Porträt: Alexander Wagendristel

Auch auf Empfehlung des mica wurde Alexander Wagendristel vom Expo Office Austria beauftragt, als Komponist für den Pavillon Österreichs bei der Weltausstellung in Shanghai Kompositionen zu schaffen. Diese sollen von der Musikerin Electric Indigo im elektronischen Bereich künstlerisch weitergesponnen  werden und  von einer kammermusikalischen Besetzung von insgesamt 12 MusikerInnen (Violine, Cello, Klarinette, DJ) abwechselnd gespielt werden. Über den 1965 in Wien geborenen Komponisten und  Flötisten – seit 1987 1. Flötist im Orchester der Vereinigten Bühnen und im 2002 von ihm neu mitbegründeten „ensemble reconsil“, das sich der Aufführung neuester Musik widmet – hier ein längst fälliges Porträt.

Für dieses eilte der Vielbeschäftigte zur Vormittagsstunde ins Cafe Rüdigerhof, um mit Heinz Rögl zusammenzutreffen. Zwischendurch klingelte auch hin und wieder sein Handy. Denn Wagendristel organisiert auch die Proben und disponiert Probenzeiten des Ensembles reconsil, kopiert Stimmen, sucht eine(n) gute(n) Geiger(in), der/die Zeit hat, ein neues Stück einzustudieren, erklärt Susanne Kirchmayer (=Electric Indigo), wie eine Komposition von ihm sein wird und wann sie davon etwas hören und auch sampeln kann.

Seine nach Besetzung (Solo, Stimme, kleines und großes Ensemble, Orchester, Bühne usw.) auch in Englisch abgefasste Werkliste (er hat sie uns „renoviert“ überreicht) füllt und spricht Bände; mehr noch die vielen Interpreten, mit denen er zu tun hatte und hat.

Schon 1974 erhielt Wagendristel ersten Flötenunterricht, studierte von 1980 bis 1990 an der Musikhochschule Wien und erhielt Unterricht in Flöte bei Werner Tripp,  Komposition besuchte er bei Friedrich Neumann, Heinrich Gattermeyer und Erich Urbanner. 1988 folgten der Besuch der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik und ein Meisterkurs von Aurèle Nicolet. 1988-1992 war er Mitglied der Improvisationsgruppe „Things of NowNow“, bevor er dann 2002  mit Roland Freisitzer und Thomas Heinisch das ensemble reconsil gründete, das schon seit nunmehr 2007 auch einen wichtigen Zyklus im Arnold Schönberg Center bestreitet.

„Things of Nowow“ ist für ihn eine wichtige Station gewesen, bei der wir in unserem Gespräch eine Zeit lang verweilten. Denn mit seinem  damaligem Kompositionsstudium-Kollegen Lukas Ligeti, der sich als Schlagzeuger betätigte und bereits damals versuchte mit elektronischem Schlagzeug und elektronischer Marimba polymetrisch zu arbeiten, bildete Alexander Wagendristel gemeinsam mit  Friedrich Neubarth (Blockflöten, „Tröten“) und dem Kontrabassisten Christian Minkowitsch dieses  Improvisationsensemble. Auch Christof Dienz könnte zum Beispiel von Lukas Ligeti viel erzählen, der einfach als der beste Kenner nicht nur der akustischen Improvisationsszene (er nahm an Workshops mit John Zorn, George Crumb, and David Moss, aber auch an den Darmstädter Ferienkursen teil), sondern auch der afrikanischen Musik und der Zusammenarbeit mit „traditionellen“ Musikern gilt. 1996 war Ligeti einer der Wien Modern-Komponisten (Auftragskomposition, UA zusammen mit den Musikgruppe Be-Ta-Foli, hervorgegangen aus einem Schlagzeug-, Elektronik- und Improvisationsworkshop in Abidjan (Cote d’Ivoire).  Erst kürzlich erhielt der nun in New York/Brooklyn lebende österreichische Komponist und Interpret etwa von der Londoner Zeitung „Guardian“ enthusiastische Kritiken seines neuesten Programmes mit dem Ensemble Burkina Electric, mit dem er derzeit wieder tourt.

