IMANI RAMESES hat sich lange im Spiegel betrachtet. Bis zu fünf Stunden saß die Wissenschaftlerin und Performancekünstlerin vor ihrem Spiegelbild – vorläufige Erkenntnisse präsentiert sie mit dem Stück „First Person Plural”, das beim imagetanz 2025 im brut zur Aufführung kommt. Neben fünf Identitäten gehört auch Musikerin MALI MOHA zum Ensemble. Mit beiden hat sich Christoph Benkeser unterhalten.
Imani, du beschäftigst dich mit dem Gehirn in der Kunst. Mali, du bist Musikerin – wie kommt ihr zusammen?
Imani Rameses: Marleen war meine erste Freundin in Österreich. Das erste Mal haben wir uns vor neun Jahren getroffen – auf einer Party am Lagerfeuer. Ich habe sofort gemerkt, wie frei sie war. Sie sang und jammte und war einfach offen. Also wollte ich in ihrer Nähe sein.
Mali Moha: Ich auch, Imani! Du hast getanzt und gejammt, das hat mir gefallen. Wir haben uns sofort verbunden.
Imani Rameses: Ja, der einzige Unterschied zu heute ist: Damals war alles entspannt und spielerisch – jetzt sind wir im Theater.
Du sagst das so, als wärst du darüber überrascht.
Imani Rameses: Es fühlt sich an wie ein Paralleluniversum. Alles daran ist überraschend, weil es jetzt endlich passiert. Dabei ist die Idee schon 2022 entstanden. Damals begann ich mit meinen Mirror-Gazing-Übungen. Das heißt: Ich betrachtete mich 30 Minuten lang im Spiegel, dann eine Stunde, später zwei, fünf.
Fünf Stunden?
Imani Rameses: Ja, ich wollte sehen, was passiert. Die ursprüngliche Idee kam aus meiner Masterarbeit – ich habe Neurowissenschaften studiert, mein Schwerpunkt ist Neuroästhetik. Ich wollte herausfinden, wie viel man aus einer Choreografie entfernen kann, bevor sie sich auflöst.
Wie lange schaust du in den Spiegel, Mali?
Mali Moha: Wenn ich verzweifelt bin, länger.
Je verzweifelter, desto länger?
Mali Moha: Ja, dann rede ich mit mir, sage mir, dass alles gut wird und dass ich mich liebe.
War das auch dein Gefühl beim Blick in den Spiegel, Imani?

Imani Rameses: Ich bin es schon wissenschaftlicher angegangen. Natürlich gibt es ein existenzielles Element, aber als Wissenschaftlerin wollte ich wissen, warum. Ich legte feste Zeiten fest, in denen ich mich vor den Spiegel setzte, machte Notizen. Dann begann ich mit neurowissenschaftlicher Forschung. Schließlich entfernte ich mich vom Empirischen und beschäftigte mich mit afroamerikanischer Alchemie.
Also, von der Wissenschaft zu ihrer Vorläuferin?
Imani Rameses: Ich untersuchte diasporische Rituale mit Spiegeln – etwa das Starren in eine Wasserschale, um sich mit dem Geist zu verbinden. Spiegel wurden in manchen Kulturen auch als Gates genutzt. Dann gibt es das innere Auge – jenes, mit dem man sich selbst sieht. Ich kombinierte diese Perspektiven mit europäischen Traditionen, um ein neues Verständnis meines Selbstbildes zu entwickeln.
Gibt es ein Selbstbild oder mehrere?
Imani Rameses: Mein Stück ist ein Fünf-Personen-Solo – genau wegen dieser Frage. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sah, fragte ich mich, wer bestimmt, was das Bild ist. Wenn dieser Platz infrage gestellt wird – wer entscheidet dann? Das war der Beginn meiner Fragmentierung.
„DURCH DAS LÖSCHEN ERLAUBE ICH MIR, ALLES GLEICHZEITIG ZU SEIN.”
Du hast deinen Geist zersplittert?
Imani Rameses: Ja, das ist gefährlich, deshalb braucht man Begleitung. Aber ich bin froh, es gemacht zu haben. Ich fühlte mich ohnehin schon fragmentiert. Das Bild ist nur eine Metapher für den ständigen Widerspruch zwischen dem, was man denkt, und dem, was man sein soll.
