„Ich will auf keinen Fall der Posterboy für eine Generation sein“ – SILVIO LENGLACHNER (NEW WELLNESS) im mica-Interview

Die Indie-Gitarren sind verschwunden, Trap-Beats poltern jetzt aus dem Computer. SILVIO LENGLACHNER hat sich nach dem Ende der österreichischen Band WE WALK WALLS Zeit genommen und als NEW WELLNESS neu erfunden. Auf seinem Solodebüt „Lexicon Of Untold Stories“ führt er in eine Welt zwischen Emo-Rap und Synthesizer-Maximalismus. Im Gespräch mit Christoph Benkeser erzählt SILVIO LENGLACHNER, warum er im Kosovo das Interesse am Musikmachen wiederentdeckt hat, wie Existentialismus und Netflix zusammenpassen und wieso die Antwort auf Angst vor der Leere auch visuelle Überaffirmation sein kann.

Vor vier Jahren hast du dein erfolgreiches Bandprojekt We Walk Walls aufgelöst und danach längere Zeit im Kosovo verbracht. Was hast du dort gemacht?

Silvio Lenglachner: Ich habe in Prizren mit dem Kino Lumbardhi zusammengearbeitet. Das ist eine Gruppe an jungen Leuten, die sich Kultur aneignen und versuchen, das Format Film in eine Gesellschaft zu bringen, die sich davon distanziert hat. Im Kosovo war der Film, speziell nach dem Krieg, nicht wirklich relevant. Das Medium erfüllte zuerst Propagandazwecke, später gab es hauptsächlich Erotikfilme. Eine junge Generation möchte das ändern.

Wie hast du den Kontakt hergestellt?

Silvio Lenglachner: Das hat sich zufällig ergeben. Nach der Auflösung von We Walk Walls wollte ich von Österreich weg. Ich habe mit Bekannten geschrieben, der Kontakt nach Prizren hergestellt. Die Leute haben mich mit offenen Händen empfangen.

Wie hat sich diese Zeit auf dein Interesse an der Musik ausgewirkt?

Silvio Lenglachner: Ich habe im Kosovo ein Filmfestival besucht, das die Dokumentation über die Sängerin M.I.A. [„Matangi / Maya / M.I.A.“, Anm.] gezeigt hat. Für mich war der Film ein Knackpunkt. Ich wusste plötzlich, dass ich Musik wieder ernst verfolgen möchte. Es haben sich davor zwar viele Themen angestaut, die ich loswerden wollte. Der Antrieb und der Spaß an der Musik kamen aber erst zurück, als ich den Film gesehen habe.

„Ich wollte keine Gesellschaftsanalyse produzieren.“

Dein Solodebüt auf Wohnzimmer Records heißt „Lexicon Of Untold Stories“. Welche unerzählten Geschichten erzählst du darauf?

Silvio Lenglachner: Ich habe versucht, meine Umgebung bewusster wahrzunehmen und daraus Erkenntnisse abzuleiten, die in meine persönliche Geschichte einfließen. Manche Geschichten führen auf persönliche Erlebnisse mit Personen zurück, die mich umgeben. Andere beziehen sich auf allgemeine Beobachtungen, die ich in eigenen Worten wiedergebe. Ich wollte aber keine Gesellschaftsanalyse produzieren. Das ist nicht meine Aufgabe.

Bild New Wellness
New Wellness (c) Wohnzimmer

Der New Wellness-Sound ist eine Mischung aus melancholischem Emo-Trap und maximalistischen Pop-Refrains. Zwei unterschiedliche Pole, die sich in deinem Fall nicht abstoßen. Hast du die beste beider Welten gefunden?

Silvio Lenglachner: Das ist die Überlegung hinter der Albumproduktion. Du sprichst Emo-Trap an. Das ist ein neues Genre, das ich, auch in Verbindung mit Lo-Fi-Pop, interessant finde. Deshalb wollte ich diese Einflüsse zusammenlaufen lassen. Diese Entwicklung manifestiert sich in meiner Musik. Ich höre und kenne mehr – und versuche dieses Wissen zu kombinieren.

