Er ist keiner, der sich in den Vordergrund spielt – und doch gehört Lukas Lauermann seit Jahren zu den prägenden Stimmen der österreichischen Musik. Als Cellist, Komponist und Klangarchitekt arbeitet er an den Schnittstellen von Klassik, Pop, Theater und Film, immer mit einem feinen Gespür für Atmosphäre und Emotion. In seinem neuen Soloalbum „Varve“ (col legno; VÖ 24.10.) richtet er den Blick in die Tiefe – auf Prozesse, die meist unsichtbar bleiben, aber alles verändern.
Der Titel verweist auf geologische Sedimentschichten, die wie Jahresringe Geschichten von Klima, Zeit und Wandel erzählen. So entfalten auch Lauermanns Kompositionen eine stille, aber nachhaltige Bewegung: aus feinen Klangschichten wachsen Strukturen, die sich nie ganz wiederholen, sich aber gegenseitig durchdringen. Das Cello wandert durch ein Geflecht aus Orgel, Stimmfragmenten und dem Rauschen alter Bandmaschinen – mal tastend, mal entschlossen, immer auf der Suche nach Resonanz. „Varve“ ist weniger eine Sammlung von Stücken als ein Zustand: Musik, die nicht erklärt, sondern spürbar macht, wie fragil und zugleich kraftvoll Veränderung sein kann. Im Interview mit Michael Ternai spricht Lukas Lauermann über das dem Album zugrunde liegende Konzept, den Zusammenhang zwischen „Varve“ und klimatischen Veränderungen, die besondere Faszination der Arbeit mit Kassettenrekordern und Tonbandgeräten sowie darüber, warum er die elektronischen Elemente auf seinem neuen Album bewusst reduziert hat.
Deine bisherigen Alben zeichnen sich dadurch aus, dass sie jeweils einen eigenen Akzent und Schwerpunkt setzen – und auch bei „Varve“ ist das nicht anders. Was du hier zu Gehör bringst, ist Musik, die dazu einlädt, tief einzutauchen – fast wie in einen Film. Besonders auffallend ist der ausgeprägte Minimalismus und die Ruhe, mit der sich die musikalischen Strukturen allmählich entfalten.
Lukas Lauermann: Ja, stimmt – das Material ist insgesamt sehr minimalistisch, es gab nur wenig Ausgangsmaterial. Das hängt direkt mit dem Thema zusammen: Es geht um minimale Unregelmäßigkeiten, die von Gewaltigem erzählen. Um Veränderungen in der Natur, die sich in diesen Warven abzeichnen und archiviert werden. Dieses Konzept hat mich auf die Idee gebracht, aus sehr kleinen Bausteinen Modelle zu entwickeln, die theoretisch unendlich laufen könnten, ohne sich dabei auf dieselbe Art und Weise zu wiederholen oder in der gleichen Konstellation von Schichten aufzutreten. Jedes Stück auf dem Album ist letztlich nur ein Ausschnitt davon, vergleichbar mit Bohrkernen aus Sedimentschichten. Und vielleicht deswegen entwickelt das Album diesen Charakter, in etwas sehr großes, längeres Ganzes einzutauchen.
Aber es war schon so gedacht, dass die Stücke nicht direkt aufeinander aufbauen, sondern vielmehr in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen.
Lukas Lauermann: Ja, genau. Es sind im Grunde sehr unterschiedlich gestaltete Variationen von drei Ausgangsideen. Dadurch entsteht dieser starke innere Zusammenhalt – auch durch die wiederkehrenden Klangfarben, die sich durch das ganze Album ziehen. Ein inhaltlicher Aspekt sind ja auch zeitliche und räumliche Zusammenhänge, deren Dimensionen wir nicht wirklich fassen können. In unserem Umgang mit Krisen, spielt das, glaube ich, eine große Rolle.
Und wie ist dir die Idee zu diesem Konzept gekommen?
Lukas Lauermann: Ursprünglich entstand sie, als ich letztes Jahr vor der Herausforderung stand, ein Konzert ohne Strom zu spielen. Normalerweise habe ich bei meinen Solokonzerten meine ganzen Effektgeräte in Betrieb – so war es auch bei den bisherigen Alben. Das vorige Album basierte ja ausschließlich auf elektronischer Bearbeitung. Für dieses Konzert musste ich mir überlegen, wie ich es anstellen könnte, auch rein akustisch mit dem Cello meiner Klangvorstellung gerecht zu werden, die oft von Mehrstimmigkeit, einer gewissen Vielschichtigkeit und Verfremdung geprägt ist. So kam ich auf die Idee, mit kleinen Kassettenrekordern zu arbeiten: Ich nehme etwas auf und spiele dann live dazu.
