„Transformation ist für mich das Schönste“ – ALEXANDER CHERNYSHKOV im mica-Interview

Chernyshkov 1Eine Kontrabasstuba mit einem 13 Meter langen Schlauch oder im Raum wandernde Differenztöne – derartige Klangexperimente verfolgt ALEXANDER CHERNYSHKOV ebenso wie das Einbauen vermeintlicher Fehler. Der kompromisslose Komponist im Gespräch mit Ruth Ranacher.

Wie schreibt sich Ihr Zugang zu Musik in Ihrer Biografie nieder?

Alexander Chernyshkov: Meine Eltern sind selbst keine Musiker und ich habe richtig spät mit Musik angefangen. Zuerst war ich in Rockbands als Gitarrist unterwegs und näherte mich über Jazzrock dem Jazz an. Diese Zeit meiner musikalischen Orientierung war geprägt von Wechseln. Ich habe unterschiedliche Stilrichtungen kennenlernt, ausprobiert und mich dann auf die Suche nach Neuem gemacht. Mit 21, als ich bereits am Konservatorium in Verona klassische Gitarre studierte, wurde mir die Form der reinen Interpretation zu eng. Über das Üben allein wäre mir die Freude dabei verloren gegangen. Beim Komponieren hingegen passiert das so nie. Das Stück existiert für mich erst zum Zeitpunkt der Aufführung. Bis dahin ist es immer spannend!

2007 kam ich nach Wien und hatte das Glück, gleich die Aufnahmeprüfung am Konservatorium Wien Privatuniversität absolvieren zu können. Im Jahr darauf kam ich an die Universität für Musik und wollte unbedingt Seminare bei Chaya Czernowin besuchen. Nach einem Gespräch mit ihr durfte ich 2008 vorzeitig in ihre Klasse und knüpfte dort weitere Kontakte mit Gleichgesinnten. So war ich beispielsweise in den Komponistenmarathon des Platypus Ensembles involviert. Aus der kleinen Stadt Verona kommend, hat sich hier für mich eine neue Welt eröffnet. Derzeit mache ich meinen Master in Komposition bei Clemens Gadenstätter in Graz.

„Das ist nicht mehr gemütlich.“

Sie proben derzeit für „Invisible Drives“, einen Abend, der Tanz und Musik verbindet. Wie geht es Ihnen mit dieser Kombination?

Alexander Chernyshkov: Ich habe bisher selten eine Aufführung gesehen, die durch eine enge Verbindung von Musik und Tanz eine gemeinsame Entwicklung ermöglicht. Sounddesign für eine fertige Choreografie zu schaffen, wie es gelegentlich erwartet wird, ist für mich als Komponist weniger spannend. Für „Invisible Drives“ arbeiten wir hingegen seit 2014 regelmäßig mit dem Choreografen.

Das Stück, das ich dafür geschrieben habe, breitet sich auch physisch im Raum aus. Ich setze zwei hohe, sehr laute Sinustöne ein, mit denen ich über zwei Lautsprecher den Raum bespiele. Wenn hohe Töne von 10.000 und 10.050 Hertz im selben Raum schwingen, nehmen wir auch diese Differenz von 50 Hertz als eigenständigen Ton wahr. Die Differenzentöne sind knapp hinter dem eigenen Hinterkopf zu hören. Bewegt man sich, verändert sich auch die Wahrnehmung des Tons im Raum. Das ist nicht mehr gemütlich.

Außerdem gibt es noch vier mechanische Relais, eine Bassgitarre, eine Mundharmonika und eine singende Säge. Wir spielen auch mit Licht, indem wir UV-Licht, Stroboskope, Neonröhren und anderes über Schalter vom Bühnenraum aus steuern, deren Klang wir teilweise verstärken. Das bildet eine direkte Verbindung von Licht, Musik und Bewegung und eine Referenz zum Titel „when they travel at the speed of light, ALONG the light“.

Was verrät der Titel über Ihr Stück?

Alexander Chernyshkov: Das Stück ist inspiriert von Science-Fiction. Angeblich fragte sich Einstein, wie die Welt aus der Perspektive der in Lichtgeschwindigkeit reisenden Teilchen aussieht. Und so kommt man zur Relativität – alles ist relativ, alles ist miteinander verbunden.

Es geht also darum, die Perspektive zu wechseln?

Alexander Chernyshkov: Ja, die Art, Gleichzeitigkeit zu denken. Darin steckt eine Menge Magie.

Chernyshkov 2Gleichzeitigkeit im Sinn von Gleichwertigkeit?

