„Uns ist wichtig, Personen in Verbindungen und Kontexte zu setzen, die wir davor nicht so gesehen haben.“ – DE/SEMBLE im mica-Interview

DE/SEMBLE ist ein Festival, das in vielerlei Hinsicht mit der klassischen Aufführungspraxis bricht. Sowohl in der Programmgestaltung als auch inhaltlich und musikalisch verfolgen die Gründerin des Festivals, REGINA FISCH, und ihre beiden Partnerinnen MONA MATBOU RIAHI (Kuratorin) und KATHARINA FENNESZ (Kommunikation & Organisation) neue experimentelle Ansätze. Ihr Anliegen ist es, die etablierten Rollen im Jazz zu hinterfragen und neu zu interpretieren, insbesondere im Hinblick auf geschlechterspezifische Aspekte. Im Interview mit Michael Ternai berichten die drei über die Ziele des Festivals, das Aufbrechen traditioneller Strukturen und wie sie Jazz einem Publikum näherbringen wollen, das bisher weniger mit dieser Musik vertraut ist. Der nächste Event im Rahmen des Festivals DE/SEMBLE findet am 29. September im Wiener Theater Hamakom statt.

Ihr habt euer Festival vergangenen Juni gestartet. Ihr wollt mit eurem Festival mit den konventionellen Vorstellungen von Jazz – vor allem auch hinsichtlich der Rolle von Musikerinnen in diesem Genre – brechen. Wo setzt ihr da konkret an?

Regina Fisch: Das Konzept, das ich letzten Sommer geschrieben habe, setzte sich ganz konkret mit der Instrumentenbesetzung auseinander. Und zwar hinsichtlich der stereotypischen Zuschreibung von männlichen und weiblichen Instrumenten. Dieser Gedanke ist im Grunde die Basis für dieses Projekt.
Gleichzeitig haben wir aber recht schnell bemerkt, dass wir viel mehr Intersektionen reinbringen und nicht ein weiteres FLINTA Festival machen wollten. Wir wollten uns mit diesen Dingen künstlerisch kritisch auseinandersetzen und darum bestimmte Instrumente und Personen buchen, aber ohne Gender in den Vordergrund zu rücken. Unser Ziel ist es einfach, mehr Awareness dafür zu haben, wer bei uns am Festival spielt.

Katharina Fennesz: Das Festival soll den Leuten einfach einen Denkanstoß geben. Aber nicht dadurch, dass wir sie darauf bewusst hinweisen. Das soll von alleine passieren, wenn das Publikum die Musiker*innen auf der Bühne sehen. Warum ist das für mich komisch, dass da plötzlich eine Frau hinter dem Schlagzeug sitzt? Wir versuchen, die Leute sehr unbewusst zu diesem Thema zu führen. Und dann bewirkt das vielleicht doch etwas.

Mona Matbou Riahi: Oft stellt sich der sogenannte Wow-Effekt ein, wenn eine Frau ein Instrument spielt, das eher mit Männern assoziiert wird. „Wow, die spielt aber gut” hört man dann oft, als ob es völlig ungewöhnlich wäre, dass eine Frau auf so einem hohen Niveau spielen kann. Dabei ist das keineswegs ungewöhnlich. Es gibt genug Musikerinnen, die hervorragend an ihren Instrumenten sind. Was bislang jedoch fehlt, sind Plattformen, die das breit sichtbar machen. Es wäre schön, wenn wir mit unserem Festival dazu beitragen könnten, dass das Publikum irgendwann einmal ausschließlich die spielerische Qualität beurteilt, unabhängig davon, ob sie von einem Mann oder einer Frau praktiziert wird. Wir möchten das jedoch ohne große Ankündigungen erreichen.

„Bei uns spielt Nachhaltigkeit ebenso eine große Rolle.“

Das heißt, der Bruch mit Konventionen ist Teil des Programms.