„Ich weiß, dass es sich um eine Thematik handelt, die eine ganze Generation beschäftigt.“

Während des Hörens musste ich an die Musik des verstorbenen US-Rappers Lil Peep denken. Nicht nur wegen der Produktion, sondern weil das große Thema am Album ein Überleben in einer Welt sei, die uns nicht viele Chancen gibt, wie du im Gespräch mit FM4 gesagt hast. Aus welcher Perspektive artikuliert sich dieses „uns“?

Silvio Lenglachner: Ich gehe von mir aus, bin mir aber bewusst, dass es sich dabei um eine Thematik handelt, die eine ganze Generation beschäftigt. Viele Leute in meinem Alter können mit diesem Gefühl etwas anfangen. Sie kennen die Situationen, die ich in meinen Songs einzufangen versuche. Ich denke vor allem an die Chancen und den Ausblick, der uns fehlt.

New Wellness, dein Projektname, lässt sich in dieser Hinsicht auch als subtiler Hinweis auf einen Management-Euphemismus für die Generation Y verstehen – fit, vernetzt, flexibel-optimiert, aber ohne fixen Job und in einem ständigen struggle mit sich selbst.

Silvio Lenglachner: Das bringt es auf den Punkt. Wenn man „New Wellness“ googelt, kommt man zu einem Buch namens „The New Wellness Revolution. How to Make a Fortune in the Next Trillion Dollar Industry“. Dieses Buch beschreibt eine neue Wellness-Strömung in der Gesellschaft und wie man durch sie reich werden kann. Es bezieht sich auf Selbst-Optimierung, selbst in einem Bereich wie Wellness. Das ist völlig verrückt.

„Das bringt ein eskapistisches Moment mit sich, das aber gar nicht schlecht ist. Es ist vielmehr eine Form von Therapie.”

Das Album drehe sich aber, so schreibst du in der Ankündigung auf Instagram, neben diesen Ängsten und dem persönlichen Kampf mit all dem „Shit“ da draußen auch um Netflix-Filme und High Waist Jeans. Wie geht das für dich zusammen?

Silvio Lenglachner: Popkultur, gerade auch Netflix, erfüllt den Zweck, uns zu betäuben. Das mag überzogen klingen, aber suchen wir nicht alle einen Ausweg in der Unterhaltung, um uns zumindest für einen kurzen Moment zufrieden zu fühlen und Spaß zu haben? Diese Momente können wir in einem Kevin James-Film finden, der eine einfachere Story hat, uns aber für zwei Stunden zum Lachen bringt. Und darum geht es. Man kann sich schlecht fühlen und trotzdem – oder gerade deswegen – für die Dauer eines Films ausklinken. Das bringt ein eskapistisches Moment mit sich, das aber gar nicht schlecht ist. Es ist vielmehr eine Form von Therapie.

Bild New Wellness
New Wellness (c) Wohnzimmer

Die existenzielle Leere in einer spätkapitalistischen Gesellschaft hat der Kulturtheoretiker Mark Fisher als „depressive Hedonie“ beschrieben. Unfähig, anderes außer dem eigenen Genießen zu verfolgen, existiert zwar eine vage Ahnung, dass etwas fehlt – aber man kann dieses „etwas“ nicht benennen, weil man immer auf der Suche ist nach dem nächsten „Klick“, dem nächsten „Like“, dem nächsten „Dopamin-Push“ sind.

Silvio Lenglachner: Das würde ich bis zu einem gewissen Grad unterschreiben. Auf der anderen Seite finde ich es problematisch, weil es die Probleme der Generation Y herunterspielt. Man bezeichnet uns oft als „Snowflakes“, die alles besitzen, aber trotzdem traurig sind, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Das mag teilweise stimmen. Aber: Während die Generation X [zwischen 1961 und 1980 geborene Menschen, Anm.] noch stark von ihrer Ausbildung und Motivation profitieren konnte, schauen wir durch die Finger. Wir sind zwar bereit zu arbeiten, motiviert und gut ausgebildet, bekommen dafür aber nichts zurück. Die Karriereleiter ist für uns steiler – und damit schwerer zu erklimmen, weil die Positionen von Menschen besetzt sind, die in einer anderen Gesellschaft sozialisiert wurden. Wir stoßen gegen eine gläserne Decke, die wir als Grenze wahrnehmen. Eine Grenze, die zu Ernüchterung und Depression führen kann.

