Wien Modern 2018 – Eine Bilanz zur Halbzeit

In guter Tradition versucht das mica – music austria auch zusammenfassende Rückblicke auf das Festivalgeschehen zu leisten. Höchste Zeit also, die Highlights und darüber hinaus Bemerkenswertes der 31. Ausgabe von WIEN MODERN 2018 zu betrachten. Mit drei großen, sehr ungewöhnlichen Orchesterkonzerten im Wiener Konzerthaus und im Musikverein kam das Festival in Woche 1 von 5 sehr schnell auf Betriebstemperatur. Mit zwei eindrucksvollen Aufführungen mit musiktheatralen Kompositionen von Olga Neuwirth erreichte es zur Halbzeit nachhaltig Eindruck machende Siedepunkte. Das Konzept des Intendanten Bernhard Günther ist auf das Schönste aufgegangen, dem Thema „Sicherheit und Risiko“ auch mit dem Risiko aufwändiger und ambitionierter Großprojekte zu begegnen. Bei „The Outcast“ hatte man das Gefühl, dass der Große Saal des Konzerthauses mit seinen 1865 Plätzen leicht zweimal gefüllt hätte werden können.

START MIT RISKANTEN ORCHESTERKONZERTEN

Mit gutem Beispiel gingen die Wiener Philharmoniker voran und spielten am 28.10. das Eröffnungskonzert ohne Dirigent und setzten zwei Stücke von John Cage (4’33” und Sixty-Eight) auf ihr Programm. Das berühmte „stille“ Stück, bei dem der Konzertmeister Rainer Honeck mit Blick auf die Uhr mit dem Arm den jeweiligen Beginn der drei Sätze anzeigte, wurde gegen Ende nur mit einem „Halleluja“-Ruf eines Manns aus dem Publikum unterbrochen – wahrscheinlich keine „Regieanweisung“ der Philharmoniker. In dem „Streulicht“-Werk „Scattered Light“ schickte Johannes Maria Staud kurz vor seiner Staatsopernpremiere das undirigierte Orchester in komplettes Neuland.

Johannes Maria Staud (c) Priska Ketterer

Die Wiener Symphoniker präsentierten drei Tage danach ein laut Stardirigent Sylvain Cambreling eigentlich „vollkommen unmöglich zu spielendes“ Virtuosenstück von Harrison Birtwistle, das dem Konzert seinen Titel „Panic“ gab. Cambreling selbst, gefragt, was für ihn eine besondere revolutionäre Neuerung in der Musik des 20. Jahrhunderts darstellte, wählte „Metastaseis“ von Iannis Xenakis als das von ihm präferierte Eingangswerk und akzeptierte auch gerne zwei Auftragswerke von Wien Modern, das „Konzert für hyperreales Klavier und Orchester“ von Malte Giesen und das Werk einer Österreicherin: Julia Purgina lieferte mit „Akatalepsia“ eine von Cambreling als „interessante, stilistisch sehr eklektische“ bezeichnete Partitur. Geigen samt Konzertmeister platzierte Purgina auf den Balkon. Die Panik, mit der Harrison Birtwistle mit seinem gleichnamigen Konzertstück 1995 bei der Londoner Last Night of the Proms sorgte, ist längst der Begeisterung gewichen und Helmut Lachenmann unterlief kurz vor seinem 83. Geburtstag genüsslich alle Erwartungen an ihn als „Geräuschmusiker“. Das tolle Stück würde auch in ein Neujahrskonzert passen. „Es ist eine große Reflexion darüber, wie man heute klassisch orchestrieren kann. Es gibt wie bei Mahler Ironie, Persiflage, aber auch Tragik und alles andere. Es ist auch lustig, es zitiert Musikgeschichte – Wagner, Brahms …“, sagte Cambreling dem Autor dieser Zeilen im Interview für den „Falter“.

 

Agata Zubel (c) Lukas Rajchert

Zwischen „Chaos“ (nämlich das der Einleitung zur Haydns Oratorium „Die Schöpfung“) und „Ekstase“ (Skrjabins „Le poème de l’extase“) verlief das Claudio Abbado Konzert mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Der Ostfriese Hans-Joachim Hespos kehrte mit „Symphonische Szene für Sopran, ImprovisierSchrank und ausgeräumtes Orchester mit Gelegenheitsdirigent“ am 2.11. in den Musikverein zurück, wo er 1970 als 32-Jähriger einen Skandal entfacht hatte (!). Wunderbare Sopransolistin war die Erste Bank-Preisträgerin Agata Zubel. Und neben einem Auftragswerk von Nicolaus A. Huber („… der arabischen 4“) ließ Friedrich Cerha mit der Uraufführung von „Drei Situationen für Streichorchester“ aufhorchen.

