„Der Fluch als Allegorie auf die Menschheit“ – JACOB SUSKE im mica-Interview

Der Grazer Musiker JACOB SUSKE spielte als Bassist u. a. mit BONAPARTE, JULIAN SARTORIUS und SOPHIE HUNGER und veröffentlicht zudem als sein Alter Ego ZACHOV. Als Theaterkomponist arbeitete er bereits am DEUTSCHEN THEATER BERLIN, an der SCHAUBÜHNE BERLIN, am RESIDENZTHEATER MÜNCHEN usw. Sein Regiedebüt gab SUSKE 2015 mit der von ihm komponierten elektronischen Kammeroper „Orpheus.Factory“ am LUZERNER THEATER. Seit 2015 ist SUSKE als Musiker und Dramaturg am SCHAUSPIELHAUS WIEN engagiert. Gemeinsam mit der amerikanischen Autorin ANN COTTEN schuf er als Regisseur und Komponist mit „Elektra – was ist das für 1 Morgen“ eine elektronische Kammeroper, die der Frage auf den Grund geht, unter welchen Umständen sich Macht in Ohnmacht verkehrt. Im Gespräch mit Julia Philomena erläuterte der Musiker sein Interesse an der Regiearbeit, die Notwendigkeit von Humor und den Fluch als Allegorie auf die Menschheit.

Zu welchem Zeitpunkt stand fest, dass die Produktion der elektronischen Kammeroper „Elektra“ am Wiener Schauspielhaus unter Ihrer Regie und mit Ihrer Musik stattfinden wird? Welche Art der Vorbereitung war dann notwendig? 

Jacob Suske: Dass es ein Elektra-Projekt geben wird, stand schon lange fest; mit mir selbst habe ich das vor zwei, drei Jahren vereinbart. Als ich 2015 im Schauspielhaus Wien als fester Musiker und Dramaturg engagiert wurde, konnte ich die Idee einbringen. Ich habe nach jemandem gesucht, der mir Texte, vor allem Songtexte schreibt, da ich ursprünglich vorhatte, alle Dialogpassagen ganz minimalistisch und improvisatorisch zu gestalten. Durch Zufall bin ich auf Ann Cotten gestoßen. Ich habe zwei Seiten ihres Versepos „Verbannt!“ gelesen und mir war sofort klar, dass es sie und niemand anderer sein muss. Ich habe ihr auf Facebook geschrieben, monatelang keine Antwort bekommen und schon mit Alternativen gespielt, als sie plötzlich mit der Entschuldigung reagiert hat, meine Nachricht sei im Spam-Ordner gelandet. Über ein Jahr hinweg haben wir ein gemeinsames Storyboard entwickelt, das sich natürlich an unseren Konditionen orientiert hat. Ich wusste schon genau, welche Schauspielerinnen und Schauspieler, welches Team wir zur Verfügung haben werden.

Elektra ist eine Figur der griechischen Mythologie und bietet eine Unzahl von Interpretationsmöglichkeiten. Für welche haben Sie sich entschieden? Welche Vision oder Kernaussage stand für Sie im Zentrum?

Jacob Suske: Der Fluch als Allegorie auf die Menschheit steht im Zentrum. Es könnte alles so gut sein, würde nicht irgendjemand irgendwann und immer wieder auf dumme Gedanken kommen. Unsere „Elektra“ erzählt die Geschichte einer Familie, die nicht kaputt sein müsste. In dem Mykene, das wir entworfen haben, wird aufgeklärt regiert, es gibt Frauenrechte, Fortschritt und Toleranz. Nur Elektra kann die Geschichte nicht ruhen lassen. Es geht ihr bei uns aber weniger darum, den Vatermord zu rächen, sondern ihr Recht auf Herrschaft zu beanspruchen. Sie ist durch und durch naturgläubig, Patriotin, geprägt von einer Blut-und-Boden-Ideologie.

Jacob Suske (c) Schauspielhaus Wien

Welche Regieanweisungen waren für Elektra wichtig?