Auf dem Song „Original Characters“ singst du: „I got everything I need, this shit is motherfreaking right / Now we are happy all the time.“ Das vereint ein fast schizophrenes Denken. Auf der einen Seite besitzen wir alles. Trotzdem geht es uns nicht gut.

Silvio Lenglachner: Du hast Recht. Es ist nicht anzunehmen, dass es dem Erzähler wirklich gut geht, wenn er behauptet, dass er alles habe. Der Kontext ist entscheidend. Ich erzähle in meinen Liedern oft mehrere Geschichten gleichzeitig. Manchmal sind das – wie in diesem Fall – nur kurze Phrasen oder Zweizeiler. In Sachen „Songwriting“ lasse ich mich von Alex Turner [Frontmann der Indie Rock-Band Arctic Monkeys, Anm.] inspirieren. Er ist der Kaiser der Zweizeiler, sagt viel in wenigen Worten. Und da setze ich an: eine Geschichte zu erzählen und Spaß zu haben, indem ich mit einzelnen Sätzen maximale Emotion einfange. In meinen Texten findet man immer wieder Passagen, die aus dem Kontext auszubrechen scheinen – aber dann doch Sinn ergeben.

„Lexicon Of Untold Stories“ widerspiegle das Lebensgefühl der Generation Y, schreibt FM4. Stört es dich, dass man dich nun als Sprachrohr der Millennials einordnet?

Silvio Lenglachner: Ich muss diesen Prozess selbst noch verarbeiten, um ihn einordnen zu können. Aber klar: Wenn man ein Album schreibt, das einen roten Faden zieht, muss man damit rechnen, dass es die Leute anhand dieses Fadens framen. Das Lebensgefühl, und hier spreche ich für mich, ist auf der Platte ein zentrales Thema, das mich emotional berührt. Ich hätte mir aber nicht gedacht, dass mich die Berichterstattung in diese Richtung drückt. Ich will auf keinen Fall der Posterboy für eine Generation sein.

„Irgendwann habe ich seine Musik so oft konsumiert, dass mir der Sound tatsächlich gefallen hat.“

Im Video zu „Treat Yourself“ sieht man Donuts, bunte Pillen und Geldbündel über pastellfarbene Hintergründe kreiseln, auf denen verpixelte Delfine zwischen Palmen schweben – die instagramisierte Überaffirmation, komprimiert in dreieinhalb Minuten. Welche Aspekte möchtest du damit vermitteln?

Silvio Lenglachner: Ich muss kurz ausholen: Hast du damals Musik von Money Boy gehört? Ich habe das am Anfang nicht ernst genommen. Irgendwann habe ich seine Musik aber so oft konsumiert, dass mir der Sound tatsächlich gefallen hat. Ich lernte die Kultur des damals entstehenden Traps zu schätzen. Plötzlich war es ernst, die Ironie fiel weg. Dadurch konnte ich den künstlerischen Kontext verstehen. Die Ästhetik, die ich in dem Video zu „Treat Yourself“ gewählt habe, greift diesen Übergang, diese Entwicklung zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit auf. Deshalb wirkt das auch so überbordend.

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Gleichzeitig sind die Indie-Gitarren von We Walk Walls verschwunden. Trap-Beats und Synthesizer kommen aus dem Computer. Wie war es für dich, ohne Band zu arbeiten?

Silvio Lenglachner: Es war das erste Mal, dass ich ohne Band gearbeitet habe. Deshalb hat es gedauert, bis ich mich an das neue Arbeitsumfeld gewöhnt habe. Vor allem die technische Umsetzung der Produktion stellte sich auf den Kopf. Auf einmal haben sich viele Fragen aufgetan: Welche Tools möchte man nutzen? Wie weit geht man mit den unbegrenzten Möglichkeiten, die einem der Laptop bietet? Die größte Herausforderung war es, die Sache nicht zu übertreiben. Das heißt: Die Lieder nicht zu lange zu machen, indem man Synthesizer über Synthesizer legt und noch mehr Beats einbaut. Das ist am Anfang eine Herausforderung. Vor allem wenn man davor mit einer Band zusammengearbeitet hat, die dir während dem Songwriting-Prozess Feedback, Denkanstöße und Kritik zurückspielt.

