Die Waves Vienna Conference 2022 im Rückblick: „POPULAR MUSIC, EQUITY, DIVERSITY” BY MDW

„POPULAR MUSIC, EQUITY, DIVERSITY: The Struggle for Creatives Justice”, ein neuer Schwerpunkt im Programm der diesjährigen Waves Conference, wurde von Rosa Reitsamer und Rainer Prokop von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (MdW) gestaltet und moderiert. Die vierstündige Veranstaltung bot eine fundierte Reise zu Themenkomplexen, wie Gleichheit – und in dieser Konsequenz auch Ungleichheit – und Diversität bzw. fehlende Vielfalt innerhalb der populären Musik auf nationaler und internationaler Ebene; wobei hier populäre Musik im weitesten Sinne des Wortes gemeint ist.  Der Programmpunkt dauerte sogar 4,5 Stunden, weil die Beiträge viel zu interessant und mitreißend waren, um pünktlich beendet zu werden.

Den Auftakt bildete eine Keynote von Mark V. Campbell deren Titel als Frage formuliert war: „Archiving Hip-Hop as Activism? Poetics and Possibilities”. Der in Kanada lebende Wissenschaftler ist DJ und Kurator und erforscht die Beziehungen zwischen Afrosonic Innovations, Hip-Hop-Archiven und Vorstellungen über den Menschen. Mark V. Campbell wurde zu der Konferenz eingeladen, um sein umfangreiches Wissen über Hip-Hop-Archive in Kanada und Nordamerika, sowie auf globaler Ebene zu diskutieren. Dabei brachte er auch seine kritische Sichtweise darüber ein, auf welchen Grundlagen die bestehenden Archive aufbauen und wie sie befüllt werden. Seiner Ansicht nach stellen sie eine weitere Facette postkolonialer Praktiken und neoliberaler Missbräuche dar, oder sind bestenfalls blinde Flecken.

Bild Mark Campbell
Mark Campbell (c) Pressefoto

Campbells Ausführungen reichten von Hip-Hop-Archiven über Ausstellungen bis hin zu Auktionen, wobei letztere besonders problematisch sind, da sie die Frage aufwerfen: Wem gehören die Erinnerungsstücke unserer Kultur? Wer hat die Hoheit über deren Verwahrung, wie und warum? Im Gegensatz zu den konventionellen Formen von (Hip-Hop-)Archiven, plädiert Campbell für eine andere Form des Archivs: ein lebendiges, atmendes und von Lebensfreude durchdrungenes Archiv, das nicht nur Objekte der Toten umfasst, sondern die gegenwärtigen Akteur*innen wertschätzt. Außerdem ging Campbell ausführlich darauf ein, wie er den Wert eines essentiellen Elements der Hip-Hop-Kultur versteht: den Remix. Seiner Ansicht nach handelt es sich um eine Methode, um aus alten Ideen neue zu machen, vorproduzierte Musik zu nehmen, sie neu zu mischen. Für Campbell liegt darin nicht zuletzt eine Möglichkeit, außerhalb eurozentrischer Perspektiven zu denken. Das bedeutet natürlich auch, die vorherrschenden Gesellschaften herauszufordern – eine Aufgabe, die sich Mark V. Campbell anscheinend teilweise als Lebenswerk gesucht hat.

Es folgte eine performative Präsentation von Jamika Ajalon – einer interdisziplinären Künstlerin und Autorin, deren jüngster Debütroman „Skye Papers” (2021, Feminist Press) von der Kritik hoch gelobt wurde (New York Times / Kirkus Review) und deren Poesie und Lyrik in mehr als einem Dutzend Alben veröffentlicht wurde, darunter das kürzlich erschienene „Rebooted” (Jamika & the Argonauts, 2022). Im Rahmen der Waves Conference hatte Ajalon eine Stunde Zeit, um das Stück, das sie „Fugitive Diaries” nennt, in Kombination mit visuellen Darstellungen auf der Leinwand hinter ihr vorzustellen: „Fugitive Diaries” (Anm.: Flüchtige Tagebücher). Mit ihrer Performance, die eine Mischung aus Spoken-Word, Poesie, Rock und Hip-Hop war, zog sie das Publikum in ihren Bann und irritierte es mit ihren nicht-linearen Erzählungen und künstlerischen Ausdrucksformen, die sich zwischen Wissenschaft, Geschichte, eigenen Erfahrungen, kulturellen Erkenntnissen und soziopolitischen Kommentaren und Bezügen bewegten. Im Wesentlichen schuf und präsentierte Ajalon eine Collage aus Musik, Gesang, Sprache, Emotionen und Geschichten, in die sie beispielsweise Videoschnipsel von James Baldwin einstreute.