ENSEMBLE- UND SOLOWERKE

Das erste komplette Festivalwochenende machte den Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses zum temporären Festivalzentrum: Am Samstag, 3.11., spielte das Trio Accanto (Marcus Weiss, Christian Dierstein und Nicolas Hodges) neben John Cages Klavierkonzert ein neues Stück des Cage-Schülers und der Eminenz der amerikanischen Avantgarde Christian Wolff (der heuer Gast bei Wien Modern ist) und das neue, auch vom amerikanischen Jazz und John Coltrane inspirierte Stück des Neo-New-Yorkers Georg Friedrich Haas („Blumenwiese“), gefolgt vom Late-Night-Konzert des Studio Dan: Das Ensemble präsentierte Werke von Oxana Omelchu und Elisabeth Harnik („holding up a bridge“) und setzte einen absoluten Höhepunkt mit dem Auftragsstück, das es Vinko Globokar erteilt hatte. Der 1934 in Frankreich geborene slowenische Komponist und Posaunist schrieb mit „Passagio verso il rischio“ eine veritable Clownerie für „riskofreudige“ Musikartisten, als die sich die Ensemblemitglieder in ihrem Spielen und ihren mimischen Performances entpuppten. Ein seriös und achtungsheischend komponierter Spaß.

Ohne Netz und Drahtseil spielten auch ganz außergewöhnliche Solistinnen und Solisten in den ersten beiden Solo Challenge-Teilen Cello am 4.11. im Konzerthaus, Piano am 9.11. im RadioKulturhaus. In den Solokonzerten spielten Tamás Varga, Sévérine Ballon, Michael Moser, Audrey Cehn am Violoncello und Thomas Lehn, Oskar Aichinger, Georg Graewe am Klavier. Wie auch bei der noch bevorstehenden Solo Challenge Violin waren in jeweils anderen Interpretationen eindrucksvolle Versionen und Notierungen von Katharina Klement (Neues Werk; „Schütten“) und grafische Partituren von Anestis Logothetis zu hören. Neben Improvisationsteilen erklangen unter anderem Kompositionen von Zoltán Kodály, Zdzisław Wysocki und darauf sich beziehende Uraufführungen (Tamás Varga), Brian Ferneyhough, Xenakis (Rebecca Saunders), Helmut Lachenmann und Bernhard Lang (Michael Moser), bei den Pianisten spielte Oskar Aichinger „Komprovisationen nach polnischen Volksliedern und Musik von Witold Lutosławski“, Georg Graewe „Behauptung und Nachtrag III-X in zwei Interpretationen“.

Bei Casino Cage lud am 5.11. ein Croupier am Roulette-Tisch im ausgeräumten Großen Saal des Wiener Konzerthauses dazu ein, dem Zufall live bei der Arbeit zuzusehen. 14 junge Solistinnen und Solisten der MUK (Musik und Kunstuniversität der Stadt Wien) spielte.

Marino Formenti: Café Cage
Marino Formenti: Café Cage (c) nafezrerhuf.com

die virtuosen „Sequenze“ von Luciano Berio, wobei sie nach den Spielregeln von John Cages „Variations IV“jeweils drankamen. Auch Studenten der mdw (Universität für Musik und darstellende) Kunst solierten bereits am Eröffnungstag beim von Marino Formenti erdachten und geleiteten Projekt Bibliosphäre acht Stunden lang aus Noten der über 250.000 Titel umfassenden Bibliothek der mdw. Ausgewählt wurden Stücke von Hildegard von Bingen, Perotinus, Guillaume de Machaut, Adam Jarze, Michel Lambert, Carl Philipp Emanuel Bach, Franz Schubert, Rebecca Clarke, John Cage, György Kurtág, Salvatore Sciarrino, Tom Waits, Takashi Yoshimatsu u.v.a. Marino Formenti selbst spielt(e) an vier Terminen sein Café Cage in den Cafés Ritter (30.10.), Prückel (24.11.), Zweistern (27.11.), im Kulturverein Frau Mayer (2.11.) und im Ungar Grill (26.11.) auf den vor Ort vorhandenen Klavieren in der normalen Klangkulisse von Gesprächen und Geschirr, ohne Eintrittskarten, für das ganz normale Kaffeehaus- und Festivalpublikum Klaviermusik der New Yorker Avantgarde-Legende John Cage. Cage pflegte ein entspanntes Verhältnis zu Umgebungsgeräuschen, Formenti liebt es, Musik in unerwartete Zusammenhänge zu bringen.

Der wirklich große Höhepunkt der Soloabende war aber wohl Pierre-Laurent Aimard mit den Ligeti-Etuden am 6.11. im Mozart-Saal des Konzerthauses. Aimard spielte ohne Pause eine eigens von ihm für sein Konzert zusammengestellte Reihenfolge aus den drei Bänden der „Études pour piano“, die zwischen 1985 und 2001 entstanden sind und nach Bach und Beethoven so etwas wie das „Neueste Testament“ der Klavierliteratur wurden. Das als „unspielbar“ geltende Etüden-Werk hat Aimard, die enormen technischen Schwierigkeiten nicht zur Schau stellend, geradezu „gesungen“.