Welche Möglichkeiten siehst du in der Arbeit mit dem Laptop?

Silvio Lenglachner: Der zeitgenössische Sound, also programmierte Beats statt aufgenommenem Schlagzeug, ist der größte Unterschied zu allen We Walk Walls-Produktionen. Die Beats sind auf dem Computer programmiert. Man hört auf „Lexicon of Untold Stories“ kein echtes Schlagzeug. Das dominiert und verändert den Sound extrem.

Außerdem hat der österreichische Produzent und Musiker Wolfgang Möstl dein Album abgemischt, ohne dass ihr euch dafür in persona kennengelernt habt. Eine Internet-Zusammenarbeit – auch irgendwie symptomatisch für die jetzige Situation, oder?

Silvio Lenglachner: [lacht] Ja, man hat die Platte auch schon als „Corona-Album“ bezeichnet, weil es in Isolation produziert wurde. Wolfgang und ich haben uns tatsächlich noch nie getroffen, sondern nur via E-Mail kommuniziert. Die Zusammenarbeit hat aber auch trotz dem fehlenden persönlichen Kontakt gut funktioniert. Ich habe ihm die Sound-Files geschickt, er hat mir seine Meinung gemailt. Das war ein angenehmer Prozess.

„Durch den fehlenden unmittelbaren Austausch entsteht Zeit für Reflexion, die zu anderen Entscheidungen führt.“

Vielleicht war es für die Thematik des Albums sogar essentiell, den persönlichen Kontakt einzuschränken, oder würdest du das anders einordnen?

Silvio Lenglachner: Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Möglicherweise denkt man länger nach, wenn man Feedback auf schriftlicher Ebene und via E-Mail formuliert. Wenn ich direkt neben Wolfgang gesessen wäre, hätte ich manche Dinge bestimmt impulsiver und direkt ausgedrückt. Durch den fehlenden unmittelbaren Austausch entsteht Zeit für Reflexion, die zu anderen Entscheidungen führt. Einfach weil Emotionalität auf kommunikativer Ebene ganz anders rüberkommt. Als Konzept für die Albumproduktion war diese Art der Zusammenarbeit wirklich cool. Für das nächste Album würde ich mich trotzdem freuen, im direkten Austausch zu produzieren.

Eigentlich hättest du am 26. März das Release-Konzert für dein Album gespielt. Mittlerweile steht das soziale Leben seit zwei Wochen still. Welche Auswirkungen hat die aktuelle Lage für dich?

Silvio Lenglachner: Wir haben so etwas noch nie erlebt. Gleichzeitig ist es eine interessante Zeit für Leute, die kreativ arbeiten, weil man sich immer nach einem ungewöhnlichen Input sehnt; nach Ereignissen, die inspirieren. Aber klar: Die Situation ist schwierig. Meine Texte entstehen oft draußen, in der U-Bahn, wenn ich Gesprächsfetzen von Menschen aufschnappe. Das fällt weg. Ich habe nur noch das Internet als Inspiration [lacht]. Die Beschäftigung mit sich selbst wird dadurch präsenter. Vielleicht ist das ganz gut für uns alle.

Krisen sind immer Möglichkeiten für Brüche. Gleichzeitig ist die Hoffnung auf Veränderung eine privilegierte Sichtweise, man muss sich diesen Gedanken leisten können.

Silvio Lenglachner: Das stimmt. Ich bin in der privilegierten Situation, in der ich nicht um mein wirtschaftliches Überleben kämpfen muss. Ich arbeite in einem prekären Umfeld, habe aber auch einen Background, der mich vor dem Schlimmsten schützt. Deshalb finde ich es wichtig, dieses Privileg zu reflektieren. Sollte sich etwas am System verändern, dann wird diese Veränderung wahrscheinlich von Menschen ausgehen, die sich während der Krise darüber Gedanken machen konnten. Das kann zu elitären, unfairen Veränderungen führen. Vielleicht führt die Situation aber auch dazu, dass sich mehr Menschen Gedanken über ihr Konsumverhalten machen. Aber ich bin skeptisch.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Christoph Benkeser

 

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