Regina Fisch: Uns ist sehr wichtig Personen in Verbindungen und Kontexte zu setzen, die wir davor noch nicht so gesehen haben. Und da steht das Instrument manchmal eigentlich gar nicht so sehr im Vordergrund. Es ist nicht so, dass wir uns darauf versteifen, einzig Frauen an vermeintlich männlichen Instrumenten zu zeigen. Bei uns spielt Nachhaltigkeit ebenso eine große Rolle. Besonders bezüglich einer faireren Präsentation.

Was meint ihr mit fairerer Präsentation genau?

Regina Fisch: Ich höre oft, dass bei der Programmierung eines Festivals am Ende noch schnell eine Band mit einer Frau gebraucht wird, um nicht am Ende ein Programm ausschließlich mit Männern zu haben. Dieser Ansatz ist nicht nachhaltig und wirkt ein wenig aufgesetzt. Wir möchten mit unserem Festival dazu beitragen, dieses Denken aufzubrechen.

Bild DESEMBLE FESTIVAL
DE/SEMBLE FESTIVAL (c) Hanna Fasching

Mona Matbou Riahi: Bei Gesprächen mit Kolleg:innen offenbaren sich oft zwei Denkrichtungen bei mir. Die einen sehen es durchaus als ihre Aufgabe, Frauen in diesem Bereich zu fördern und vermehrt in Lineups zu integrieren, und das finde ich sehr positiv. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Veranstalter, die ihre Acts bereits gebucht haben und erst am Ende feststellen, dass sie noch eine Band mit Frauen für ihr Programm brauchen. Es geht einfach um die richtige Einstellung. Handelt jemand so, weil es gerade “in” ist, oder glaubt jemand wirklich an die nachhaltige Veränderung in dieser Hinsicht. Unser Ziel als Kuratorinnen ist es, das Publikum mitzunehmen und ihm Dinge zu präsentieren, die für dieses vielleicht noch ungewohnt sind. Es ist uns wichtig, die Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne gleichermaßen zu feiern.

Womit erklärt ihr euch, dass man heute noch in dieser Denkweise verhaftet ist?

Katharina Fennesz: Ich glaube, das ist vor allem ein strukturelles Problem. Ganz oben sitzen meistens Männer, die ihre männlichen Booker und Veranstalter haben, und so geht es weiter. Diese Hierarchie verfestigt natürlich die Situation. Je mehr Betroffene, unabhängig von ihrer Diskriminierungsposition, aber besondere Rollen bei Festivals bekommen, desto mehr bricht das Ganze auch auf. Und vielleicht spricht man damit sogar ein Publikum an, das man erreichen möchte. Es darf auch nicht so bleiben, dass hauptsächlich weiße und männliche Menschen sich Konzerte anschauen, weil diese nur sie ansprechen. Das ist jedoch nicht nur im Jazz der Fall, sondern allgemein in der gesamten österreichischen Musikszene. Ich finde es sehr bedauerlich, dass immer noch sehr viele weiße Männer die Zügel in der Hand haben und bestimmen, wer wann wo spielt. Und dann gibt es gelegentlich Frauen, die, weil sie bereits einen bestimmten Bekanntheitsgrad haben, quasi dazu herangezogen werden, das Lineup zu ergänzen, damit gesagt werden kann: „Wir haben auch Frauen im Lineup.” Diese Struktur ist sehr eng und spricht letztendlich immer dieselben Personen an. Aus dieser Struktur möchten wir mit unserem Festival ausbrechen. Wir sind zwar ein kleines Festival, aber dennoch glaube ich, dass wir etwas verändern können.

„Außerdem ist es uns sehr wichtig, ein neues Publikum anzusprechen“

Etwas, das euer Festival von anderen unterscheidet ist, ist auch, dass es mehrteilig ist, mit Events verteilt auf das Jahr in verschiedenen Locations. Welche Idee steckt da dahinter?

Regina Fisch: Dieser Festivalgedanke ist tatsächlich erst nach diesem Konzept entstanden, die Idee, mehrere Events statt eines großen Festivals zu veranstalten, um etwas Nachhaltiges aufzubauen. Wir möchten verschiedene Konzepte zeigen, wie man so etwas durchführen kann. Außerdem ist es uns sehr wichtig, ein neues Publikum anzusprechen, eins, das nicht ausschließlich dem Jazz verhaftet ist und nicht immer die gleichen Veranstaltungsorte besucht. Unser erster Event fand zum Beispiel in der Kunsttankstelle statt, die tatsächlich eine alte Tankstelle war. Solche ungewöhnlichen Räume für den Jazz, der von manchen als elitär wahrgenommen wird, zu nutzen, finde ich sehr spannend.

