Richard Dünser: Radek

Die bei den Bregenzer Festspielen 2006 uraufgeführte Oper von Richard Dünser hat am Donnerstag, den 25. Jänner im Museumsquartier/Halle E Wien-Premiere. Im Zentrum dieser Oper steht der galizische Jude und Bolschewik Karl Radek (1885-1939), der sich der trotzkistischen Opposition anschloss.

Einer der brillantesten Demagogen der kommunistischen Bewegung der 1920er und 30er Jahre

Komponist Richard Dünser zeichnet in seiner Kammeroper eine Figur nach, an der die Probleme des 20. Jahrhunderts transparent werden: Seine Oper versteht sich als ein Stück über die grauenhaften Konsequenzen der Ideologien dieser Zeit, gespiegelt im Schicksal eines Mannes, der diesen Terror miterfunden hat.

Radek wurde 1885 in Lemberg geboren und zählte zu den führenden Köpfen der polnischen und deutschen Sozialdemokratie. Als Kritiker von Rosa Luxemburg schloss er sich nach seinem Ausschluss aus der SPD schon vor dem ersten Weltkrieg Lenin an und wurde zu einem seiner engsten Vertrauten im Schweizer Exil. Später gehörte er als Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU der Opposition um Trotzki an. 1927 wurde Radek aus der Partei ausgeschlossen und nach Sibirien verbannt. Nach Rückkehr und Selbstkritik war er ab 1929 als international geschätzter Journalist und Kulturfunktionär tätig.

Von 1936 bis 1938 kam es zu den drei Moskauer Schauprozessen, deren Hauptangeklagte die engsten Mitarbeiter Lenins aus der Zeit der Oktoberrevolution waren. Obwohl schuldig gesprochen, wurde Radek nur zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, während der er 1939 starb.

Mit meiner Oper RADEK nach dem Text von Thomas Höft habe ich versucht, einen musikdramatischen Ansatz zu verwirklichen, der mir seit Jahren vorschwebt: Ein Sujet, das heute unter den Nägeln brennt, eine Musik, die ihre Herkunft vom Anfang des 21. Jahrhunderts nicht verleugnet und weder geschichtslos ist noch beliebig, in der Anwendung ihrer Mittel trotzdem so offen wie möglich, ausserdem ihren eigenen Gesetzen gehorcht, als auch sich in den Dienst der dramatischen Situationen und Entwicklungen auf der Bühne stellt, diese vorantreibt, kommentiert, abbremst, umwirft, Reminiszenzen bringt und Schatten vorauswirft. Eine Musik, die auf den Hörer und Seher zugehen, Resonanz und soziale Relevanz erzielen, das (Theater-)Publikum als Partner gewinnen will, ohne sich ihm anzubiedern; Nachdenken, Trauer, aber auch Begeisterung und Verstehen evozieren will. Ein Kunstwerk, das alle Parameter der Musik und des Theaters in einer Gesamtdramaturgie fokussiert und bündelt und auf einer höheren Ebene summiert und in Wechselwirkung treten lässt.

RADEK stellt meine Abrechnung mit den grauenhaften Verbrechen und radikal gescheiterten Utopien des 20. Jahrhunderts dar, die sich bis heute auswirken und ohne die unsere Gegenwart kaum zu verstehen ist. Der Mensch Karl Radek geriet in den Mahlstrom seiner Zeit: Die jüdische Herkunft aus der k.u.k. Monarchie, seine Mitwirkung an der russischen Revolution, seine Verstricktheit im Grauen des Totalitarismus stalinistischer Prägung, die soweit führte, dass der anfänglich utopistische Weltverbesserer und brillante Demagoge die Hitlerbewegung mit Hilfe Stalins unterstützte und letztlich selbst Opfer der Maschinerie wurde, an deren Aufbau er mitgewirkt hatte, zuletzt die Verurteilung zu Gefängnis und Deportation nach Sibirien, nachdem er seine letzten Freunde verraten hat: dies alles sind die Wegmarken eines Schicksals, dem der nicht entrinnen konnte.