Jacob Suske: Die Geschichte ihres Vaters Agamemnon ist in Wirklichkeit noch viel schlimmer, als wir sie darstellen. Wir haben aus der Mythologie die entscheidenden Eckpunkte herausgefiltert, um die Geschichte erzählen zu können, dabei aber unterschlagen, dass Agamemnon lange vor dem Trojanischen Krieg Klytämnestras Ehemann und Sohn umgebracht und sie selbst vergewaltigt hatte, ehe er sie heiratete. Wüste Verhältnisse, die in ihre Gesamtheit nicht aufführbar sind. In Elektras Bewusstsein steht nicht die Summe des Wahnsinns aller Vorkommnisse im Mittelpunkt, sondern die Ungerechtigkeit, keinen Vater gehabt zu haben. Agamemnon stirbt, als Elektra noch ein Kind ist, und wird von ihr daher fast gezwungenermaßen idealisiert. Der große abwesende Vater dient ja auch häufig als Leitmotiv der IS-Mädchen. Sich zu radikalisieren, weil die Vergangenheit lauter Abgründe birgt, liegt auf der Hand. Elektras archaische Weltanschauung basiert auf Agamemnons patriarchalen Werten. Das Recht liegt beim Stärkeren.

Die Handlung des Stücks setzt lange nach Agamemnons Tod ein. Gab es ursprünglich die Idee, den Vater auftreten zu lassen?

Jacob Suske: Es gab die Idee, die Geschichte viel früher anzusetzen und mit Agamemnon eine Donald-Trump-Parallele zu schaffen. Aber das will mittlerweile keiner mehr sehen, denke ich. Es hätte zeitlich außerdem den Rahmen gesprengt. Elektra verklärt die Vergangenheit, den Krieg, die Opferung ihrer Schwester. Das ist natürlich sehr zugespitzt, aber durch Agamemnons Abwesenheit wird Elektras Obsession für ihn noch deutlicher.

„Mit größter Zärtlichkeit werden die schlimmsten Dinge ins Ohr des anderen gesungen.“

Ist Elektra bis zu einem gewissen Grad doch zerrissen? Liegt die Versöhnung mit ihrer Mutter näher, als man denkt?

Jacob Suske: Qua Mythos war das natürlich keine Option. Aber beim Proben ist mir wahnsinnig wichtig gewesen, dass die Figuren untereinander eine starke Beziehung haben. In dem Moment, wo Elektra von der Liebe ihrer Mutter überfallen wird, ist sie mit Sicherheit zerrissen, obwohl sie von ihrem Plan schlussendlich niemand abhalten wird. Je ambivalenter, desto spannender. Mit größter Zärtlichkeit werden die schlimmsten Dinge ins Ohr des anderen gesungen.

Orest wird in Ihrer Interpretation nicht zum Mörder, sondern bleibt bis zum Schluss der leicht naive Bruder, der aus Amerika heimkehrt.

Jacob Suske: Orest ist bei uns das freundliche Gesicht des Neoliberalismus. Er ist bis zum Schluss kein Mörder, hat von dem vermeintlichen Fluch, der auf seiner Familie lastet, überhaupt keine Ahnung. Er ist laut Mythos als Kind ins Exil geschickt worden, was bei uns Amerika bedeutet. Er hat eine dementsprechende Sozialisierung erfahren und kehrt eigentlich nur nach Mykene zurück, um Business zu machen. Durch Zufall triggert er in Elektra den Gedanken ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Er hätte nie den Mut, es selbst zu tun.

Welche Erwartungshaltung würden Sie dem Publikum empfehlen?  Sollte man firm sein in der griechischen Mythologie?

Jacob Suske: Wenn man den Mythos nicht kennt und nach dem Abend nichts verstanden hat, dann haben wir mit Sicherheit etwas falsch gemacht. Ziel ist ganz klar, ohne jedes Vorwissen der Geschichte folgen zu können. Davor muss man, glaube ich, aber auch keine Angst haben. Unsere Bearbeitung ist zeitgemäß, kompakt, böse und sehr humorvoll.

Muss man dem Stück eine gewisse Ernsthaftigkeit entgegenbringen?

Jacob Suske: Es war uns wichtig, dass jede Figur ein Sympathieträger, eine Identifikationsmöglichkeit sein kann. In diesem Sinne gibt es eine große Ernsthaftigkeit, was die Anliegen der Figuren betrifft. Die Vermittlung des Stücks bringt man mehr mit einer Leichtigkeit in Verbindung. Humor und Ernst stehen aber auch nahe beieinander. Ob es schlussendlich eine Komödie oder Tragödie ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich beides.