Bild Jamika Ajalon
Jamika Ajalon (c) Pressefoto

Nach Ajalons künstlerischem Streifzug wandte sie sich an das Publikum, um Fragen zu beantworten; und davon gab es natürlich reichlich. Sie erläuterte, dass ihr Roman „Skye Papers”, aus dem sie teilweise vorlas, sich um eine weibliche Figur im Stil von Jack Kerouacs “On the Road” (1957) drehe, allerdings mit dem Zusatz, dass die Leserin weiß, dass sie beobachtet wird, auch wenn sie nicht weiß, von wem oder warum. Ajalon erklärte, dies beziehe sich auf Fragen der Überwachung in Bezug auf die transatlantische Kultur und Gegenkultur. Auf die Frage, warum Baldwin in ihrer Arbeit immer wieder auftauche, erklärte sie, dass sie eine Grenze zwischen sich und ihm ziehe, da sie selbst ein Ex-Pat in Frankreich sei.

Insgesamt liegt in ihrem Werk – Performances, Schriften, Musik und Filme – eine Form von Black female power inne. Ajalon ist die lebendige Verkörperung eines komplexen, nicht-linearen Widerstands. Und ihre Kunst gibt uns einen kleinen Einblick in das Universum, das sie sich aus diesem Spannungsfeld heraus genau darin erschaffen hat.

Bild Rainer Prokop
Rainer Prokop (c) Ingo Pertramer
Bild Rosa reitsamer
Rosa Reitsamer

Den Abschluss des MdW-Programms „POPULAR MUSIC, EQUITY, DIVERSITY” bildete ein Round-Table, der mit einigen der spannendsten Vertreter*innen der österreichischen Musikszene besetzt war. Unter der Moderation von Rainer Prokop und Rosa Reitsamer diskutierten Kem Kolleritsch (Artist), Esra Özmen (Artist), Wolfgang Schlögl (Artist), Shilla Strelka (Kuratorin/Konzert- & Festivalveranstalterin/Journalistin) und Gerald Wenschitz (DJ, Produzent, Partyveranstalter), was durchaus zu den zentralen, brisanten Fragen, die die österreichische Pop-, House- und Alternativszene bewegen, führte. Die angesprochenen Themen waren vielfältig, die Diskussionen dazu lebendig und teils hitzig. Dennoch können ein paar rote Fäden, die sich durch die Veranstaltung zogen, ausfindig gemacht werden. Erstens: Wie sich insbesondere im Umfeld von Community Building und kuratorischen Praktiken mittels verschiedener Strategien Safer Spaces schaffen lassen, in denen Lebensfreude und Wut ausgelebt werden kann. Zweitens: Wen die Podiumsteilnehmer*innen mit ihrer Musik ansprechen und erreichen wollen. Drittens: Was „Diversität” im Jahr 2022 wirklich bedeutet. Und schließlich Fragen zu Sichtbarkeit und Wahrnehmung.

Bild Esra Özem
Esra Özem

Zu letzterem – der Frage nach Sichtbarkeit und wie diese zustande kommt – erklärte Esra Özmen von EsRAP, dass auch ihre Haltung als Rapperin das Interesse und die Aufmerksamkeit für ihre Musik geweckt habe – was sich an diesem Punkt ihrer Karriere tatsächlich als ein Kampf für sie darstelle. Wie kann man die Marke female rapper ablegen und einfach als a rapper gesehen werden? Sie erklärt, dass sie, obwohl sie Feministin sei und ein Großteil ihrer Arbeit insbesondere in Bezug auf das Thema Migration politisch wäre, manchmal damit kämpft, einfach nur als Künstler*in gesehen und gehört zu werden – und zwar ohne die damit verbundenen Projektionen.

Als rappende Frau mit türkischen Wurzeln habe sie das Gefühl, dass ihre Arbeit unnötigerweise auf ihre politische Bedeutung hin analysiert werde. Dabei erschaffe sie manchmal einfach etwas aus keinem anderen Grund heraus, als dem der Kunst – ein Luxus, der nach Meinung vieler Diskutant*innen weißen CIS-Männern vorbehalten sei, da diese normalerweise nicht ständig nach der Bedeutung ihres Tuns gefragt werden, sondern einfach kreieren können. Punktum.