Textautor und Komponist lassen ihn sich erinnern an die Jugend in Galizien; die Schatten des Judenhasses nochmals erleben; politisch agitieren; mit Rosa Luxemburg streiten; und immer wieder seine Begeisterung für die Revolution zeigen (die am Schluss nur noch die traurige Erinnerung an etwas ist, das hätte sein können, eine Idee, die vollkommen pervertiert worden ist); schildern die Ursprünge seines korrumpierten Funktionärsdenkens in der Szene vom plombierten Zug; trauern mit ihm um die gescheiterte Liebe zu seiner Frau Rose, lassen ihn mit Trotzki und den Stimmen seiner Imagination (alle Szenen spielen im Straflager, vielleicht sind sie alle eingebildete Phantasmagorien…) die Internationale singen, die Ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als Untote wieder auferstehen, seine Geliebte Larissa neuerlich verlieren an die Begeisterung für die Revolution, die er ihr ins Herz gepflanzt hat; mit Stalin über die Unterstützung der Nazis diskutieren; mit Hitler und Stalin ein jiddisches Lied singen: Lomir ale lusstik sajn, das vom surrealen Nachtmahr umkippen wird ins absolute Grauen (Zitate, Bruchstellen, Gegenmusiken aus dem Moorsoldatenlied der KZ-Häftlinge von Börgermoor, Schönbergs Überlebendem aus Warschau und aus dem Lacrimosa des Mozart-Requiems); er wird einen Engel, der ihm ein spirituelles Angebot macht, zum Teufel jagen; von der Ermordung Trotzkis in einer Art kollektiven Vorbewusstseins alptraumhaft – nicht eingreifen könnend – Zeuge sein (obwohl sie zu seinen Lebzeiten noch gar nicht stattgefunden hat); und schließlich aufs Neue seinen Prozess durchleben, an dessen Ende er sich selbst anklagt und nach der einzigen Musik, die als größere Einheit in der Oper wiederkehrt (vom Anfang, also den Kreis schliessend), in der er über das Brennen der Kälte im Straflager singt (die aber im Gegensatz zum Anfang dreimal unterbrochen wird von kurzen fragmentierten musikalischen Zitaten aus den drei sein Leben bestimmenden Einflusssphären: dem jiddischen Lied aus seiner Jugend, der Internationale und dem Horst-Wessel-Lied) das Resumée ziehen: Und es war doch nicht ….umsonst. Eine Feststellung also, die, durch die einkomponierte Pause, in ihrer Bedeutung unklar ist, ihr Gegenteil bedeuten kann, offen bleibt. Das Orchesternachspiel am Schluss der Oper deutet sein gewaltsames Ende, seine Ermordung auf Stalins Geheiss, an.

Immer wieder habe ich komponierend die Rolle des Regisseurs eingenommen: die Musik zeigt, wie die handelnden Personen denken und fühlen (auch wenn sie ewas anderes sagen oder zum Schein auf andere Art agieren als sie in Wahrheit fühlen), sie interpretiert und kommentiert. Das gesamte Stück beruht auf einheitlichem musikalischem Grundmaterial, das sich von der Großform bis in die kleinsten Verästelungen durchzieht, auch Übergänge und Transformationen zulassend. Insbesondere dient auch die Harmonik zur Charakterisierung: den dramatis personae wird eine je eigene harmonische Welt zugewiesen, die, entsprechend der Handlung, mit der Welt der anderen Personen interagieren kann.

Harmonischer Ausgangspunkt und Keimzelle für die Oper ist der RADEK-AKKORD: B-D-E-As-Des-Es, ein sechsstimmiges Gebilde, das immer wieder an Schlüsselstellen auftaucht. Die musikalische Sprache umschließt harmonische Flächen und Felder, Cluster (Darstellung des totalitären Grauens), zentraltonal gerichtete Flächen, freie aus dem Grund-material abgeleitete Harmonik und Akkordik, serielle und isorhythmische Prozesse, bis zu reinen Dreiklängen und tonalen Schichten aus den Zitaten und vor allem die Möglichkeit des sofortigen Übergangs und Umkippens zwischen all diesen Techniken, und wenn es die dramatische Situation erfordert, auch den Einsatz aller erdenklichen Entwicklungen, Schnittstellen und Metamorphosen. Eine besondere Rolle in diesem Werk spielen Zitate: wie heterogene Schichten lagern sie sich in der Welt der Figuren ein: Erinnertes, Wiederaufgetauchtes, Fremdes. Überlagert werden jiddische Lieder, die Wacht am Rhein, die Internationale, das Horst-Wessel-Lied, die Latino-Barmusik der Trotzki-Mord-Szene von den Schichten der Mutter, von Radek, von Stalin, von den Stimmen, von den Carioca-Girls. Die oft nur Sekunden dauernden Fetzen aus dem Moorsoldatenlied oder Schönbergs Überlebendem oder dem Mozart-Requiem nach der grotesken Hitler – Stalin – Radek – Szene wirken wie ein Mikro-Kontrapunkt der Düsternis, gleich dem nur Augenblicke gezeigten Foto des sich mit erhobenen Händen der SS ergebenden kleinen jüdischen Jungen aus dem Warschauer Getto-Aufstand in Ingmar Bergmans Film Persona.

Zur Gesamtdarstellung dieser komplexen psychologischen Welten und Vorgänge mit ihren Phantasmagorien und Handlungsknoten zwischen politischer Agitation, lyrischen Momenten, sprachlosem Grauen, ins Extrem getriebenen dramatischen Entwicklungen, surrealen Alpträumen und menschlichen Katastrophen musste auch die Kompositionstechnik eine komplexe und die Gesamtheit der Mittel auslotende sein, allerdings gezähmt von einem Willen zur Einheit in der Vielfalt, mit dem Ziel, alle Mittel einem dramaturgischen Ganzen unterzuordnen.

Fotos: andereart

Richard Dünser