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Als reizvoll stellte sich für mich auch heraus, verschiedene technische Möglichkeiten auszuprobieren und zu recherchieren. Dabei stieß ich unter anderem auf uralte Tonbandgeräte aus der Zeit vor der Kassette, die klein, sehr lo-fi und von ganz eigenem Charakter waren. Aus diesen Geräten gewissermaßen ein Begleitensemble zu formen, fand ich eine äußerst spannende Vorstellung.
Ich hab sie dann mit Orgel- und Stimmsamples bespielt, weil mir das thematisch passend erschien. Einerseits die Orgel, die ja theoretisch unendlich lange Töne erzeugen kann, und dem gegenüber die menschliche Stimme, die in diesem Zusammenhang für Vergänglichkeit und Endlichkeit steht. Das war die ursprüngliche Ausgangsidee, in die ich mich für das Album weiter vertieft habe.
Du hast den elektronischen Anteil dieses Mal also ganz bewusst zurückgeschraubt.
Lukas Lauermann: Ja, wobei Kassettenrekorder und Tonbandgeräte natürlich auch elektronische Geräte sind – aber eben analoge, die eine besondere Wärme im Klang erzeugen. Oft werden sie ja auch in anderen Produktionen eingesetzt, um genau diesen charakteristischen Klang, diese spezielle Klangfarbe zu erzielen. Sie bringen ein gewisses Eigenleben und eine Unberechenbarkeit mit sich und können – je nach Alter – auch einen deutlich hörbaren Rauschanteil haben. Diese Nebengeräusche der Geräte wollte ich nicht kaschieren, sondern im Gegenteil – mehr in den Vordergrund rücken und nicht bloß als Nebenprodukt betrachten. Bei einem Stück setze ich sogar ganz ausschließlich das unterschiedliche Rauschen ein. Das Cello wollte ich im Gegensatz dazu ganz clean halten – anders als auf meinen bisherigen Alben. Ich habe nur insofern in den Klang eingegriffen, als ich mit Dämpfern gearbeitet habe. Sie reduzieren gewissermaßen das Spektrum des Instruments, lassen den Ton dumpfer und weniger voll klingen.
Wie kann man sich das eigentlich vorstellen, so ein Album zu machen? Wie setzt man sich da hin und führt die Idee dann in die Realität? Ist das viel Kompositionsarbeit? Ist das viel Klangexperiment?
Lukas Lauermann: Was diesmal anders war, ist, dass im Gegensatz zu früheren Alben kaum etwas aus Improvisationen entstanden ist. Ich hatte vielmehr mehrstimmige, fast choralartige Abschnitte und experimentierte damit, einerseits die einzelnen Stimmen umzuschichten, andererseits zum Beispiel eine Stimme jeweils um einen Ton zu reduzieren und diese Verschiebungen aneinanderzufügen. Dadurch entstehen Dinge, bei denen sich aus achttaktigen Phrasen durch solche Verschiebungen etwas entwickelt, das sich über eine lange Zeit entfalten kann ohne sich eins zu eins zu wiederholen.
Die kompositorische Arbeit bestand im Grunde darin, zu schauen, welche Möglichkeiten es gibt, welche funktionieren und welche davon mir am besten gefallen. Ich habe viel ausprobiert – welche Stimme wohin kommt und auf welche Weise sie sich verändern – und als diese Modelle sozusagen feststanden, habe ich überlegt, wie ich die einzelnen Schichten auf die verschiedenen Tonbänder und Kassetten aufteilen will. Diese Bänder habe ich dann selbst produziert und anschließend mit Oliver Brunbauer das Cello aufgenommen. Die Cello-Stimme hat in dem Ganzen ihr eigenes Leben: Sie folgt nicht streng irgendwelchen Modellen, sondern bewegt sich mehr oder weniger frei durch das Geschehen. Meist hebt sie sich ab, manchmal verschwindet sie ganz im Orgelsound.
Warven entwickeln sich über einen sehr langen Zeitraum und dokumentieren Ereignisse. Wie lässt sich das auf das Album übertragen? Welche Elemente werden in den Spuren der Musik festgehalten, und wie sind sie wahrnehmbar?
Lukas Lauermann: Das Wort Varve kommt ja einerseits vom Schwedischen hvarvig lera, was ‚geschichteter Ton‘ heißt, und andererseits von varv – Umdrehung, Schicht oder Kreis.

