„Die Idee des Egalitären geht verloren“ – BERTHOLD SELIGER im mica-Interview

BERTHOLD SELIGER hat ein Buch über das Live-Geschäft geschrieben. „Imperiengeschäft“ heißt es, und es zeichnet ein düsteres Bild eines von einigen wenigen Konzernen dominierten, rein profitorientierten Marktes. Im Gespräch mit Markus Deisenberger erklärte SELIGER, wieso Pre-Sales undemokratisch sind, was man unter „Qualified Fans“ versteht und warum Künstler*innen nicht immer Freund*innen der Fans sind.

Ihr Buch mit dem Titel „Imperiengeschäft“ hat, wenn man das zusammenfassen kann und will, zum Thema, wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören. Dem könnte man jetzt gleichermaßen naiv wie sarkastisch die Frage entgegenhalten: Was ist denn daran neu? Das tun sie doch seit den 1980ern. Damals waren es die Major-Labels, heute sind es Firmen wie Amazon & Co. Es hat sich doch nicht groß etwas verändert. Oder doch? 

Berthold Seliger: Es gibt ganz massive Veränderungen. Im europäischen Konzertgeschäft gab es in den 1970er und 80er Jahren noch keine Großkonzerne. Das waren damals lauter inhabergeführte Firmen, manche waren natürlich größer, andere mittelgroß, wieder andere klein. Aber die Inhaber waren durch die Bank Musikverrückte, also Leute, die mit Popkultur und Rockmusik aufgewachsen waren, dafür gebrannt haben und es toll fanden, wenn man diese Musik auf die Bühnen bringt, was für alle Beteiligten nicht zuletzt auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung hatte. Dass diese Unternehmen Erfolg hatten, größer wurden und den einen oder anderen Markt auch mitdominiert haben, ist schon klar. Aber das waren trotzdem keine multinationalen Konzerne: Ein fundamentaler Unterschied zu der heutigen Situation. Wir hatten nicht die Situation, dass drei Konzerne den weltweiten Konzertmarkt unter sich aufteilen. Das ist etwas, was wir aus der Tonträgerindustrie kennen, ja, aber in der Konzertindustrie ist das völlig neu.

Die Unternehmen, die Sie ansprechen, finanzieren ihren globalen Expansionskurs, wie Sie im Buch eindrucksvoll darlegen, mit Verlusten. Das eigentliche Geschäft liegt Ihnen zufolge woanders, nämlich im Ticketing und Sponsoring. Unterm Strich sei das Konzertgeschäft defizitär, weil Künstler*innen zu überhöhten Preisen gekauft würden. Preise, bei denen andere nicht mitkönnten. Das ist perfide. Aber es ist doch auch rechtlich bedenklich, weil es den Wettbewerb, um den es in der EU ja essenziell geht, verunmöglicht, oder? 

Berthold Seliger: Ich bin jetzt nicht so sehr Wettbewerbstheoretiker, weil ich nicht an die Allheilungskräfte des Marktes glaube, sondern ein anderes Gesellschaftsbild vor Augen habe. Aber wenn man es aus der Logik des Marktes heraus betrachtet, ist es so, wie Sie sagen. Es gibt gute Gründe, warum das Kartellrecht immer wieder einschreitet. In den USA musste der damals größte Konzertkonzern der Welt seine Sparten aufteilen und durfte so nicht weiter existieren. Auch in der Schweiz und selbst in Deutschland mit seinem relativ zahnlosen Kartellrecht gab es immer wieder ein Einschreiten der Wettbewerbsbehörden, es wurden etwa Fusionen oder Firmenaufkäufe untersagt. Aus Sicht des Wettbewerbs haben wir aktuell eine verhängnisvolle Situation. Mich interessiert aber eher die kulturelle Bedeutung der Sache.

Die da wäre? 

Berthold Seliger: Dass es keine freie Entwicklung von Clubs und Kulturzentren mehr gibt, die unabhängige Programme gestalten können. Dass die kulturelle Vielfalt bedroht ist, ist das viel ernster zu nehmende Thema als die rein wirtschaftliche Bedeutung dieser Monopole und Oligopole.