Zurück zu Alexander Wagendristel, aber zuvor noch einmal eine Verbindung seiner Person und seines Schaffens zu dem Namen Ligeti: Nämlich zu Lukas und auch zu  György Ligeti. Über das 2007 vom ensemble reconsil  uraufgeführte Werk „Banshee“ (das Solo spielt eine  „singende Säge“) schreibt Wagendristel nämlich in seiner Werkcharakteristik für RE:NEW, die auch auf der Website des Projekts zu finden ist: „Although I was a member of Lukas Ligeti’s improvisation group project ‚Things Of NowNow’, I met his father only once. Still, his music was a main influence on my musical thinking and a constant inspiration in finding my own way. According to Jorge Luis Borges a Banshee is more a wailing sound (called “keening”) than a figure. The Banshee’s voice strikes the Celtic people with awe by announcing the death of a family member. In my piece it symbolizes the constant presence of death in our life. In the final section of this work I included a musical quote from György Ligeti’s opera ‘Le Grand Macabre’, a passacaglia theme to the words: “Fear not to die, good people all!/ No one knows when his hour will fall./ And when it comes, then let it be…/ Farewell, till then – live merrily!”

Alexander Wagendristels Schaffen lässt sich –  wie er im Großen und Ganzen bestätigte – grob in bisher 4 Stilphasen einteilen:

Die Frühphase (erste Versuche machte er aber schon mit 4 Jahren) 1980-1987 während seines Studium wäre stilistisch eher „konservativ-epigonal“ gewesen, 1988-1994 erfolgte durch die Arbeit mit der Gruppe Things of NowNow die Ausbildung eines durch György Ligeti, Igor Strawinsky und die Minimalisten angeregten, bereits sehr persönlichen Stils, der von Polymetrik und “verbogener” Tonalität gekennzeichnet ist. Die mit 1994-2002 umrissene Werkphase brachte eine weitere Annäherung an die Klangsprache der europäischen Avantgarde, wenngleich der Ansatz mit Polymetrik und dominierender Rhythmik erhalten blieb.  Hinzu kommt die Ableitung der Tonhöhen aus der Obertonreihe – Proportionen spielen auch im rhythmischen Bereich in dieser Phase eine bedeutende Rolle. Verstärkt wird Mikrotonalität eingesetzt.

Von 2003 bis heute gibt es auf Basis der vorhergegangenen Erfahrungen eine Ausbildung des vom Komponisten selbst als “seine eigene Sprache” empfundenen Stils, dessen Hauptelemente Heterophonie, Hoketus-Techniken, eher locker gehandhabte Mikropolyphonie, Wechsel- und Polymetren bilden, dessen Tonmaterial aus der Obertonreihe abgeleitet wird – nun durchaus mit verstärkt tonal gefärbten Klängen, „die aber nie in ein Retrogefühl abdriften.“ Deutlich merkbar sind auch Einflüsse aus Rock und Jazz sowie außereuropäischer Ethnomusik.

In den achtziger Jahren schrieb Wagendristel vor allem kammermusikalische Werke, bereits 1986 wurde im Österreichischen Rundfunk seine 1.Symphonie („Torso“) uraufgeführt, die er 1996 noch einmal  revidierte und dann auch gleich noch eine Symphonie Nr.2. für 4 Percussionisten und Kammerorchester komponierte.

1991-95 schrieb er eine bemerkenswerte Oper in zwei Akten  („Der Narr“ nach E.A. Poe), die von der Neuen Oper Austria im Schlosstheater Schönbrunn mit großem Erfolg zur Aufführung gelangte. Auch eine Kurzoper über Adam und Eva („The Very First Soap Opera“, 1997) hat er verfasst, die in Berlin-Neukölln aufgeführt wurde und einen Preis des Berliner Opernwettbewerbs erhielt. Bereits 1994 führte NetzZeit (Nora & Michael Scheidl) das Singspiel „Die Liebe zu den 3 Orangen“ für 9 Sänger, 2 Schauspieler und Violine, Trompete, Piano und Tape auf.