Bild Kem Kolleritsch
Kem Kolleritsch

Kem Kolleritsch (alias Kerosin95) stimmte zu. Es werde politisiert egal um welche Arbeit es sich handle, es gäbe keine Wahl. Kem Kolleritsch werde nur im Zusammenhang mit Gender gesehen. Für Interviews zu Genderthemen, die Kem Kolleritsch übrigens völlig satt hat, nennt Kolleritsch einen Preis und die Bedingung, dass nur Transpersonen oder queere Menschen die Interviews führen dürfen. Weiße CIS-Menschen würden dazu neigen, die einfachsten und uninteressantesten Fragen zu stellen, nämlich „Google-Fragen”.

Auf die Frage, an wen sich die Musik von Kerosin95 richtet, antwortet Kolleritsch: „Jeden, der Bock auf die Themen hat, und jeden, der Bock auf Party und Wut hat”. Außerdem wolle Kem speziell für Trans-, Queer- und FLINTA-Menschen einen Raum schaffen, in dem sie „alle einfach mal chillen können”.

Bild Gerald VDH
Gerald VDH (c) Markus Thums

Gerald Wenschitz aka Gerald VDH schließt daran an und fügt folgendes hinzu. Sein Publikum bestehe hauptsächlich aus „MSM” (Männer, die Sex mit Männern haben), ein Begriff, den er zugegebenermaßen hasse. Trotzdem ginge mit diesem Begriff ein „ein sehr inklusiver Raum, aber nicht für jeden” einher. Was die Art von Musik betrifft, die er predigt, sagt er: „Ich habe sie (Techno) nicht gewählt, sie hat mich gewählt. Diese Musik macht das, was sie für eine Party macht, und Partymusik macht es einfach, sich zu verbinden. […] Sie hat eine Menge Wut – so wie Schwule sie haben, aus offensichtlichen Gründen. Und das ist der Grund, warum ich diese Klänge auf meinen Partys wähle. Ich denke, die Musik ist entscheidend. Sie ist körperlich, sie ist rau, sie ist sexuell, sie ist wütend.

Wolfgang Schlögl erklärt, dass er im Moment weder an einer Szene beteiligt sei, noch eine aufbaue (wobei er diejenigen, die das tun, sehr respektiere). Wolfgang Schlögel war einmal Teil einer solchen Szene, der Downtempo-Szene der 90er Jahre. Damals gab es zwar einige Diskurse, aber die entsprechenden Begrifflichkeiten bzw. Konzepte waren noch nicht vorhanden. Er glaubt, je mehr Begriffe diskutiert werden, desto mehr Kommunikation finde darüber statt. Er bekräftigt, dass die Zunahme des Diskurses und das Aufkommen von mehr „Wut” eine positive Entwicklung sei, aber gleichzeitig hofft er, dass das Hauptziel immer noch darin bestehe, eine offene Gesellschaft zu schaffen, die auf den Prinzipien des Humanismus aufbaut. Und in diesem Sinne versuche er immer, ein Publikum mit diesem Verständnis zu begeistern, unabhängig von der Szene oder einem bestimmten Format. Es käme auf die Rahmenbedingungen und die Prinzipien, mit denen man selbst arbeitet, an.

Klänge, Ästhetik und das Politische gehören zusammen.

Bild Shilla Strelka
Shilla Strelka (c) David Višnjić

Wenn man Shilla Strelka (Struma+Iodine, Unsafe & Sounds) nach ihrer Vorgehensweise als Kuratorin fragt, antwortet sie, dass es ganz einfach sei: Sie versuche, Menschen zu finden, die die Musik hören, die sie ihnen anbieten kann. Sicherlich suche sie auch immer eine Gemeinschaft, aber eine, die nicht exklusiv ist. Die Art von Musik, die sie interessiere, habe von sich heraus ihren Platz im Bereich der Politik – denn Klänge, Ästhetik und das Politische gehören für sie zusammen. Experimentelle Klänge hätten immer etwas mit einer Gegenkultur zu tun.

Sie erzeugen eine Art Reibung, brechen mit der herrschenden Ordnung und würden eine Art Alternative zu kommerziellerer Musik bieten. Sie selbst habe keine Mission in Bezug auf Quoten oder wen sie beim Booking vertrete. Ihr geht es in erster Linie um den Sound. Dieser erzähle so viel über Weltanschauungen und Aufgeschlossenheit – und das ziehe ein bestimmtes Publikum an.