Zugleich schwindet auch die Gleichheit. Sie haben es in Ihrem Buch schön mit den Pre-Sales bei Konzertverkäufen geschildert. Indem ich als Veranstalterin bzw. Veranstalter meine Kundinnen und Kunden oder bestimmte andere Bevölkerungsgruppen bevorzugen würde, indem ich sie während eines exklusiven Zeitfensters zuerst auf ein Kartenkontingent zugreifen lassen würde, werde die Gleichheit beseitigt, sagen Sie. Es entstünden so Käuferinnen und Käufer erster und Käuferinnen und Käufer zweiter Klasse. 

Berthold Seliger: Dass die grundsätzliche Idee des Egalitären verlorengeht, können wir in der gesamten Konzertbranche beobachten. In meinen Jugendjahren habe ich selbst noch erlebt, dass sogar bei Großkonzerten wie jenen der Rolling Stones Anfang der 1980er Jahre alle Tickets, egal wo man stand, das Gleiche kosteten. Wer als erstes kam, stand vorne. Aber man konnte sich nicht nach vorne kaufen. Ich habe das mal ironisch die „sozialdemokratischen Jahre” genannt. Der Grundgedanke in der Gesellschaft war damals ein anderer. Nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus und der Gehirnwäsche durch das angeblich „alternativlose“  neoliberale Denken hat sich heute alles geändert: im Konzert kann man sich heute einfach nach vorne kaufen, und die Eliten können dann vorne an den besten Plätzen stehen oder sitzen. In der klassischen Musik waren die Eliten von Haus aus unter sich. Da gab es praktisch keine Arbeiter*innen, Frisör*innen oder Verkäufer*innen. Heute hören die Eliten aber auch andere Musik, wollen an der Popkultur teilhaben. Und über erhöhte Preise können sie sich eine elitäre Teilnahme sichern, sie bleiben auf den besseren Plätzen wieder unter sich – eine neue „gated community“. Die Popkultur stand aber immer auch für Werte wie Egalität und Solidarität.

Halten Sie Pre-Sales per se für antidemokratisch? 

Berthold Seliger: Ja. Die Situation entsteht dadurch, dass die beteiligten Konzerne immer mehr Geld verdienen wollen und alles tun, was mehr Profit bringt. Und dann verkaufen sie das Vorverkaufsrecht eben an andere Konzerne, die angeblich maximal 50 Prozent der Tickets an ihre Kunden verkaufen dürfen. Aber Konzerte sollten öffentliche Veranstaltungen sein, und der Konzertbesuch sollte allen Menschen gleichermaßen möglich sein.

Wie funktioniert das mit den „Qualified Fans“?

Berthold Seliger: Bei Billie Eilish wird in Europa zum ersten Mal das System des „Qualified Fans” exekutiert, das wir von Taylor Swift kennen, allerdings in einer harmloseren Variante. Wenn man in den USA in ein Taylor Swift-Konzert gehen will, muss man sich zunächst als Fan „qualifizieren“, zum Beispiel, indem man eine Menge Merchandise-Produkte kauft und damit entsprechend Punkte sammelt, damit man überhaupt ein Ticket für ein Live-Konzert kaufen darf.

Was noch perfider ist als ein Pre-Sale, oder? 

Berthold Seliger: Auf jeden Fall. Dass mit einem Algorithmus evaluiert wird, wer überhaupt ein Ticket kaufen darf, ist schon irre. Da zählen dann Kriterien wie: Wie alt Ihre E-Mail-Adresse? Wie viele Konzerte haben Sie in der Vergangenheit bei diesem Konzern schon gebucht? Im Grunde genommen müssen Sie sich qualifizieren, um überhaupt zum Zuge zu kommen, was das Gegenteil von demokratischer Gesellschaft ist, in der wir formal noch leben.

Bedingt das von Ihnen angesprochene System, dass sogenannte kulturferne Kreise, also diejenigen, die an den urheberrechtlichen Erzeugnissen gar nicht beteiligt sind, mehr verdienen als die Urheber*innen selbst? 

