„LIGETIS MUSIK HAT MEIN LEBEN UND MEINE EINSTELLUNGEN VERÄNDERT“ – ANNA IHRING IM MICA-INTERVIEW

ANNA IHRING ist Koloratur-Sopran, damit wird in der klassischen Musik eine sehr bewegliche Stimme in den hohen Registern bezeichnet. Im Gespräch mit Jürgen Plank erzählt ANNA IHRING über Volksmusik-Traditionen und über den besonderen Einfluss von György Ligeti auf ihr Leben und Wirken. Ihrings höchster Ton ist das viergestrichene Dis. Zur Orientierung: die berühmte Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte schwingt sich bis zum dreigestrichenen F auf. Vor kurzem hat Ihring an der Mailänder Scala in der Oper „The Tempest“ gesungen und so ihrer Karriere ein weiteres Highlight hinzugefügt.

Opernsänger:innen entstammen oft Familien, in denen die Generationen davor auch Musiker:innen bzw. Sänger:innen waren. Wie ist das bei dir?

Anna Ihring: In meiner Familie sind keine Musiker:innen. Da war die Architektur vorherrschend. Musik war für mich bereits als Kind interessant, ich wollte schon als Kind Melodien nachsingen und habe auch damals sehr hoch gesungen. Wir hatten ein Gartenhaus und ich habe als Kind den Gesang der Vögel imitiert. Im Gymnasium habe ich mit Gesang weiter gemacht und hatte auch andere Interessen, aber irgendwann war mir klar, dass ich vor allem singen möchte.

Du hast also den Gesang der Vögel nachgeahmt. Besonders am Vogelgesang ist doch, dass er keinem Schema folgt.

Anna Ihring: Doch, der Vogelgesang hat ein Schema. Ich nehme an, dass auch Mozart bei der Arie der Königin der Nacht Vogelgesang nachgestellt hat. Bei Vögeln gibt es verschiedene Motive und es gibt Gesangstypen, da gibt es schon eine Ordnung.

„Mit der Stimme kann man sehr vielfältig arbeiten, vom Schrei bis zum klassischen Gesang“

Wie kam es, dass du das Fach Koloratur-Sopran gewählt hast?

Anna Ihring: Das ist schwer zu erklären: es war bequem für mich. Und es war spannend und interessant wie das funktioniert, und wie man die Stimme stabilisieren kann. Ich habe an der Franz-Liszt-Akademie, an der Universität für Musik in Budapest studiert: Gesang, Lied und Oratorium. Das war meine klassische Ausbildung und danach ist mein wirkliches Stimmfach während der Corona-Zeit herausgekommen, weil ich Ruhe hatte. Man versucht immer besser und besser zu werden und mit dem Klang zu arbeiten. Mit der Stimme kann man sehr vielfältig arbeiten, vom Schrei bis zum klassischen Gesang. Ich habe mit meiner Stimme experimentiert.

Und so hast du entdeckt, dass du insbesondere hohe Koloraturen singen kannst?

Anna Ihring: Ich hatte in der Höhe B3, mein höchster Ton war das dreigestrichene B. Ich wusste aber nicht, dass ich sogar bis zum Dis4, dem viergestrichenen Dis komme. Das war ein Triller, den ich bei einem Auftritt in der Alten Schmiede ausgesungen habe. Ich weiß nicht warum, aber das Dis4 war einfach da.

Bild Anna Ihring
Anna Ihring (c) Armin Bardel

Wenn dich eine Anfrage erreicht, könntest du auch zum Beispiel in „Aida“ oder „Tosca“ singen?

Anna Ihring: Nein, das ist nicht mein Fach. Die Königin der Nacht oder Olympia in Hoffmanns Erzählungen von Jaques Offenbachkönnte ich schon singen, die sind kurz, hoch und bravourös.

Was macht nun das Koloratur-Sopran-Singen für dich aus? Was ist die Herausforderung dabei?

Anna Ihring: Das ist eine sehr komplexe Frage, denn die Herausforderung ist nicht, Koloratur zu singen, sondern die Herausforderung ist der Höhe eine Bedeutung zu geben. Warum mache ich das und warum möchte ich das dem Publikum präsentieren? Weil es für mich eine ganz einfache Ausdrucksform ist. Zum Beispiel: Verrücktheit, Liebe, Erotik kann man mittels einer Komposition ausdrücken. Oder Angst. Das ist etwas Spezielles und ich mag es, etwas Besonderes und nicht das zu tun, was alle machen. Ich möchte lieber etwas machen, was wenige machen.

Bei der Styriarte in Graz hast du ein neues Werk des Komponisten Gerd Kühr gesungen. Wie war das?