Alexander Chernyshkov: Bei „Aqua Viva“, einer Inszenierung von Ernst M. Binder, habe ich das als Zuseher erlebt. Die Arbeit verband das Solostück für Klavier „For Bunita Marcus“ von Morton Feldman mit Rezitation. Dabei wurde dem Publikum genug Zeit gegeben, um vom Akt des Sprechens, der eher mit Theater und Literatur assoziiert wird, auf eine ganz natürliche Weise in ein Konzerterlebnis einzutauchen und wieder zurückzukommen. Die Schauspielerin, die die Texte von Clarice Lispector rezitierte, hielt allein durch ihre physische Präsenz die Spannung. Mit dem nächsten Akt des Sprechens verschob sich die Grenze dann wieder hin zur Literatur. So eine Form des Ineinander-Verschränkens wünsche ich mir für mein Musikstück mit dem Tanz. So, wie das Meer ständig seine Form wechselt oder die Jahreszeiten einander ablösen. Transformation ist für mich das Schönste.

Fehler, die irritieren, aber nicht stören

Suchen Sie nach Zwischenräumen?

Alexander Chernyshkov: Ich übersetze „Zwischenraum“ auch mit „Grenze“ und meine den Zeitpunkt, zu dem eine Komfortzone überschritten wird. Das kann der Moment sein, wo man als Zuhörerin beziehungsweise Zuhörer beginnt, die Situation zu hinterfragen. Bei Proben hatte ich des Öfteren das Erlebnis, dass ein Fehler ein sehr erhellender Moment war, weil man ihn hinterfragen musste: Ist er ungewollt oder geplant? Absichtlich einen Fehler in ein Stück einzubauen, und zwar so, dass er irritiert, aber nicht stört, muss ganz genau geplant und exakt geprobt werden. Das ist hohe Kunst.

Was mich auch reizt, ist das Spiel mit Genres. Wir arbeiten gerade mit Ernst M. Binder an der „Oper der Zukunft“, einem Projekt, wo sich zwanzig Komponistinnen und Komponisten über einen längeren Zeitraum einmal im Monat treffen. Nach einem Jahr werden fünf Komponistinnen beziehungsweise Komponisten ausgewählt, um eine Szene für das Grazer Opernhaus im Frühjahr 2018 zu realisieren. Der Titel meiner Szene lautet „Transkription eines Fehlers“. Es geht dabei um kleine Verschiebungen – wie beispielsweise, dass sich das Publikum fragen muss, ob das Stück tatsächlich schon begonnen hat oder gleich beginnen wird. Kurz, ein Spiel mit dem sukzessiven Brechen von Erwartungshaltungen. Man könnte auch sagen: ein Instrumentieren von Fehlern. Man kann zu einem späteren Zeitpunkt auf sehr intelligente Weise zeigen, dass der vermeintliche Fehler gewollt war. Hat man diesen einmal offengelegt, lässt sich derselbe Fehler nicht als solcher wiederholen. Und genau das, kombiniert mit der 8-Bit-Ästhetik eines Videospiels, interessiert mich. Oder mit Charakteren zu arbeiten, die wie Superheldinnen und Superhelden angelegt sind und deren Eigenschaften als Motive in die musikalische Sprache übersetzt werden.

„Die Stimme ist eines der schönsten Ausdrucksmittel […]“

Inwiefern ist die Oper ein Genre, in dem man sich erproben kann?

Alexander Chernyshkov: Auch die Oper wandelt sich mit der Zeit. Wenn ich heute eine Oper schreibe, wird sie dadurch anders. Man denke nur an Georges Aperghis „Luna Park“. Auch die Weise, wie Stockhausen die Musik durchgedacht hat, ist grundlegend für unser heutiges Musikverständnis. Opern sind kollektive Erfahrungen. Die Strukturen bestimmen das Genre. Xenakis, Sciarrino, Romitelli, Furrer sind schon Klassiker. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass wir nicht über Musiktheorie oder Einsteins Relativitätstheorie sprechen müssen – denn all das ist nichts wert, solange die Ohren einem Klang ein reizvolles Hörerlebnis nicht bestätigen. Wie die Werke eingeordnet werden, ob Oper, Musiktheater oder doch Theater, wechselt mit unserer Geschichte. Die Erfahrungen in der jeweiligen Zeit sind es, die einem bleiben.