Wie konnten Sie als Regisseur und Musiker beiden Positionen gerecht werden?

Jacob Suske: Durch viel Vorbereitung. Es war elementar, dass die Musik zu Probenbeginn weitestgehend stand. Ab Probenbeginn gibt es keine ruhige Minute mehr. Ich habe im Juli mit dem Komponieren begonnen und den größten Brocken somit rechtzeitig fertig gehabt. Die Musik inszeniert sich bis zu einem gewissen Grad ja auch selbst, das ist praktisch. Die Musik bringt Atmosphären, die man bedienen oder kontrastieren kann – sie schränkt die inszenatorischen Mittel wohltuend ein. Ein Vorteil war natürlich auch, dass ich nicht zum ersten Mal an einer elektronischen Oper gearbeitet habe und somit wusste, welchen Touch der Abend haben muss und wie er technisch zu bewerkstelligen ist.

Bild Elektra – was ist das für 1
Bild (c) Matthias Heschl

Welche musikalischen Mittel wurden ausgewählt?

Jacob Suske: Das ist der springende Prunkt: Wie fängt man an? Ich muss mich immer wahnsinnig disziplinieren, überhaupt anzufangen. Ich muss mir ganz genau überlegen, welches Werkzeug ich verwende und welchen Umgang ich dafür brauche. Gerade im Zeitalter von digitaler Musikproduktion verliert man sich schnell, kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Als Komponist, der selbst nur mit dem Computer arbeitet, schien es mir reizvoll, möglichst früh einen Leitfaden zu finden. Ich habe Klangmaterial aller musikalischen Elektra-Bearbeitungen gesammelt, Mini-Samples herausgeschnitten, um Soundstrukturen zu schaffen, die als Grundlage notwendig waren. Als sich langsam Songs aus den Klangsphären herauskristallisiert haben, hat die Musik ihre Eigendynamik bekommen. Als die 70er-Jahre-Ästhetik feststand, bin ich immer mehr auf den klassischen Synthesizer umgestiegen und habe mich in einigen Punkten dem Visuellen angepasst.

„Die größte Herausforderung war das Vertonen der Texte von Ann Cotten.“

Was war die größte Herausforderung?

Jacob Suske: Mein Glück war, dass ich vorweg genau über die Interessen und Qualitäten der Schauspielerinnen und Schauspieler Bescheid wusste. Das macht die Arbeitsweise natürlich wesentlich einfacher. Mein Korrepetitor Ryan Carpenter war Gold wert. Der hat mit den Schauspielerinnen und Schauspielern hervorragend geprobt. Die größte Herausforderung war das Vertonen der Texte von Ann Cotten. Das ist mir sehr schwergefallen! Zum einen, weil ich normalerweise selbst meine tendenziell eher einfachen Texte schreibe und sich das bei Ann ganz anderes verhält. Ihre Texte sind sehr subtil, versiert, eigendynamisch – die meiste Zeit habe ich damit verbracht, musikalisch einen Zugang zu finden. Da Ann selbst in einer Band spielt, hat sie mir sehr geholfen, Beispiele für eine mögliche Rhythmik, Klangstruktur etc. geschickt.

Klytämnestra wird von Sebastian Schindegger gespielt und ihr Liebhaber Ägisth von Vassilissa Reznikoff.

Jacob Suske: Die beiden sind so dermaßen aufgeklärt, dass Geschlechteridentität keine Rolle mehr spielt. Es herrscht die ultimative Toleranz: Frauen, die Männer sind, spielen Frauen, die Männer spielen, und umgekehrt. Es ist auf der Hand gelegen, die beiden Rollen geschlechterverkehrt zu besetzen.

Worin besteht der Reiz der Doppelfunktion Regie und Komposition?

Jacob Suske: Es ist wahnsinnig reizvoll, die eigene Musik zu inszenieren. Ich konnte sehr viel von Regisseurinnen und Regisseuren lernen, die mit Musik gut umgegangen sind. Aber selbst verantwortlich dafür zu sein, wie sich Schauspielerinnen und Schauspieler zu deiner Musik verhalten, macht großen Spaß. Ich kann mir mittlerweile aber auch gut vorstellen, ohne Ton zu inszenieren, nur mit Text und Ausdruck zu arbeiten.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Julia Philomena

Link:
Schauspielhaus Wien