schönberg und seine Schule operiert haben, gab es in Paris ganz andere Musik. Milhaud, Poulenc …

… Les Six …

… auch Strawinski natürlich. Das ist genauso wichtige Musik.

Wie wichtig ist denn für dich die Bezugnahme auf alte Formen, etwa den Kanon, oder auf Formen der Klassik – du schreibst ja auch Sonaten?

Ich benenne meine Stücke meistens nach klassischen Formen, weil mir nichts Anderes einfällt. Wenn ich ein Klavierstück schreibe, nenne ich es einfach Sonate oder Fantasie – meine Kreativität geht mehr in die Noten als in die Titel. Aber ich liebe es, mit Konstruktionsprinzipien – beispielsweise mit Kanons – zu arbeiten, die dann manchmal auch im Titel vorkommen. Wenn ich ein Stück „Kanon“ nenne, ist es also wirklich ein Kanon. Aber für viele Kompositionsmechanismen, die ich verwende, gibt es keinen Namen – dann schreibe ich eben „Sonate“,„Trio“ oder „Quartett“.

Gibt es Perioden in der Musikgeschichte, die für dich als Einfluss besonders wichtig sind?

Eigentlich alle. Wenig habe ich mich mit der Musik des Mittelalters befasst. Mit der Musik der Renaissance hingegen habe ich mich unter anderem aus beruflichen Gründen intensiv befasst – die Idee, möglichst schöne Linien zu erfinden, die sich so gut ergänzen, ist schon etwas Tolles. Auch die Barockmusik – beispielsweise eine Bach-Fuge oder ein Brandenburgisches Konzert – ist für mich genauso wertvoll wie die Klassik oder die Romantik. Ich bekenne mich dazu: Ich liebe die Romantik, vielleicht sogar am meisten. Bei der Moderne bin ich selektiver: Ich interessiere mich zwar für alles, aber nicht alles liebe ich auch. Ich liebe ein Werk wie das dritte Klavierkonzert von Bartók, aber „Le Marteau sans maître“ liebe ich überhaupt nicht. Selbst „Pierrot Lunaire“ liebe ich nicht.

In deinem Komponieren gibt es keine Tonalität im funktionsharmonisch-traditionellen Sinne, aber es gibt sehr wohl zentrale Töne und Akkorde …

Viele meiner Stücke sind ganz streng tonal, wahrscheinlich strenger als ein Bruckner. Tonal in dem Sinne, dass die Tonhöhen auf ein tonales Zentrum beziehbar sind. Es gibt sicher Stücke von mir, über die sich jeder Schenkerianer freuen würde. Ich habe aber auch Stücke geschrieben, die dezidiert atonal sind, und es kann ohne weiteres sein, dass ein Satz tonal ist und der andere atonal, aber nur, wenn die Idee des Stückes es erfordert. Tonalität ist eine Möglichkeit, Tonhöhenbeziehungen zu schaffen, die wirklich hörbar sind – wo ich auch höre, wenn ein Ton einen Halbton höher ist als ein Ton fünf Takte früher. Wenn hingegen in einem atonalen Stück ein g vorkommt und fünf Takte später ein as, wird dir das nicht bewusst werden. So gesehen sind meine Stücke streng tonal, aber nicht in dem Sinne, dass sie klassische, barocke oder romantische Floskeln verwenden. Jede Zeit hat bestimmte tonale Formeln ausgeprägt, z. B. Kadenzen – das heißt aber nicht, dass ich sie verwenden muss. Ich versuche das zu vermeiden, weil es sonst sehr schnell in Richtung einer Stilkopie geht. Ich hoffe, an meinen Stücken ist zu sehen, dass man streng tonal komponieren kann, ohne etwas zu kopieren. Tonalität ist ein wahnsinnig weites Feld – es hat geheißen, alles ist schon verbraucht, aber das stimmt nicht. Atonalität ist sehr schnell verbraucht: Wenn etwas atonal ist, dann ist es atonal.