Bild Wolfgang Schlögl
Wolfgang Schlögl

Schlögl, über das Thema Inklusion: Für ihn ginge es darum, Musik zu machen, die auf humanistischen Werten basiert – nicht auf Profit, Kapitalismus, Weltanschauungen oder Klicks – sondern auf Werten wie Toleranz und Platz für marginalisierte Gruppen. Als reisender Musiker begegne man vielleicht Menschen aus einem anderen Teil der Welt. Und er versuche, mit ihnen auf Augenhöhe zu arbeiten. Manchmal gelinge ihm das, manchmal nicht. Er sieht dies als eine inklusive Methode, Musik zu machen.

„Nicht für eine elitäre europäische Weltsicht.” Er gibt zu, dass dies eine idealistische Sichtweise ist, „aber vielleicht ist das eine Brücke. Ist das postkolonial oder inklusiv?” Für Projekte dieser Art werde er auch angefeindet. „Das ist etwas, dem man sich stellen muss, das ist okay. Manchmal funktioniert es, manchmal nicht. Ich bin nicht perfekt.”

Rosa Reitsamer wirft ein: „Ich denke, die große Herausforderung für Weiße Menschen ist es, Privilegien zu verlernen. […] you know, when you start from behind, it’s harder to push back. And white CIS men start from the very front. It’s easier for them to push back.” Wolfgang Schlögl stimmt ihr vorbehaltlos zu und bedankt sich für diesen sehr wichtigen Kommentar.

Betreffend struktureller Fragen, sagt Özem, dass eine Organisation nur dann „divers” sein könne, wenn hinter den Kulissen, also innerhalb der Organisationsstruktur selbst, unterschiedlichste Menschen arbeiten würden. Und dann wäre es da noch die Frage, was „Diversität“ bedeutet – die wiederum von einzelnen unterschiedlich beantwortet werde. Während es für den einen vielleicht um den Frauenanteil gehe, spiele für sie vor allem der Migrationshintergrund eine Rolle. Sie sehe viele Herausforderungen, aber nicht, dass es wirklich besser werde. Özem stellt fest, dass Kurator*innen und Organisator*innen immer noch nicht darauf achten, wo und wie sie ihre Angebote machen. Wenn man ein Konzert in einem bestimmten Viertel oder Stadtteil machen wolle, dann solle man sich zuerst den Ort ansehen: „Findet heraus, was die Leute dort interessiert. Platziert Kunst und Kultur nicht einfach an einem Ort, der nichts damit zu tun hat.“

Für Kollertisch ist auch der Begriff „divers” problematisch, da er in letzter Zeit nur noch in den Raum geworfen werde, die Bedeutung aber nicht klar sei – und sicherlich nicht intersektional genug. Für Kolleritsch beginnt es damit, „dass die Menschen über ihre Feindseligkeiten und Privilegien nachdenken“. Es folgt der Vorschlag, dass Kurator*innen sich wirklich fragen müssen: Wie können Festivals und dergleichen durch die Einbeziehung eines diversen Teams und Line-Ups wirklich besser werden? Und zwar nicht nur, um ein paar Kästchen anzukreuzen und „Tokens” zu ihrem Programm hinzuzufügen. „Viele Leute machen aus Menschen Alibis und Accessoires, damit ihr Festival richtig gut aussieht. Aber die Strukturen sind immer noch toxisch und abstoßend. Und am Ende des Tages trete ich meistens auf Festivals auf, bei denen ich die einzige trans, queere oder FLINTA-Person hinter der Bühne bin. Viele Kerle hinter der Bühne sind oben ohne. Meistens sind da nur weiße Leute. Auch viele queere Festivals in Wien sind meist weiß und körperlich fit”, sagt Kolleritsch. Auch wenn manche Leute denken, dass sie fortschrittlich sind, „in Wirklichkeit liegt ein langer Weg vor uns um tiefer in diese Konversation einzutauchen.” Aber leider trete eher das Gegenteil ein, „and it stops“. Denn wenn man vorankommen will, dann muss man sich mit seinen eigenen Ressentiments und Privilegien auseinandersetzen. Und das ist ein Weg, den niemand gehen will; der unbequeme Weg. Ich spreche auch mich damit. Ich rufe Künstler *innen auf, Kurator*innen auf, mich eingeschlossen.

Arianna Fleur Alfreds – übersetzt aus dem englischen Original