Anna Ihring: Das war ein Benefiz-Projekt für die Ukraine. Gerd Kühr hatte eine Idee in Bezug auf meine hohen Töne. Das Stück hieß „Versuch über das Unbegreifliche“ und das ist für vier Frauenstimmen und für Schlagwerk, für Schlagzeug. Diese Uraufführung war ein großer Erfolg, es war sehr viel Publikum da. Die Proben waren schwierig, wir haben zwei Mal geprobt und es war große Konzentration nötig.

Wie näherst du dich einem neuen Werk für eine Uraufführung an?

Anna Ihring: Ich rede viel mit dem Komponisten oder der Komponistin, um zu erfahren welche besondere Vorstellung zur Umsetzung er oder sie hat. Ich muss wissen, was sie möchten, weil es wichtig ist, dass meine Stimme das Stück unterstützt. Dann bekomme ich die Partitur und singe schon mal zu Hause, und dann kommen die Proben. Proben können eine schwierige Situation sein, man muss auf die Gruppendynamik aufpassen. Wenn es mit der Gruppendynamik klappt, funktioniert das Stück auch gut. Das gilt für die Oper und alle Bereiche, in denen man mit anderen Menschen zusammenarbeitet.

Du hast bei der filmischen Umsetzung des Requiems „Abschiedsstück“ mitgewirkt. Der Text stammt vom Autor Wolf Wondratschek.

Anna Ihring: Paul Hertel hat die Musik komponiert, in den 1980er-Jahren. Er hatte die Idee die extrem hohen Töne als Ausdrucksform zu verwenden. Paul wollte meine Persönlichkeit als Schauspielerin sehen, die Frauenrolle, die die Geschichte erzählt, ist ein anderer Typ als ich. Wir haben einen Mittelweg gefunden, viel über diesen vielfältigen Text gesprochen und den Charakter miteinander aufgebaut. Das ist eine leidende Frau, aber eine starke Frau, die wegen eines Todesfalls leidet. Wondratschek hat den Text über seinen eigenen Tod geschrieben und die Partnerin erzählt diese Geschichte.

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Hast du als Sängerin jemals andere Richtungen versucht, etwa Pop- oder Rockmusik?

Anna Ihring: Ich habe nie in einer Pop- oder Rockband gesungen, schon als Teenager habe ich ungarische Volkslieder gesungen, auch Renaissance-Lieder. Pop- und Rockmusik lief ständig im Radio, das hat mich nicht so interessiert. Ich habe für mich immer das gesucht, was eher selten zu hören ist.

Das heißt, du hast schon als Teenager in Ungarn Jenő Takács und Béla Bartók gesungen? Bartók hat in seine Kompositionen auch Volksmusiktraditionen einfließen lassen.

Anna Ihring: Zoltán Kodály und Béla Bartók, ja. Die habe ich in der Musikschule gesungen. Diese Komponisten haben Einflüsse von Volksliedern in ihre Werke eingebaut und auf Reisen ungarische Traditionals gesammelt.

Wieso hat dich in jungen Jahren Volksmusik begeistert?

Anna Ihring: Vielleicht, weil Volksmusik leicht zu singen ist und weil man sie mit anderen gemeinsam singen kann. Und auf Reisen habe ich immer wieder neue Lieder kennen gelernt. So bekommt man eine Art persönlichen Unterricht.

Im Jahr 2020 hast du in Wien bei der Aufführung von György Ligetis „The Mysteries of the Macabre“ mitgewirkt. Was schätzt du an seinem Werk und was ist schwierig bei der Interpretation?

Anna Ihring: Ligeti ist mein Lieblingskomponist. Ligetis Musik hat mein Leben und meine Einstellungen verändert. Das klingt vielleicht komisch, aber das ist so. Es ist schwer, Ligeti zu singen, aber ich genieße es seine Musik einzustudieren. Seine Musik hat so positive Nebenwirkungen, sodass man diese Schwere mit Leichtigkeit einstudieren kann. Ich weiß nicht, warum er so komponiert, wie er das eben macht, aber ich spüre die Freude. Im Jahr 2020 habe ich Ligeti zum ersten Mal live gesungen und obwohl es wahnsinnig schwer war, habe ich immer die Freude gespürt. Davor habe ich immer klassische Sachen gesungen, mit einfachen Intervallen, die gibt es bei Ligeti nicht. Das war eine sehr gute Erfahrung für mich.

Was hat Ligeti genau für dich verändert? Deinen Zugang zur Musik oder ist die Veränderung sogar noch weiter reichend?