Berthold Seliger: Da muss man genauer hinzuschauen. Das Grundproblem sind die Ticketing-Konzerne, die das Geschäft dominieren und eigentlich nur noch am Superstar-Geschäft interessiert sind. Diese Konzerne sind ja selbst nicht kreativ, sie sind einfache Mitesser. Das Problem sind aber auch die Künstle*innen, und zwar die Superstars. Nicht die Kleinen oder Mittleren, die versuchen, sich möglichst gut durch das problematische Dickicht des Konzernwesens zu kämpfen und da irgendwie zu überleben. Nein, ich rede von den 5% der weltweiten Performe*innen, die 85% der weltweiten Konzertumsätze generieren. Die Superstars sind extrem an diesem Geschäft beteiligt. Daher sind nicht allein die Konzerne die „Bösen“, sondern auch bestimmte Künstler*innen, die immer höhere Gagen fordern und das System dadurch schüren. Die Tatsache, dass z.B. Live Nation im Konzertbereich gigantische Millionenverluste ausweist, hat auch damit zu tun, dass überhöhte Gagen bezahlt werden, die sich eigentlich auf dem so genannten Markt nicht finanzieren ließen. Da werden teilweise über 100% der Ticketeinnahmen an die Künstler*innen ausbezahlt. Wie soll sich das ausgehen? Dass die ihr Geschäft machen, weil sie mehr Geld im Ticketing oder Sponsoring verdienen, hat fast eine perverse Logik.
Und die Ticket-Konzerne verdienen ja nicht nur an ihren eigenen Konzerten, also an denen, die die Konzertabteilung des gleichen Konzerns veranstaltet, sondern eben an allen Konzerten, auch an denen der Konkurrenz. Und auch an denen der kleineren, unabhängigen Tournee- und Konzertveranstalter. CTS Eventim oder Ticketmaster verdienen unter anderem auch an meinen Konzerten, und zwar deutlich mehr als ich als Tourneeveranstalter und deutlich mehr als die örtlichen Veranstalter – und das ohne jedes Risiko, denn das Ticketing ist ja ein reines Provisionsgeschäft. Wir, also diejenigen, die die eigentliche Arbeit machen, sind gezwungen, die Konzerne, die den Markt als Monopol beziehungsweise Oligopol dominieren, noch reicher zu machen – und diese Konzerne machen uns dann wiederum die Bands abspenstig.

„Die Künstler*innen sind nicht immer die Freund*innen der Fans.”

Im Buch schreiben Sie, die hohen Preise würden dazu führen, dass die durchschnittlichen Konsumentinnen und Konsumenten, bei denen Geld eine Rolle spielt, durch die überteuerten Ticketpreise kein Geld mehr für kleinere Konzerte haben. Das Geld, das für Konzerte zur Verfügung steht, werde ausschließlich bei den großen Events ausgegeben.  

Berthold Seliger: Das ist erklärungsbedürftig. Man darf dabei natürlich nicht vergessen, dass die Leute, die auf Großkonzerte gehen, nicht automatisch auch jene sind, die in die kleineren Clubs gehen. Ein Beispiel: Wer zu Helene Fischer oder zu Andreas Gabalier ins Stadion geht, wird kaum zu einer Indie-Pop-Band ins Chelsea gehen. Aber bei den Musikliebhabern, die sowohl Beyoncé oder die Stones sehen wollen, als auch kleinere Indie-Bands, da ist es ein Faktor, ob der Durchschnittspreis bei 45 Euro liegt, wie etwa bei Patti Smiths Tournee dieses Jahr, oder bei ein paar hundert Euro. Für die wirklichen Musikfans bleiben bei niedrigen Ticketpreisen mehr Euro in der Tasche, die sie dann vielleicht in ein paar Clubkonzerte investieren können. Es kommt also auch auf die Künstler*innen an. Man darf die Rolle der Künstler*innen in diesem Spiel nicht unterschätzen. Ich weise das im Buch für die Beyoncé-Tour aus. Aber auch die Rolling Stones sind dafür berühmt. Die Künstler*innen sind nicht immer die Freund*innen der Fans.

Sie bringen auch das Beispiel, dass beim Beyoncé-Konzert eine einfache Karte (nicht Silber, Gold oder Platin), sondern der einfache Stehplatz, 158 Euro kostet. Wo ist angesichts solcher Preise ein Ende in Sicht? Das erinnert doch ein bisschen an Immobilienspekulationen, bei denen man sich seit Jahren fragt, wann die Blase denn endlich platzt und die Preise wieder normales Niveau erreichen, aber de facto nichts dergleichen passiert, sondern die Preise immer weiter in den Himmel schießen. Wann ist im Veranstaltungsbereich der Plafond erreicht? 

