Bei der Uraufführung des performativen Konzertabends „Brauchen“ im Rahmen von Wien Modern am 11. November 2022 im Reaktor wurden durchgehend österreichische, aber auch konzertante Traditionen ad absurdum geführt – etwa mit dekontextualisierten Schuhplattlereinlagen, dem Pervertieren von Schönperchten oder dem ständigen Wechsel des Handlungsorts. Die fünf „Akte“ beinhalteten drei Kompositionen von Marco Döttlinger, Alexander Martinz und Peter Jakober, gespielt vom ensemble]h[iatus, mehrere Live-Performende, in Szene gesetzte Kunstwerke und Videoeinspielungen.
Allein der Garderobenraum des Reaktors, schon hier der Start des ersten Akts, erinnerte an eine Art Kasperltheater-Kasten, „Unnesko II“ von Thomas Hörl, unter dem man durchgehen musste. An den Rändern bemalte Vorhänge, „Rautenballett“, ebenfalls von Hörl, gaben das Gefühl, selbst auf eine Bühne zu gehen. Die Performenden in weißer Kleidung, wie man sie etwa von Glöcklerläufen im Salzkammergut kennt, und Faschingsbemalungen im Gesicht, begrüßten das Publikum. Sebastiano Sing stolzierte in einem Kleid aus Papier durch die Räume. Einzelne Sessel in „normalen“ Sesselreihen waren um 180 Grad gedreht, was ein gegenseitiges Beobachten unter den Zuschauenden ermöglichte. Einer der Performer lockte in eine Art Kinosaal. Man sah bizarre Videos, alles untermalt mit mokierender Volksmusik. Dekontextualisierte Brauchtumsgepflogenheiten bestimmten den Ton. Die Performenden, darunter zwei Männer in Latexkleidung, berührten zeitgleich Menschen, sprangen, rauften, schrieen durch das Publikum oder grunzten.
Der zweite Akt lief vierteilig-simultan ab. Hier spielte das ensemble]h[iatus. Diese einte das fast missbrauchende Spiel der Instrumente: Schreie, Gesang, schrille ungehörte Klänge schmückten die Penderecki-artigen Stücke aus, die etwa an „Threnody to the Victims of Hiroshima“ erinnerten. Faszinierend war die elektronische Partitur, die aleatorische und grafische Musik in einer Art Tabulator fusioniert hatte. Einer der Performer knipste sich zuhörend die Nägel ab, andere Performende spielten mit einem anwesenden Kind aus dem Publikum Fangen – ab diesem Zeitpunkt fühlte sich der Konzertabend wie eine Party an, auf der man kommen und gehen konnte.
Im dritten Akt wurde „Polizeitrieb“ von Carola Bauckholt aufgeführt. Die beiden Mitglieder des ensemble]h[iatus stritten auf Französisch und spielten unter Amüsement des Publikums die Fliegenklatschen auf Zeitungspapier. Im vierten Akt spielten Musizierende in Duetten oder Trios aufwühlende Klänge. Fast schon in Manier eines Flugbegleiters wurde jede Reihe von den Performenden mit Süßspeisen versorgt.
Der letzte Akt startete mit fast „heulendem“ Singen von Géraldine Keller im Kinosaal. Dystopische Klänge gemischt mit elektronischen Geräuschen führten immer mehr zum Höhepunkt. Das Wabern der Instrumente in der absoluten Dunkelheit, hätte es keine Notausgangsschilder gegeben, war beeindruckend. Die Performance endete mit einem Ton, der klanglich an jenen eines EKGs erinnerte.
Interpretativ könnte man die fünf Akte wie die Lebensabschnitte eines Menschen verstehen. Man kommt gebückt „durch das Kasperltheater“ auf die Welt, schreit, ist überwältigt von der Diversität dieser Erde. Der zweite Akt, die Pubertät mit schrillen Erlebnissen. Bei „Polizeitrieb“ kommt das Erwachsensein und die Eintönigkeit – jeder Tag ist gleich, Trotz und Perpetuum-mobile-Gefühle bestimmen den Alltag. Man wird älter und will ausbrechen, der Tod geliebter Menschen, im Anschluss das „Füttern“ im Altersheim mit unfreundlichen Betreuern im vierten Akt. Zuletzt stirbt man in Dunkelheit, Einsamkeit und innerem Frieden.
„Brauchen“ der sieben Kunstschaffenden Marco Döttlinger, Thomas Hörl, Peter Jakober, Sebastian Jobst, Peter Kozek, Alexander Martinz und Anna Resch ließ einen durch eine künstlerische Metamorphose gehen, als Publikum fühlte man sich zuweilen als gleichberechtigter Akteur. Die Linie zwischen Improvisation und Konzeption schien nicht existent. Fragen über den Sinn von Brauchtum wurden mit diesem Konzertabend aufgeworfen, mit Kunst, die die Absurdität des Lebens feiert, auf eine Weise, die einigen bestimmt vollkommen neu war.
Dorian Raphael Kalwach
Diese Kritik über das Konzert mit dem Titel „BRAUCHEN“ mit dem ensemble]h[iatus im Rahmen von Wien Modern am 11. und 12. November 2023 im Reaktor entstand als Teil einer Lehrveranstaltung von Monika Voithofer am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien. Nähere Informationen dazu finden Sie hier.