Ihr wollt den Leuten also die Berührungsängste zum Jazz nehmen.

Regina Fisch: Genau. In meinem Umfeld habe ich den Eindruck, dass viele glauben, Jazzkonzerte seien mit einer bestimmten Einstellung verbunden. Man müsse sich gut mit der Musik auskennen, um sie genießen zu können. Das ist jedoch nicht der Fall. Jede Person kann zu einem Konzert gehen und sich überraschen lassen. Ein Ziel von DE/SEMBLE ist es, Jazzkonzerte für Menschen zugänglicher zu machen, die zuvor wenig mit Jazz zu tun hatten.

„Letztendlich stellt sich die Frage, was Jazz eigentlich ist.“

Soll das darüber gelingen, dass DE/SEMBLE jetzt nicht nur bloß ein reines Jazzfestival ist, sondern auch andere Musikstile, insbesondere die Elektronik, in das Format einbindet?

Mona Matbou Riahi: Es ist uns tatsächlich ein großes Anliegen, durch Kooperationen auch andere Szenen – wie etwa die Clubszene – in die Sache hineinzubringen. Durch solche Kooperationen erhoffen wir uns schon, eine größere Community aufbauen zu können. Und ich glaube, wenn wir uns immer am Nachhaltigkeitsgedanken orientieren, schaffen wir das auch.

Bild Katherina Fennesz Regina Fisch, Mona Matbou Riahi (c) victorianazarova 2
Team (c) Victoria Nazarova

Katharina Fennesz: Dadurch eröffnen sich neue Verbindungen und Beziehungen. Oftmals kommen die Besucher:innen mit bestimmten Erwartungen zu einem Jazzkonzert, doch während des Konzerts wird deutlich, dass der Jazz weitaus facettenreicher ist. Anschließend werden die Gäste sogar zur Afterparty eingeladen, bei der sie von uns oder einem Kollektiv, mit dem wir zusammenarbeiten, etwas völlig Neues präsentiert bekommen.
Unser Fokus liegt darauf, zu erkunden, wie sich die verschiedenen Welten miteinander verknüpfen lassen. Hierbei können wir schon einiges von der Clubkultur lernen, da in dieser Welt die Grenzen oft nicht so stark ausgeprägt sind – zumindest viel weniger als im Jazz.

Regina Fisch: Bei unserem Kickoff haben wir festgestellt, dass das Konzept gut angenommen wurde. Es schien auch nicht so, als wären die Leute besonders überrascht oder irritiert gewesen. Diese beiden Aspekte haben nicht zu einem kompletten Bruch geführt, sondern sie haben sich eher harmonisch miteinander verbunden.
Initiativen, die bereits in diesem Bereich wertvolle Arbeit geleistet haben, sind für uns natürlich eine große Quelle der Inspiration. Deshalb möchten wir die Zusammenarbeit mit anderen Initiativen verstärken, um kontinuierlich neue Elemente in das Projekt einzubringen und den Pool an Zusammenarbeiten zu erweitern.

Mona Matbou Riahi: Letztendlich stellt sich die Frage, was Jazz eigentlich ist. Irgendwann wurde dieser Begriff von jemandem geprägt, um der Musik aus marketingtechnischen Gründen eine Bezeichnung zu geben. Am Ende des Tages ist Jazz eine Form des Ausdrucks. Wenn man sich die Geschichte des Jazz ansieht, geht es immer darum, aus festen Formen und vorgegebenen Strukturen auszubrechen. Jazz ist eine Art des Lebens, er zeigt, wie man lebt, sich bewegt und Verbindungen zu anderen Menschen knüpft. Jazz war und ist immer noch eine Bewegung, die sich gegen gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen engagiert hat.
Während des Kickoff-Events haben wir bewusst nicht festgelegt, welche Art von Musik die einzelnen Acts spielen werden. Stattdessen haben wir gesagt: „Kommt einfach und nehmt mit, was euch gefällt.” Während des Abends stand jemand neben mir, der plötzlich sagte: „Jazz gefällt mir total.” Tatsächlich muss man im Grunde gar nicht genau wissen, um welche Art von Musik es sich handelt, um Jazz zu genießen.