Diese Bedeutungen finden sich ganz grundsätzlich im Aufbau der Stücke wieder. Also die übereinander gelagerten Stimmen und die Wiederholungen oder Loops. Inhaltliche Ebenen, die mir wesentlich erscheinen, habe ich teilweise schon erwähnt: Da geht es eben um kleinste Unregelmäßigkeiten, die in maximaler Unaufgeregtheit und Langsamkeit von mitunter Katastrophalem berichten, aber auch um minimale Verschiebungen, die Gewaltiges auslösen können. Um scheinbar endlos zurückreichende Entwicklungen, aus denen wir für die Zukunft lernen können. Die Tatsache, dass das alles im Verborgenen, unter der Oberfläche passiert, finde ich auch spannend. Und dann auch noch die unfassbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhänge. Also irgendwo alles Dinge, die rational begreifbar scheinen, aber emotional überwältigen können. Eine Emotionalität, die sich natürlich in der Musik widerspiegelt – trotz oder gerade wegen all der konzeptionellen Überlegungen.
Kompositorisch kann man sich das zum Beispiel in Bezug auf die minimalen Verschiebungen, vereinfacht so vorstellen: Ich habe acht Töne, die in einer festen Reihenfolge ablaufen. Im nächsten Schritt reduziere ich sie auf sieben, dann sechs, dann fünf, während eine zweite Stimme weiterhin alle acht Töne durchlaufen lässt. So entstehen zwangsläufig immer wieder neue Tonüberlagerungen. Trotzdem hat man den Eindruck eines Loops, weil manches gleich bleibt, anderes sich nur leicht verändert.
Das Ziel ist, dass sich durch das unterschiedliche Verkürzen oder Verlängern der einzelnen Stimmen immer wieder neue spannende Klangschichten und Überlagerungen ergeben. Im Prinzip ist es ein System, dem man folgt. Natürlich schaue ich im nächsten Schritt auch, ob ich das wirklich so streng durchziehen möchte. Den Freiraum lasse ich mir schon, zu sagen: „Das gefällt mir jetzt anders aber besser“, wenn ich in die Strukturen eingreife.
Das Konzept der Warven zieht sich sogar bei den Titeln – „Varve III.3“, „Varve III“, „Varve II“ usw. – durch das Album.
Lukas Lauermann: Sie sind allerdings nicht chronologisch, und es gibt kein Stück mit dem Titel „Varve I“. Ich habe zwar an einem experimentiert, aber letztlich hat es das nicht auf das Album geschafft. Die Betitelung ist recht nüchtern: Sie gibt einerseits emotional nichts vor, und andererseits dient sie eigentlich nur als Beschriftung von Ausschnitten, wie bei Probenkernen. Gleichzeitig weist sie darauf hin, zwischen welchen Warven es Zusammenhänge gibt.

Es spielt nicht wirklich eine Rolle, was das Album für mich emotional bedeutet. Es erzählt keine persönliche Lebensgeschichte, sondern widmet sich vielmehr der Umweltproblematik. Ich glaube, die Hörer:innen schätzen den Freiraum für eigene Interpretationen – welchen Zugang sie zur Musik finden oder was sie damit assoziieren – auch wenn das vielleicht mehr ‘Arbeit’ bedeutet. Konzeptionelle oder technische Aspekte bei Seite gelassen, habe ich versucht, etwas zu schaffen, das letztlich berührt oder eine emotionale Wirkung entfaltet – aber ohne es mit eigenen Befindlichkeiten und Erlebnissen aufzuladen.
Was bedeutet dieses Soloprojekt für dich? Eine Spielwiese, auf der du dich wirklich austoben kannst? Ist es etwas, das du machen musst?
Lukas Lauermann: Es ist etwas, dem ich einfach weiter nachgehen möchte, weil es mir Freude bereitet und ich zugleich das Gefühl habe, es aus mir heraus tun zu müssen. Mein Soloprojekt bietet mir den maximalen Freiraum, genau zu überlegen, was ich will, und es anschließend genauso umzusetzen.
Es ist natürlich etwas anderes als in der „anderen schönen Welt“, wenn man mit anderen zusammenarbeitet und gemeinsam Musik macht – Input von Kolleg:innen bekommt oder selbst etwas in einen Pool einbringt und dann überrascht ist, was die anderen daraus machen. Ich möchte beides auf keinen Fall missen.
Was mich besonders reizt, ist vor allem, mich mit etwas zu beschäftigen, das einerseits mir wichtig ist oder worauf ich gerade Lust habe, aber andererseits auch gesellschaftlich relevant ist – und die Möglichkeit zu haben, dies künstlerisch umzusetzen ohne Kompromisse. Glücklicherweise muss ich dabei nicht darüber nachdenken, ob das, was ich tue, kommerziell erfolgreich sein wird, weil ich finanziell nicht alleinig davon abhängig bin.
