„Wenn wir improvisieren, ist das für uns wie ein Moment des freien Falls [ …] “ – HALS im mica-Interview

Mit „free fall a cappella“ (Session Work Records; 16.05.) präsentiert das Vokalquartett HALS sein Debütalbum – ein faszinierendes Zusammenspiel aus präziser Technik und freier Improvisation. Anna Anderluh, Amina Bouroyen, Anna László und Verena Loipetsberger verweben komplexe Kompositionen mit spontanen Klangexperimenten. Jede Stimme bleibt eigenständig, verschmilzt jedoch zu einem Klangbild, das mal zart schwebt, mal kraftvoll entfesselt ist. HALS brechen bewusst mit Perfektion, um Raum für das Unvorhersehbare zu schaffen. Das Album lädt dazu ein, Musik als lebendigen Moment zu erleben – offen, mutig und ohne Sicherheitsnetz. Im Interview mit Michael Ternai sprechen die vier Sängerinnen über ihre Interpretation des A-cappella-Begriffs, die Bedeutung der Improvisation in ihrer Musik und den erreichten Meilenstein.

HALS gibt es ja schon mehrere Jahre. Ihr tretet auch regelmäßig auf. Warum hat es dann mit einem Debütalbum dennoch so lange gedauert.

Anna Anderluh: Das liegt daran, dass sich die Besetzung öfters verändert hat. Die aktuelle Besetzung gibt es seit etwa 3 Jahren.

Es war also wirklich an der Zeit für ein Album?

Anna Anderluh: Anna und ich wollten ja immer wieder schon ein Album machen. Auch schon mit den anderen Besetzungen. Und dann sind diese aber zerbrochen oder es war Corona. Aber ja, es war jetzt wirklich an der Zeit, die Sachen aufzunehmen.

Anna László: So wirklich ernst wurde es aber tatsächlich erst jetzt, weil sich jetzt die Essenz der Gruppe so schön herauskristallisiert hat. Die Dinge haben sich jetzt sehr schön gefügt und gefunden. Vor einem Jahr im Frühling hatten wir eine Tour und nach dieser, fassten wir dann den Beschluss, es mit dem Album anzugehen. Dieses Repertoire lässt sich herzeigen.

Ihr vermischt in eurer Musik viele Sachen aus sehr unterschiedlichen Richtungen. So eine stilistische Vielfalt ist eher untypisch für A capella.

Amina Bouroyen: Ich glaube, das hat sich dadurch ergeben, dass ein zentraler Aspekt unserer Band darin besteht, dass jede von uns eigene Stücke mitbringt – das heißt, jede komponiert und arrangiert selbst. Natürlich haben wir alle einen gewissen gemeinsamen Nenner, da wir mehr oder weniger einen Jazz- oder popularmusikalischen Hintergrund teilen. Gleichzeitig bringt jede von uns ihren eigenen Geschmack und Stil mit ein, was letztlich ganz natürlich zu einer großen musikalischen Bandbreite führt – etwas, das wahrscheinlich in jeder Band auf die eine oder andere Weise der Fall ist.

Anna Anderluh: Das Verbindende ist eigentlich – und das war uns von Anfang an klar – das Element der Improvisation. Die Idee zu dieser Formation hatte ich, als ich an einer Session im Jazzclub MIO im 16. Bezirk teilgenommen habe. Dort hat jede:r für eine gewisse Zeit eine Session zu einem bestimmten Thema organisiert. Als ich an der Reihe war, dachte ich mir, dass es sehr schade ist, dass bei solchen Sessions oft nur wenige Sängerinnen mitmachen. Deshalb habe ich einen Abend mit Sängerinnen geplant und ihn im Grunde in der heutigen Besetzung umgesetzt. In der Folge hat sich die Gruppe dann recht schnell zusammengefunden. Wir fanden, dass in A-cappella-Gruppen viel zu wenig improvisiert wird – beziehungsweise dass sich viele nicht trauen zu improvisieren. Wir wollten etwas schaffen, das den Charakter und das Feeling einer Jazzband hat – aber eben ausschließlich mit Sängerinnen. Dass es eben auch viele offene Parts gibt.

Anna László: Für uns war auch wichtig, dass die A-cappella-Welt oft sehr stark in festen Kategorien denkt – sei es der poppige Stil von Gruppen wie den Pentatonix, die großartiges Pop-A-cappella machen, oder der eher traditionelle Jazz-Ansatz der New York Voices mit ihren klassischen Voicings. Wir wollten von Anfang an genreübergreifend arbeiten. Uns ging es darum, uns von den stilistischen Vorgaben dieser Szene zu lösen und A-cappella-Musik mutig und frei zu gestalten – ohne Angst, ohne Schubladen.