Berthold Seliger: Marek Lieberberg, der größte deutsche Konzertveranstalter, hat vor etlichen Jahren einmal gesagt, dass er hundert Euro als Schallgrenze für einen Konzertpreis erachtet. Hundert Euro sind heute der Durchschnittspreis. Die Entwicklung ist irrsinnig. Das hat natürlich auch mit dem neuen Denken im kapitalistischen Realismus zu tun. Früher war es so, dass jemand etwas produziert und versucht hat, damit Geld zu verdienen, aber mit einem gewissen Gewinn dann auch zufrieden war. Soziale Marktwirtschaft nannte man das. Heute gilt es als bedenklich, wenn ein Konzern wie Apple weniger als 300 Millionen Dollar Reingewinn im Quartal ausweist, und die Aktien sinken.
Dazu kommt, dass eine Band oder ein bestimmtes Musikstück ja keinen realen Wert haben, sich insofern besonders gut für eine spekulative Überhöhung eignen. Boltanski und Esquerre sprechen von einer „Bereicherungsökonomie“, es geht nicht mehr um das normale Wirtschaften, um die Produktion alten Zuschnitts, sondern darum, die Dinge, die Waren mit einer Geschichte, mit einer zusätzlichen Bedeutung aufzuladen, damit sie eine überhöhte Relevanz und damit Attraktivität für potentielle Käufer*innen erhalten. Ich glaube, die Musikindustrie ist generell besonders gut darin, ihre „Waren“, ihre „Produkte“ in diesem Sinn anzureichern…

„Die Angst vor der Plattform, die den Vertriebskanal hat, ist den Künstlerinnen und Künstlern, dem Personal der Kulturindustrie, so tief in die Eingeweide eingeschrieben, dass sie sich gar keine andere Welt mehr vorstellen können.”

Sie bringen den Vergleich zwischen Musik- und Drogengeschäft. Gucci Mane, ein Rapper, der früher im Drogengeschäft war und es deshalb wissen muss, wird mit folgendem Satz zitiert: „Wer über die Distributionskanäle verfügt, der hat die Macht. Der kann den Markt mit seinen Produkten fluten.” Wer ist das derzeit? Wer verfügt über die Macht der Distribution? 

Berthold Seliger: Sicherlich die Ticketing-Konzerte: Ticketmaster, also Live Nation, und CTS Eventim. Denen gehören die Vertriebskanäle, die verschaffen die Macht. Und wir wissen, dass in der digitalen Wirtschaft die dominierende Plattform diejenige ist, die ein Quasi-Monopol ausübt. Denken Sie an Google, an Amazon oder Facebook. Und CTS Eventim zählt in Deutschland zu den drei größten E-Commerce-Anbietern, neben Amazon und Otto. Sie kommen als Konzertveranstalter oder Club und Kulturzentrum, also als Ticketverkäufer, praktisch gar nicht um diesen Monopolisten herum. Selbst alternative Bands wie z.B. Deichkind vergeben ihr Ticketing exklusiv an CTS. Warum? Weil sie wie viele andere auch Angst davor haben, dass die Leute sonst die Tickets im Netz nicht finden und somit nicht genug Tickets verkauft werden.
Die Angst vor der Plattform, die den Vertriebskanal besitzt, ist den Künstler*innen und dem Personal der Kulturindustrie so tief in die Eingeweide eingeschrieben, dass sie sich förmlich gar keine andere Welt mehr vorstellen können. Das ist ein Problem. Ich habe es selber erlebt. Ich dachte immer, wenn die Leute ein Patti Smith-Konzert sehen wollen, dann finden sie schon heraus, wo es die Karten zu kaufen gibt, wenn es sie nicht bei CTS gibt. Aber viele Leute gehen halt nur noch auf die Plattformen von CTS und Ticketmaster. Wenn sie dort eine/n Künstler*in nicht finden, dann denken sie, der/die findet nicht statt. Das ist das Problem der Plattformwirtschaft. Die Leute suchen ja auch auf Amazon etwas, statt auf den Verlagsseiten oder der Band-Website. Die Leute gehen zu demjenigen, der die dominierende Plattform hat, nicht zu dem, der die Waren herstellt.

Aber liegt es nicht in der Natur der Sache, dass diese Ticketing-Unternehmen, die als Aktiengesellschaften organisiert sind, zuallererst gewinnorientiert arbeiten? 