Insgesamt bietet mir das auf mehreren Ebenen den Freiraum, genau das zu tun, was ich einfach machen möchte. Es ist ein schönes Gefühl, die Freiheit zu haben, künstlerisch das zu tun, was man will und darüber noch dazu in Austausch mit anderen zu kommen. Zum Glück ist das meist auch bei allen Bands, mit denen ich arbeite, der Fall.
Das Album klingt auch danach, dass es sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. Wie schaffst du es, neben all deinen anderen Projekten, die Zeit freizuschaufeln, um an diesem Soloprojekt weiterzuarbeiten?
Lukas Lauermann: Dranbleiben zu können, ist schon wichtig. Es war ein relativ langer Prozess, weil man all diese Tonbänder herstellen und ausprobieren muss. Also Audiofiles in Echtzeit überspielen, anhören, und gegebenenfalls das Ganze von vorne, wenn etwas nicht gepasst hat. Die Zeit muss man einfach absitzen. Am Computer kann man vieles schneller ausprobieren, die vielleicht 16 Spuren eines 7 Minuten langen Musikstücks zerlegt in Einzelspuren in wenigen Sekunden exportieren.
Dadurch, dass ich mit meinem Soloprojekt aber nicht an eine feste Deadline gebunden bin, kann ich mir die Zeit nehmen, wann immer es passt, um an der Musik weiterzuarbeiten. Es gibt vielleicht mal einen Monat ohne Konzerte, und dann nutze ich die Zeit dafür. Generell ergibt es sich bei mir aber meistens recht organisch, dass die Zeit dafür da ist.
War es eigentlich das erste Mal, dass du mit Kassettenspielern gearbeitet hast?
Lukas Lauermann: Beim letzten Album habe ich schon ein wenig mit Kassettenspielern gearbeitet. Ich habe da ein Faible dafür entwickelt und auch vor dem aktuellen Album schon zwei limitierte Tapes, von denen nur 40 Stück produziert wurden, gemacht. Das möchte ich auch weiterverfolgen. Ich habe ein paar fertige Ideen, die ich dann nächstes Jahr releasen werde. Das Medium gefällt mir. Besonders, dass sich die Musik auf so einem Magnetband mit jedem Mal Abspielen ein bisschen mehr auflöst, bis sie ganz verschwindet.
Aber bist du generell jemand, der immer schon nach Alternativen zum gewöhnlichen Musikmachen sucht?
Lukas Lauermann: Ja, schon. Es macht einfach Spaß. Alternativen zu dem, was üblich ist, reizen mich. Da suche ich schon eher den eigenen Weg und versuche Neues zu entdecken. Ein Beispiel ist ja, wie es bei diesem Album kompositorisch abgelaufen ist. Es sind teilweise Dinge entstanden, die ich so nicht hundertprozentig im Kopf hatte, sondern die erst zu dem geworden sind, nachdem ich sie durch ein System habe laufen lassen. Und wie sich die Dinge da überlagert haben, hörte ich dann auch zum ersten Mal.
Der Einsatz der verschiedenen Gerätschaften hat das noch einmal verstärkt. Sie erzeugen ganz automatisch kleinste Verschiebungen. Dadurch, dass diese Tonbänder unterschiedlich groß sind und die Mechanik noch nicht so ausgereift war, haben sie, je nachdem wie viel Tonband auf der Spule drauf ist, unterschiedliche Geschwindigkeiten. Das hängt mit dem Radius zusammen. Es ändert sich ganz leicht die Stimmung, also die Tonhöhe, alles verschiebt sich minimal zueinander und es ergeben sich Reibungen. Das ist noch einmal eine zusätzliche, minimalere Ebene von Veränderungen, die nicht vorher bestimmbar sind. Das kann ich nur ausprobieren und dann über das Ergebnis selber überrascht sein.
Vielen Dank für das Interview.
Michael Ternai
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Lukas Lauermann solo live
25.10. Handwerksmühle Ritzenried, Pitztal
07.11. Kunstfreiraum, Neulengbach
08.11. Stein*Stein, Stein
12.11. Hildegard Bar, Kirchdorf/Krems
13.11. Café Wolf, Graz
14.11. Kulturhof, Villach
15.11. Container25, Wolfsberg
21.11. Kurdirektion, Bad Ischl
28.11. Radiokulturhaus, Wien
02.12. Cinema Paradiso, St. Pölten
04.12. Villa For Forest, Klagenfurt
18.12. Stadtwerkstatt, Linz
19.12. pavian.lustenau, Lustenau
20.12. Treibhaus Innsbruck
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