Bild Anna Ihring
Anna Ihring (c) Armin Bardel

Anna Ihring: Weiter reichend. Ich denke, ich bin in eine positive Richtung verändert worden, jetzt habe ich mehr Geduld. Früher hatte ich wenig Geduld. Jetzt kann ich besser mit Menschen kommunizieren, ich stelle keine Erwartungen mehr an andere, aber ich freue mich, wenn ich etwas geben kann und etwas bekomme. Früher wollte ich eher das sagen, was die Leute hören möchten und jetzt fühle ich mich frei und sage das, was ich möchte. Dabei beleidige ich aber niemanden, weil meine Aussagen auch nicht böse gemeint sind. Das ist eine große Freiheit für mich und das hat auch mit Ligetis Musik zu tun und ist selbst ein kleines Rätsel für mich. Das Rätsel muss gar nicht gelöst werden, weil sonst vielleicht der Zauber verloren geht. Ich würde gerne Ligeti singen, begleitet von einem Orchester. Ich habe alle Koloratur-Sopran-Partien von Ligeti einstudiert.

„Es freut mich sehr, dass ich mit dem Orchester der Scala singen durfte und dass ich Maestro Thomas Adès mit meinem hohen G begrüßen durfte“

Du hast in der Oper „The Tempest“ von Thomas Adès im November 2022 am Teatro alla Scala in Mailand gesungen. Wie war das?

Anna Ihring: „The Tempest“ ist eine Oper, die ich sehr mag. Die Anfrage einzuspringen, ist ganz kurzfristig gekommen, ich wurde eines Abends angefragt und bin am nächsten Tag in der Früh nach Mailand geflogen. Es freut mich sehr, dass ich mit dem Orchester der Scala singen durfte und dass ich Maestro Thomas Adès mit meinem hohen G begrüßen durfte. Das Orchester hat mir applaudiert. Die Erstbesetzung war kränklich und zunächst war es für mich ein Probenengagement an der Scala, für eine Woche. Aber ich sollte dann doch länger bleiben. Für den Fall, dass die Erstbesetzung ausfällt, sollte ich vor Ort sein und singen. Ich hatte sehr gute Proben, auch mit den Akrobaten, auch das ist gut gelungen, weil ich eine Vorbildung im Bereich Akrobatik habe. Und es war toll mit dem Bariton Leigh Melrose zu singen, der ein großartiger Sänger ist und immer auf hohem Niveau agiert hat.

Wie oft hast du die Partie Ariel in „The Tempest“ an der Scala gesungen?

Anna Ihring: Die fünf Vorstellungen waren alle ausverkauft und sehr erfolgreich. Es freut mich, dass ich helfen konnte und als Cover (Anm.: Sängerin, die kurzfristig einspringt) ein Teil des Stückes war. Es ist mir eine große Freude und Ehre, dass ich drei Wochen lang in der wunderbaren Musik des Komponisten und Dirigenten Thomas Adès leben und unter der großartigen Leitung von Dominique Meyer und den sehr professionellen Mitwirkenden des Teatro alla Scala bei der Realisierung der Produktion mit meinen extremen Höhen und akrobatischen Fähigkeiten helfen durfte. Die Werke von Thomas Adès sind ohnehin Lieblingswerke von mir. Ich lebe für die Kunst und als ich in Mailand und an der Scala angekommen bin, habe ich mich komplett am richtigen Ort gefühlt. Ich spürte, dass ich in dieses Stück gehöre. Ich habe auch immer wieder von diesem Stück geträumt.

Du singst nicht nur an der Scala und der Wiener Staatsoper, sondern hast auch in der Nähe der Oper, auf der Kärtner Straße, gesungen. Wie war das?

Anna Ihring: Das war ein großer Spaß und zum Üben, aber das mache ich jetzt nicht mehr. Alle Sänger:innen probieren irgendwo Dinge aus, egal wo. Auf der Straße habe ich genau gesehen, wie das Leben funktioniert: Ich habe die Bettlermafia erkannt und die ganze Straße beobachtet. Zugehört haben mal 20 Leute und manchmal auch 100 Leute und ein Mal bin ich in einen Konflikt im Zusammenhang mit den Bettlern geraten und habe eine Ohrfeige bekommen. Manchmal wurde ich auch gestört und das Publikum aus aller Welt hat mich ein oder zwei Mal vor kleinen Attacken geschützt. Ich habe auf der Straße gelernt, worauf man achten muss und worauf nicht: im Leben und beim Singen. Störungen gibt es auch im Leben, wenn man etwas verwirklichen möchte. Man muss spüren, wann es Sinn macht in den Konflikt zu gehen und wann man besser weggeht.

Herzlichen Dank für das Interview.

Jürgen Plank

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