Als Flötist im Orchester der Vereinigten Bühnen, auch bei Musical-Produktionen, beschäftigte er sich seit langem mit der Musical-Komposition. Sein Musical über den Gründer des Roten Kreuzes Henry Dunant – „soll heuer im Sommer fertig sein“. Neben dem Komponieren verlegte er sich auch immer wieder auf das Arrangieren, etwa für Ensembles wie die Vienna Horns oder das Blechbläserquintett Art of Brass, im Ensemble reconsil entstanden aber etwa auch respektable Schönberg-Bearbeitungen für Kammerensemble. Seine  exorbitanten handwerklichen und satztechnischen Fähigkeiten kommen ihm dabei zugute zwischen unterschiedlichsten musikalischen Sprachen zu wechseln.

Wagendristel lacht: Er hat keine Angst vor Anklängen an die Tonalität oder davor, als konservativ eingeordnet zu werden. Viele der vom Ensemble Kontrapunkte im Brahms-Saal des Musikvereins sowie vom ensemble reconsil bereits aufgeführten Stücke sind von Offenheit gekennzeichnet – 2006 entstand etwa „Fruit“, ein Werk, dass er damals gegenüber Daniel Ender in einem Artikel für die Zeitschrift „Musikfreunde“ als eine „rhythmisch geprägte Symbiose aus György Ligeti, John Adams und Joe Zawinul“ bezeichnete.

Das ensemble reconsil ist neben dem Klangforum Wien (RE:NEW-Music-Konzert am 2. März mit nordischen Komponisten im ORF-Radiokulturhaus) ebenso mit in Bälde erfolgenden Konzerten an dem europäischen Austausch-Projekt beteiligt. Von der Komponistin und Bratscherin Julia Purgina wird in Paris und Kopenhagen das Stück „Flashroom“ aufgeführt,  Alexander Wagendristels „Banshee“ (für singende Säge und Ensemble, auch von der Cellistin Maria Frodl gespielt) wird im Brüsseler Cirque Royal aufgeführt werden. ensemble econsil selbst performt im März und Juni Werke von KomponistInnen aus den Partnerländern im Schönberg Center. Etwa „Werke von kroatischen und slowakischen Komponisten sowie von Julia [Purgina] und Roland [Freisitzer]“.

Über die Anfänge des ensemble reconsil erzählte schon Roland Freisitzer im mica-Interview (siehe Link): „Wir hielten uns – wie andere auch – für ganz gute Komponisten und waren der Meinung, dass es an der Zeit wäre, dass wir und andere Komponisten auch aufgeführt werden (…) Wir waren eine Clique von Komponisten, die eine Art Selbsthilfegruppe bildeten. Wir haben es zwar gehofft, aber nicht wirklich geglaubt, dass wir uns als Ensemble lange werden halten können. Schon im ersten Jahr erhielten wir eine Einladung zu einem Festival in Ohrid. Das Ministerium sagte uns mündlich die Übernahme der Flugkosten zu, wir buchten über ein Reisebüro die Tickets und erhielten dann vom Ministerium Bescheid, dass die Flugreise nicht gezahlt wird. Wir kamen mit den Stornogebühren davon, Alexander Wagendristel hat aus eigener Tasche einen Bus gemietet und mit dem sind wir dann nach Mazedonien gefahren. 25 Stunden hat die Fahrt gedauert, dann waren wir 22 Stunden in Ohrid, Rückfahrt wiederum 24-25 Stunden. Diese Reise hat uns so zusammengeschweißt, dass dieser erste Kern von sechs Musikern plus Dirigent, die wir waren, beschlossen hat, wir wollen das weitermachen, auch wenn es nicht wirklich Geld gibt dafür. Anfänglich probten wir in einer Privatwohnung, wir machten in der „Stadtinitiative“ Konzerte, die Saalmiete bezahlten wir selbst.“

Etwa 2008/09 spielte das Ensemble Uraufführungen von 16 Komponisten, davon viele aus Österreich. Vieles auch von Wagendristel ist in den reconsil-Programmen vertreten. Zu den Interpreten von Werken Wagendristels zählten in den letzten zwanzig Jahren aber auch das Koehne Quartett, Rupert Bergmann, Manfred Equiluz, sehr oft das Ensemble Kontapunkte unter Peter Keuschnig, aber auch das ensemble ALEA Dresden, die Neuköllner Oper oder die Czech Virtuosi (im Konzerthaus Wien).
Heinz Rögl

 

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