Berthold Seliger: Da muss man genau hinschauen. Von den drei großen Konzernen sind zwei als Aktiengesellschaften organisiert. Da muss der Shareholder-Value bedient werden. Die Aktionäre erwarten Profit, denen ist Kultur egal. Da liegt schon, aus Sicht der Kulturarbeit betrachtet, in der Struktur ein Denkfehler, und das führt natürlich dazu, dass die Bosse von Live Nation oder CTS Eventim gar kein Interesse mehr an Kultur haben.  Es gibt aber auch das Modell von AEG, also der Anschutz Entertainment Group, dem weltweit zweitgrößten Konzertveranstalter, der zum Beispiel die Welttourneen von Ed Sheeran organisiert, dem umsatzstärksten Live-Act aller Zeiten, oder Festivals wie das Coachella veranstaltet. Die AEG ist auch stark im Immobiliengeschäft, sie baut Entertainment-Komplexe und betreibt Konzerthallen von Las Vegas bis Shanghai, von London und Dubai bis Berlin. Und AEG gehört der Anschutz-Familie, die zu den reichsten der USA gehört. Aber ansonsten sind AEG und ihre Eigner ganz ähnlichen Kriterien verpflichtet, nämlich dem Profit.

Egal ob nun Amazon und YouTube einerseits oder Live Nation und CTS Eventim andererseits: Wieso wartet man eigentlich immer so lange, bis diese Firmen so groß geworden sind, dass man sich ihren Monopolen beugen muss? 

Berthold Seliger: Da gibt es einige Theorien dazu. Man sieht es in der Tonträgerindustrie: Wie kann es sein, dass Apple, ein Technik-Konzern, den Content-Inhabern, also den Plattenfirmen, die Bedingungen diktiert hat? Das ist im Grunde vollkommen absurd. Gerade im Digitalen erleben wir auf vielen Ebenen, dass die „alten“ Konzerne schlicht die Entwicklungen verschlafen. Das heißt heute nicht mehr, zehn Jahre hinten zu sein. Ein halbes reicht schon. Große Tanker scheitern an ihrer Selbstgefälligkeit und an ihrer Schwerfälligkeit. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als die Musikkonzerne allesamt gegen Streaming waren, weil sie einfach nicht kapieren wollten, dass das der zukünftige Markt wird. Heute sagt jede/r Musikmanager*in: „Streaming ist Gott.” Da wird das Geld verdient, was für die Tonträgerfirmen stimmt, für die Künstler*innen leider nicht. Ich glaube, da gibt es eine Schlafmützigkeit und ein überbordendes Selbstbewusstsein alter Konzerne, die so tun, als ob der Weg, den man immer schon so bestritten hat, der einzig gangbare sei.

Sie schreiben, Musiker*innen sowie Bands seien in dem derzeitigen Modell längst zur Verhandlungsmasse global operierender Großkonzerne verkommen. Was lässt sich dagegen tun? Wie massiv müssen die Eingriffe sein, um etwas in die richtige Richtung zu bewegen? Geht das mit Verbraucherschutz? Oder brauchen wir neue Gesetze, die den freien Markt beschränken? 