Kannst du das erklären?
Imani Rameses: Ich frage mich, ob es überhaupt ein Bild geben muss. Mein Ziel ist, selbst zum Spiegel zu werden – als alchemistischer Akt, um mein Bild zu löschen. Nicht ins Nichts, sondern so, dass ich alles auf einmal sehe.
Ein endloser Kreislauf?
Imani Rameses: Ja, das ist ein Thema des Stücks: Loops. Durch das Löschen erlaube ich mir, alles gleichzeitig zu sein. In der Bewegung setzen sich diese Fragmente in Aktion, um zu erkunden, wie sie in einem Körper koexistieren.
Kann sich die Musik ebenfalls vervielfältigen?
Mali Moha: Ich denke, die Musik hält den Raum für diese Pluralität.
Aber kann sie diese Pluralität auch widerspiegeln?
Mali Moha: Ja, das war der Ansatz – Imani gab mir zum Beispiel zu Beginn die Aufgabe, in eine dieser Identitäten einzutauchen, eine, die …
Imani Rameses: Rooted ist und ready und down – im Black Slang heißt es: „She’s bout it.”
Mali Moha: Aber ohne an der Stelle zu viel zu verraten: Es gibt vier weitere Identitäten.
Imani Rameses: Und innerhalb einer Persona spiegelt die Musik eine neue Vielheit wider. Wenn sich die Loops räumlich verändern, entstehen Spiralen. Wir nutzen diesen Aspekt, um den Charakteren Dimensionen zu geben. Wir sind viele Personas, mit unzähligen Möglichkeiten der Iteration.
Mali Moha: Gleichzeitig sind sie verbunden – es dürfen keine getrennten Einheiten sein. Das war herausfordernd, hat mein Denken über Musik aber erweitert.
Inwiefern?

Mali Moha: Früher war Musik für mich eine abgeschlossene Sache – ein Stück ist ein Stück. Jetzt denke ich offener. Ich musste die Idee der Verbundenheit in die Musik bringen.
Imani Rameses: Ich hörte neulich das „Prince”-Album – seine Songs dauerten sechs, sieben Minuten. Ich vermisse diese Tiefe, diese Zeit zur Transformation. Manche Songs fühlen sich an wie drei in einem. Mali fängt dieses Prinzip wunderbar ein.
Weil sie der Musik Zeit gibt?
Imani Rameses: Weil sie Ambiguität zulässt. Es gibt keinen fixierten Ort für die Personas – sie sind einfach da.
Ist das die Auflösung, von der du sprichst? Es gibt keinen fixen Ort für sie?
Imani Rameses: Nein, ich will keine Auflösung. Sonst müsste es jemanden geben, der aufgelöst wird – aber das glaube ich nicht mehr. Deshalb endet das Stück nicht mit einer „Das Problem ist gelöst“-Schlussfolgerung. Leben ist gewaltsam – auf die schönste Art. Aber Gewalt ist eine Perspektive auf das, was um uns geschieht. Eine klare Auflösung würde das Fragmentierte nicht entsprechend würdigen. Dabei ist gerade das entscheidend: Wir haben nichts herausgefunden – und das ist großartig.
Ist es das?
Imani Rameses: Ja. Warum müssen wir immer alles lösen? Weil wir uns besser fühlen, wenn etwas abgeschlossen ist?
Weil dann etwas endet, vielleicht?
Imani Rameses: Genau. Aber dann glaubst du an Enden. Und warum solltest du das tun?
Mali Moha: Ja, es ist okay, wenn Dinge seltsam bleiben. Das ist essentiell für das Stück. Und: Es ist gut, langweiliger zu sein. Musiker:innen haben ständig Angst, dass ihre Musik zu langweilig wird. Also ändern sie etwas, nur um es zu ändern. Im Theater komponiere ich aber nicht gegen die Langeweile an. Ich komponiere für die Bewegung.
Imani Rameses: Das verlangt Raum und Tiefe, nicht ständige Veränderung. Auch wenn sich um eine:n herum ständig etwas verändert.
Danke für eure Zeit!
Christoph Benkeser
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Links:
Imani Rameses (brut)
Mali Moha (Homepage)
Imagetanz (Homepage)