Na ja, das würde ich jetzt so nicht stehenlassen …

In Bezug auf die Tonalität, meine ich – entweder es gibt ein tonales Zentrum, oder es gibt keines. Natürlich kann sich Atonalität in verschiedenen klanglichen Facetten ausdrücken –man kann atonal in Dreiklängen oder in Clustern schreiben –, aber im Prinzip ist es atonal. Wenn man hingegen die Tonalität von Bach mit der von Brahms oder der von Brubeck vergleicht, ist das zwar alles streng tonale Musik, die aber ganz unterschiedlich klingt. Tonal heißt ja, dass ein Ton auskomponiert wird. In einer C-Dur-Symphonie von Mozart geht’s beispielsweise um den Ton C, und wenn dann ein fis-Moll-Dreiklang vorkommt, steht der mit dem Ton C in irgendeiner Verbindung. In diesem Sinne kann man auch heute völlig tonal schreiben – auch in meinen tonalsten Stücke kommen oft tatsächlich aus 12 Tönen bestehende Cluster vor, aber jeder dieser Töne ist das Produkt der Idee, einen Ton zu manifestieren. Das hat einfach den Vorteil, dass die ZuhörerInnen diese einzelnen Töne mit Bezug aufeinander wahrnehmen können, denn davon leben wir. Wir würden keine Musik hören, wenn wir nicht Bezüge zwischen den Tönen herstellen könnten. Diese Erinnerungsfähigkeit daran, was vorher war, macht das Musikerfahren aus. Das ist nicht nur für die Musik von Belang, sondern für die Art und Weise, wie wir durchs Leben gehen: dass wir die Gegenwart mit dem verbinden, was vergangen ist und mit dem, was kommen wird. Darauf sind wir konditioniert, weil wir nur so überleben können. Kunst ist in diesem Sinne nichts anderes als ein Trainieren der Sinne. Dieses Verknüpfen ist es, was Kunst ausmacht: dass z. B. in der Musik die Konstruktion für die Hörenden erkennbar wird. Wenn damit auch noch ein emotionales Erleben verbunden ist – umso besser. Das emotionale Erleben ist das, was in manchen Musikrichtungen, wo man den Fokus zu sehr auf die Konstruktion gelegt hat, ein bisschen unterschätzt wurde.

Ich möchte noch einmal auf aktuelle Projekte von dir zu sprechen kommen. Du schreibst etwas für die Passionsspiele Erl 2013 – was dürfen wir da erwarten?

Das ist eine sehr interessante Aufgabenstellung. In Erl spielen sie seit den 70er Jahren immer eine Passion mit Musik von Cesar Bresgen. Für die Passion 2008 wurde ein neuer Text verfasst, und da haben sie gesagt, jetzt brauchen wir auch eine neue Musik. Da wurde ich gefragt, ob ich die Musik schreiben will, und das habe ich natürlich gerne gemacht. Und jetzt haben sie einen neuen Regisseur, der Felix Mitterer gefragt hat, ob er nicht einen Text schreiben will. Der hat das auch getan, und jetzt brauchen sie eben wieder eine neue Musik. Und das Interessante an der Aufgabenstellung ist, dass die Musik von den dortigen Kräften aufführbar sein muss. Der einzige Profi ist der Organist, alle anderen sind Laien. Ich schreibe gern für Laien. Weil ich im Grinzinger Kirchenchor singe, habe ich z. B. den Auftrag bekommen, eine Messe für diesen Chor zu schreiben. Das ist eine Herausforderung: etwas zu schreiben, was wirkliche Laien nicht nur singen können, sondern was die Leute auch anspricht. Da gibt es in der Geschichte tolle Beispiele – wie beispielsweise die Sonatinen von Mozart, oder auch die leichte G-Dur-Sonate und „Für Elise“ von Beethoven. Das gibt es auch in der Moderne: Stücke, die einfach sind, aber trotzdem Niveau haben.

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