Bild DE/SEMBLE FESTIVAL
DE/SEMBLE FESTIVAL (c) Hanna Fasching

Katharina Fennesz: Man muss ja auch nicht immer so viel darüber nachdenken, was man sich da gerade anhört. Man kann wieder ein bissl was Neues lernen, indem man sich wohin begibt, wo man sonst nicht ist. Wenn das nicht passiert, wird nie etwas erweitert, weder der eigene Horizont noch der des Publikums.

Wie sieht es eigentlich mit dem Austausch mit den Jazzinstitutionen der Stadt aus?

Regina Fisch: Im Moment haben wir noch die Freiheit, ziemlich flexibel zu handeln und an Orten aufzutreten, die uns die Möglichkeit geben, unsere Vorstellungen umzusetzen und uns dabei unterstützen. In Zukunft ist unser Ziel jedoch sicherlich, einen Dialog mit den Institutionen zu führen. Ich finde, die Jazzszene in Wien ist äußerst faszinierend und lebendig. Es ist erfreulich zu beobachten, wie Musikerinnen und Musiker erfolgreich verschiedene Zielgruppen ansprechen können – sowohl diejenigen, die klassischen Institutionen näherstehen, als auch diejenigen, die neue Orte bevorzugen. Sie beherrschen sowohl den traditionellen Rahmen als auch experimentellere Ansätze.
Während unseres ersten Events fand ich es interessant, dass viele es als eine Art Intervention betrachtet haben. Diesen Anspruch hatten wir eigentlich überhaupt nicht. Aber es zeigt, dass Musikerinnen und Musiker unser Format als etwas Neuartiges empfunden haben, das auch an anderen Orten umsetzbar ist. Dies ist auf jeden Fall eines unserer Ziele.

Katharina Fennesz: Eine unserer Stärken oder Vorteile ist, dass wir drei eigentlich unterschiedliche berufliche Hintergründe haben. Wir haben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Ich selbst komme zum Beispiel nicht aus dem Jazzbereich, dennoch kann ich, genauso wie die anderen, etwas Neues einbringen. Genau aus dieser Vielfalt entsteht auch der Aspekt der Veränderung. Es entsteht nur etwas Neues, wenn man immer wieder mit unterschiedlichen Personen aus verschiedenen Branchen in Kontakt tritt.

Ihr wollt Jazz an andere Orte bringen. Jetzt ist DE/SEMBLE ja von der Stadt Wien gefördert. Bedeutet andere Orte auch andere Städte und Länder?

Regina Fisch: Grundsätzlich haben wir sehr ambitionierte Ziele. Aber wir werden von SHIFT gefördert, was bedeutet, dass unser Fokus auf der Wiener Jazzszene liegt. Dennoch möchten wir auch internationale Künstlerinnen und Künstler sowie Acts, die uns begeistern, nach Wien holen. Dies ist bereits in gewissem Maße möglich, und wir hoffen, dass es in Zukunft noch mehr Möglichkeiten geben wird. Die Ausdehnung in andere Städte ist vorerst nicht unser Hauptziel. Außerdem hat sich in Wien in den letzten Jahren im Bereich Jazzfestivals eine gewisse Lücke aufgetan. Auf internationaler Ebene gibt es hier weniger Aktivität als noch vor einigen Jahren. Man denke nur an das Jazzfest Wien, das nicht mehr stattfindet. Daher haben wir uns langfristig zum Ziel gesetzt, ein internationales Festival zu werden.

Herzlichen Dank für das Interview!

Michael Ternai

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DE/SEMBLE
PLAY DATE
Festival for Jazz and Adventurous Music
29.09.2023 – 19:00
Theater Nestroyhof/
Hamakom
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