Berthold Seliger: Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Situation, also des kapitalistischen Realismus, wie Mark Fisher das genannt hat, stehen wir ja gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand  und können kaum mit einer raschen Verbesserung und Veränderung rechnen. Es kommt also auf eine Vielzahl kleiner Schritte an, zum Beispiel verbraucherschutzrechtliche Maßnahmen wie die Deckelung der Vorverkaufsgebühren und der Versandgebühren, oder nicht-profitorientierte Ticketing-Plattformen in öffentlicher Hand.
Aber auch das Kartellrecht muss man unbedingt ernster nehmen. Vorbild wären da die USA, die das wesentlich schärfer exekutieren. In Deutschland und Österreich ist das im Vergleich deutlich schlechter und geradezu zahnlos. Natürlich müssen Konzerne wie CTS Eventim zerschlagen werden – in dem Sinne, dass deren Ticketing- und Konzertbereiche voneinander getrennt werden müssen und als jeweils separate Firmen weiter existieren. Wir müssen vertikale wie horizontale Verflechtungen beseitigen. Wenn so etwas im kapitalistischsten Staat der Erde, den USA, möglich ist, warum dann nicht auch in Deutschland oder Österreich?
Und dann geht es um neue gesetzliche Initiativen: Ich denke etwa an einen Kulturraumschutz analog zum Denkmalschutz. Dieser Kulturraumschutz würde darin bestehen, dass man Kulturräume als wesentlich betrachtet und sie unter gesetzlichen Schutz stellt. Und das würde zunächst für den Erhalt der Gebäude und der Infrastruktur gelten, aber auch für die Mietpreise der Clubs, Kulturzentren und sonstigen Veranstaltungsorte, die nur noch analog zur Inflationsrate steigen dürfen. Und langfristig sollte ein derartiger Kulturraumschutz auch für alle sonstigen Orte entwickelt werden, an denen wir die kulturelle Vielfalt erleben können: Für Kinos, Galerien oder auch Buchhandlungen.
Heute werden viele unserer Kulturorte doch durch die Hintertür beerdigt, indem Immobilieninvestoren die Gebäude aufkaufen und die Mieten drastisch erhöhen. Dem muss einfach ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben werden. Dann kann es nicht mehr passieren, dass etwa Zalando die Häuser kauft und den Clubs sagt: „Ihr dürft schon bleiben, nur leider, leider müssen wir euch die Mieten zu 150% erhöhen.”
Niemand würde auf die Idee kommen, dass die Wiener Staatsoper abgerissen werden soll, damit dort Luxuswohnungen hinkommen oder ein teures Bürohaus. Das ist für die Gesellschaft selbstverständlich, dass die Staatsoper unter Schutz steht. Bei den Orten der Popkultur ist das leider häufig nicht der Fall. Die sind aber für die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft genauso wichtig, und deshalb müssen wir sie unter einen ähnlich selbstverständlichen Schutz stellen. Da muss es ein klares Bekenntnis geben: Wir schützen das! Wir wollen diese Kulturräume, sie sind uns wichtig, und wir sichern ihren Erhalt!

Der Kampf um Wohnraum und kulturelle Räume müsse zusammengeführt werden, sagen Sie im Buch. Heißt das, man muss einen weiten Bogen spannen und sich anschauen, wo die Auswüchse des Kapitalismus so sind, dass man etwas dagegen tun muss? 

Berthold Seliger: Genau das, ja. Wir erleben heute doch in den attraktiven Großstädten weltweit eine gigantische Zufuhr von Kapital. Das führt dazu, dass Häuser und Grundstücke zu Preisen gekauft werden, deren Refinanzierung durch Mieteinnahmen unter bestehenden Verträgen völlig illusionär ist. Also gehen die Investoren daran, die Verträge aufzulösen. Das ist doch der Hauptgrund für die sogenannte Gentrifizierung: Sie wird nicht von Künstler*innen und Kreativen betrieben, sondern dadurch, dass soviel internationales Kapital bereitsteht, das investiert werden will und den sogenannten Boom auslöst.
Und ich sehe die einzige Lösung für Menschen, die bezahlbaren Wohnraum suchen, und für Kulturräume, die die kulturelle Vielfalt sichern, tatsächlich darin, dass ein starker, intervenierender Staat als Gegenpol zum sogenannten „freien“ Markt fungiert und Lösungen zugunsten der Menschen, zugunsten der Gesellschaft findet. Da sind Sie in Wien ja seit Jahrzehnten ein Vorbild, was die Wohnraumsituation angeht, da können wir in Berlin viel von lernen.

Aber je breiter die Stoßrichtung in Richtung allgemeine Kapitalismuskritik geht, desto wahrscheinlicher ist doch auch, dass der Vorwurf kommt, Sie seien ein Pop-Linker. 

Berthold Seliger [lacht]: Jetzt fangen Sie auch noch an. Aber im Ernst: Mir geht es darum, dass wir den Kampf um die Vielfalt der Kultur nicht isoliert sehen. Das wäre engstirnig und wir würden damit scheitern. Wir müssen Hand in Hand mit den Leuten gehen, die für günstigen Wohnraum kämpfen. Wir müssen Hand in Hand mit denen gehen, die gegen soziale Ungerechtigkeiten kämpfen. Das alles gehört doch zusammen. Abgesehen davon ist die beste Popförderung, für günstige Mieten zu sorgen. Künstler*innen leben meist in prekären Verhältnissen. Das war schon zu Schuberts Zeiten so. Wenn man sich vor Augen führt, wie verzweifelt er leistbaren Wohnraum suchte, damit er endlich vor seinem Elternhaus und dem strengen Vater fliehen konnte. Da sieht man: Die Probleme waren damals ähnliche wie heute. Deshalb braucht es günstige Mieten und günstige Proberäume, deswegen benötigen wir Clubs und Kulturzentren, eben utopische Räume, in denen Kultur stattfinden kann. Wenn wir den Humus nicht bereiten – Clubs, günstige Mieten und in weiterer Folge auch Mindestgagen – dann wird die Popkultur eine trostlose Angelegenheit werden. Und genau dahin entwickelt sie sich ja auch schon in Teilbereichen.