Es würde den Rahmen sprengen, hier über alle weiteren Konzertereignisse der mehr als ersten Hälfte des Wien Modern-Festivals zu berichten, dazu gehörte jedenfalls das Ensemble-Wochenende im Semperdepot am 10. und 11.11. mit Aufführungen von Roman Haubenstock-Ramati mit dem ensemble recherche Freiburg und dem Klangforum Wien, dessen Mitbegründer Haubenstock war. Zu hören war mit dem Klangforum Wien auch das neue Ensemblewerk von Elisabeth Schimana („Virus #3.3“).

FILMMUSIK UND MUSIKTHEATER VON OLGA NEUWIRTH

Am 7. November 2018 erfolgte die Vorführung des von Filmarchiv Austria restaurierten Films „Die Stadt ohne Juden“, zu der das Wiener Konzerthaus gemeinsam mit anderen Partnern Olga Neuwirth den Auftrag für eine neue Filmmusik erteilt hatte. Gespielt wurde sie vom Ensemble PHACE. Der Stummfilm von 1925 ist eine der erstaunlichsten künstlerischen Produktionen der Ersten Republik: Nach dem prophetischen Roman des jüdischen Schriftstellers und Journalisten Hugo Bettauer zeigt er die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung und den damit einhergehenden ungeheuren Verlust für die Stadt. Einem Zufallsfund auf einem Pariser Flohmarkt und einer großen Crowdfunding-Initiative ist es zu verdanken, dass das Österreichische Filmarchiv jetzt die restaurierte und vervollständigte Fassung zeigen kann. Olga Neuwirths Musik stellt ein Scharnier zwischen dem Antisemitismus der Vergangenheit und heute her. Ihre Musik greift auf Blasmusikkapellenklänge und Heurigenmusik zu, aber auch auf jüdische Klagegesänge.

Die mit Abstand größte Produktion des laufenden Festivals, die Konzertinstallation „The Outcast“ von Olga Neuwirth erlebte am Mittwoch, den 14.11. im Wiener Konzerthaus mit 9 Solistinnen, 2 Chören und Orchester die Uraufführung der Neufassung mit Bühnengestaltung und Videozuspielungen der Britin Netia Jones. „Diese Aufführung forderte von allen ein Maximum (…) Von der Technik, die Livemusik, Gesang, Sprechtheater, Zuspielungen und Videos eindrucksvoll auf einen Nenner brachte. Von der Komponistin Olga Neuwirth, die mitten im Saal sitzend das akustische Geschehen vom Mischpult aus steuerte. Von den Solisten und den Chören. Und von der zu Recht gerühmten britischen Regisseurin Netia Jones, die Meer und Seefahrt mit auf Screens projizierten Filmbildern und hängenden Stahlseilen anschaulich machte und mit den Farbtönen (nomen est omen) Grau, Blau, Schwarz und Grün die einzelnen Teilen des Stücks markierte“, heißt es im in der Zeitschrift „Falter“ am 21.11. veröffentlichten Artikel vom Autor dieser Zeilen. In den verschiedenen in Zeitungen erschienenen Kritiken und Besprechungen ist stellenweise auch von der Überforderung die Rede, die die Musik und vor allem das englischsprachige Libretto an das Verständnis der Texte stellte, die man im abgedunkelten Saal auch nicht mitlesen konnte.

Olga Neuwirth: “The Outcase” (c) Markus Sepperer

Zum Abschluss dieser Bilanz hier die gekürzte Würdigung des Ereignisses durch den Autor in dessen erster Fassung: „Meiner Ansicht nach ist Neuwirths Opus in der Tat ein Gesamtkunstwerk in Musik, Szene und Bild. Und zwar jenseits von Richard Wagners ‚Gesamtkunstwerk‘-Begriff, von dem der große Hanns Eisler einmal polemisch schrieb, er fordere vom Publikum, ‚das Hirn in der Garderobe abzugeben‘. Olga Neuwirths musikalische Installation beeindruckte das Publikum nicht nur wegen seiner aufwändigen Gestaltung. Wenn man es sah und im meist abgedunkelten Raum hörte, tat man aber gut daran, zuvor das englischsprachige Libretto im Programmheft gelesen zu haben. ‚Jeder Mensch, jede Frau hat ein Recht auf ein gutes, erfülltes Leben in Freiheit … Für dieses Ziel muss man den Mund aufmachen. Melville hat es getan. Gegen die Beengung einer Zuordnung zu einer einzigen Identität‘, wird sie im Katalog zitiert. Sie hat sich den Kopf zermartert, wie man das in 85 Minuten darstellen kann und steuerte das akustische Geschehen vom Mischpult aus“.

Heinz Rögl

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Wien Modern
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