Für diese Szene denke ich an Stimmenmaterial, wo es wirklich ums Sprechen geht, nicht um einen intonierten Sprechgesang wie bei Schönberg. Wenn ich das Musiktheater von Mauricio Kagel, das stark mit theatralen Momenten arbeitet, mit der Welt von Georges Aperghis vergleiche, sind dort die Vokalstrukturen sehr frei. Sie sind gewissermaßen theatral, aber auch instrumental. Genauer: ein Kreisen um die instabile Grenze zwischen Sprache und Gesang. Ich suche eine Qualität, die zwischen rezitativischem Sprechen und gesungener Sprache changiert. Die Stimme ist eines der schönsten Ausdrucksmittel und wahnsinnig schwer zu notieren.

Chernyshkov 3Kommen wir zum Material und seinen physischen Grenzen, die Sie in Ihrer Arbeit auch mit mechanischen Instrumenten ausloten. Wie gehen Sie dabei vor?

Alexander Chernyshkov: Man sollte sein Material so gut kennen, dass man einerseits weiß, was es von einem fordert, und andererseits dessen Grenzen kennt. Ich hatte beispielsweise immer Probleme mit Lautsprechern. Deren Schwäche liegt für mich darin, dass es wenig Bewusstsein für den Lautsprecher als Körper gibt. Jeder noch so komplexe Klang wird von einer Gummimembran produziert. Wenn ich das mit einem Klarinettenklang vergleiche, finde ich dort eine viel komplexere Akustik. Der Ton kommt nicht am Rohrende des Instruments heraus – wie beim Lautsprecher –, sondern entwickelt sich innerhalb des Instruments. Dafür erlaubt der Lautsprecher eine unglaubliche Flexibilität, da er alles wiedergeben kann. Sehr bewusst genutzt, wird diese Flexibilität wiederum selten. Die Klänge an sich mag ich ja, aber der Körper, durch den der Klang erzeugt wird, ist flach. Klang an sich ist nicht genug, er muss strukturiert werden. Als Komponist hat man die Pflicht, die Klänge so darzustellen, dass sie eine Erfahrung – die man etwa zufällig im Geräusch eines Kühlschranks entdeckt hat – direkt in ein spannendes Hörerlebnis verwandeln.

Ich habe Recherchen betrieben, um diese Klänge mit akustischen oder mechanischen Instrumenten zu erzeugen. Ich experimentierte mit Rohren, Schläuchen, modifizierten Blasinstrumenten, Relais, Motoren, mechanischen Objekten. Auch wenn sie viel reduzierter als Lautsprecher klingen mögen, haben diese Klänge viel mehr Identität. Eine Kontrabasstuba etwa mit einem Schlauch von dreizehn Metern Länge. Da kann man Töne mit sechs Hertz erzeugen. In dem Fall wird der Klang schon Rhythmus. Da sind wir schon beim Instrumentenbau, den ich betreibe, um den Ton zu erzeugen, der mir gefällt.

Kompromisslos mit sich selbst sein

In einer Ausgabe der „Positionen – Texte zur Aktuellen Musik“ erschien 2011 Ihr Artikel „einfach da sein“. Genügt das?

Alexander Chernyshkov: Tatsache ist: Man sollte sehr viel arbeiten, um das realisieren zu können. Es gibt auch die Seite in mir, die sagt, dass es das Wichtigste ist, diese Arbeit zu schaffen. Dazu gehört auch, hin und wieder kompromisslos mit sich selbst zu sein.

„einfach da sein“ ist eine persönliche Reaktion auf ein Schwarz-Weiß-Denken, das im akademischen Betrieb in Russland sehr stark vertreten ist. Es gibt im Musikbetrieb auch sehr viel Druck und Täuschung, besonders im Westen. Mit dem Internet hat sich die Geschwindigkeit erhöht. Das Wasser fließt, wohin es fließt. Im Endeffekt gewinnt die Musik, nicht Einzelpersonen.

Für mich ist als Richtung eher die Arbeit aus sich selbst heraus tongebend. Das kann man auch sehr persönlich betrachten – indem man seinen eigenen Rhythmus an die musikalische Arbeit anpasst. Musik allein ist zu wenig. Musik ist eine Konsequenz dessen, was uns als Mensch ausmacht. Für mich ist das auch eine soziale Frage. Alle machen das, was sie machen, hoffentlich am besten. Wenn man mich heute fragt, warum ich komponiere, lautet die Antwort: Es gibt sehr viel Musik, die ich hören möchte, die noch nicht komponiert wurde. Und das genügt mir. Daher stimmt „einfach da sein“ noch immer.

Danke für das Gespräch.

Ruth Ranacher

Foto 1: Enrico M. Lucarini
Foto 2: Anastasiya Kulakova
Foto 3: Alexander Chernyshkov