Stéphane Hessel schrieb das Buch „Empört euch“, in dem es um den Umgang mit Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft und den Umgang mit ökologischen Ressourcen geht. Müssen wir uns mehr darüber empören, wie mit kulturellen Ressourcen umgegangen wird? 

Berthold Seliger: Auf jeden Fall. Das mit dem „Empört euch!” halte ich persönlich aber für eine, sagen wir „gefühlslinke“, sagen wir „Althippie“-Haltung, wobei Hessel natürlich eine sehr honorige Person ist. Wichtig ist aber die genaue gesellschaftliche Analyse. Wir müssen uns genau anschauen, was in unserer Gesellschaft schiefläuft und warum. Ich bin da vielleicht altmodisch, aber ich halte es mit Brecht, wonach die Verantwortlichen Namen, Gesicht und eine Adresse haben. Wer steckt also dahinter?
Welche gesellschaftlichen Entwicklungen stehen dahinter? Hat man das herausgefunden, muss man sich nicht nur empören, sondern darangehen, die Dinge zu verändern, damit wir wieder in einer Gesellschaft leben, in der die Kultur auch wirklich dazu beitragen kann, uns eine Idee vom Menschsein zu geben, ganz im Sinn von Peter Hacks, der gesagt hat, dass der Zweck der Künste „die Nachricht über eine Haltung ist, die man der Wirklichkeit gegenüber einnehmen kann.“ Im Moment ist da eher die diametrale Entwicklung zu erleben. Wir leben in einer kulturellen Ödnis, wie es Marc Fischer in einem seiner letzten Texte beschrieb. Die Verhältnisse waren selten trister als heute.

„Wenn Sie irgendwo gelesen haben, dass die Leute früher von den Plattenverkäufen leben konnten, sollten Sie die Zeitung abbestellen.“

Das, was Sie sagen, ist schon sehr desillusionierend. Das Live-Geschäft galt nach dem Niedergang des Tonträgers als das Geschäftsfeld, in dem man Geld verdient. Jetzt kommt der Seliger und sagt, da würden eigentlich nur Superstars und Konzerne verdienen.

Berthold Seliger: Naja, wenn Sie irgendwo lesen, dass die Musiker*innen früher von den Plattenverkäufen leben konnten, sollten Sie die Zeitung abbestellen. Das ist ja blanker Unsinn. Es gab eine ganz kurze Phase, in der Künstler*innen für ihre Platten besser bezahlt wurden. Das war die Zeit, als die CD erfunden wurde und es die Musikindustrie schaffte, den ganzen Backkatalog noch mal zu verkaufen, und zwar zu erhöhten Preisen. Mick Jager hat das auf BBC mal ganz deutlich gesagt: „Mit Platten ließ sich nur eine sehr, sehr kurze Zeit Geld machen, aber jetzt ist diese Periode vorbei.“ Vor dieser Periode und seither war und ist es immer so, dass die meisten Musiker*innen von ihren Konzerten leben. Oder von ihren Nebenjobs.
Mir ist schon klar, dass ich da jede Menge Negatives aufs Tableau bringe. Auch Deprimierendes, weil die Analyse der Verhältnisse nun einmal deprimierend ist. Aber mein Buch schließt ja bewusst positiv, denn wir müssen uns immer vor Augen halten, dass Kultur eine ganz besondere, eigene Qualität hat. Sie gehört zu den essentiellen Bedürfnissen der Menschen, sie ist, wie Lukács gesagt hat, „die Idee vom Menschsein des Menschen“. Und genau diese Idee müssen wir gemeinsam wieder stärker herausarbeiten, dafür lohnt es sich zu kämpfen. Die Verhältnisse sind ja veränderbar. Verloren hat nur, wer nicht beginnt zu kämpfen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Markus Deisenberger

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Berthold Seliger: „Vom Imperiengeschäft“
Edition Tiamat, Berlin 2019
344 Seiten, 20 Euro

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