A-cappella ist ein wunderschönes, aber auch herausforderndes Genre. Wir haben keine Harmonieinstrumente, können uns nicht an einem Klavier oder Kontrabass orientieren – wir haben nur uns selbst. Und genau das macht es so spannend: den Moment zu erleben, in dem wir den Song verlassen, sich alles weitet – und die kollektive Improvisation beginnt.

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Deswegen auch die Bezeichnung free fall a-capella.

Anna László: Genau. Wenn wir improvisieren, ist das für uns wie ein Moment des freien Falls – als würden wir aus einem Flugzeug springen und uns sagen: Okay, hören wir einander zu und schauen wir, wo und wie wir landen – und wie sich alles am Ende auffängt. Das nur mit Stimmen zu tun, macht es noch einmal spannender als in einer Instrumentalgruppe.

Verena Loipetsberger: Ja, und es geht auch darum, sich wirklich so verhalten zu können wie in einer Band. Wenn es in einem Song eine improvisierende Solistin gibt, übernehmen die anderen die Begleitung – aber nicht starr, sondern wie eine flexible Rhythmusgruppe, die auf das reagiert, was gerade entsteht. Die Begleitung muss nicht festgelegt sein, sondern kann sich im Moment formen – im direkten Zusammenspiel mit der Solistin. Das ist total spannend.

Anna László: Spannend ist auch zu beobachten, wie das Publikum auf diese freien Momente reagiert. Manchmal fragen wir uns schon, ob wir den Zuhörer:innen vielleicht nicht doch ein bisschen zu viel zumuten. Aber immer wieder zeigt sich: Die Leute gehen begeistert mit. So etwa vor Kurzem in Graz, bei einem unserer Auftritte – das Publikum war voll dabei. Wir binden die Menschen ja aktiv in unsere Konzerte ein und bitten sie zum Beispiel, uns spontan eine Stadt oder eine Emotion zuzurufen, aus der wir dann einen Song improvisieren. Die Reaktionen sind großartig. Die Leute machen mit, hören aufmerksam zu – und man merkt richtig, wie sehr sie es genießen, Teil des Ganzen zu sein.

Ihr seid alle mit eigenen Projekten in ganz unterschiedlichen musikalischen Bereichen aktiv. Ist das vielleicht auch der Grund, warum ihr so anders klingt als viele andere A-cappella-Gruppen? Kann man bei euch eigentlich überhaupt noch von A-cappella sprechen?

Amina Bouroyen: Ich glaube, das, was wir machen, lässt sich gar nicht so leicht einordnen. Natürlich ist es gesungene Musik – in gewissem Sinne also schon A-cappella. Aber dadurch, dass unsere Musik so klingt, wie sie klingt, passt sie nicht wirklich in die klassischen A-cappella-Schubladen. Gleichzeitig ist es aber auch kein reiner Jazz. Es liegt irgendwo dazwischen – oder vielleicht ganz woanders. Und genau das finde ich so spannend und schön an unserer Musik: dass sie sich nicht sofort festlegen lässt. Sie bleibt offen, beweglich – und das spiegelt ja auch uns selbst wider, weil wir aus so unterschiedlichen musikalischen Hintergründen kommen. Dieses Freie, nicht Eindeutige ist für mich ein wichtiger Teil.

Es gibt ja nicht allzu viele rein weibliche A-capella Gruppen. War es für euch eigentlich von Anfang an klar, eine nur aus Sängerinnen bestehende Band zu sein?

Anna Anderluh: Nein, das ist eher einfach so passiert – obwohl wir später durchaus immer wieder überlegt haben, auch Männer in die Band aufzunehmen. Letztlich haben wir uns dann aber doch bewusst dafür entschieden, eine Frauenband zu bleiben. Irgendwann wurde das einfach zu unserem Ding.

Anna László: Am Anfang war das tatsächlich kein Kriterium. Aber mit der Zeit hat sich das immer deutlicher herauskristallisiert.

Verena Loipetsberger: Die einzige rein weibliche Gruppe, die mir gerade einfällt, ist Soulparlez – sie treten mit uns im Theater am Spittelberg auf. Das sind auch vier Frauen. Aber sonst? Rein weibliche Gruppen sind eher ungewöhnlich.

Wie vorher schon erwähnt wurde, bringt jede von euch Kompositionen mit. Wie kann man sich die Entstehung eines Stückes bei euch vorstellen?

Amina Bouroyen: Das ist bei uns sehr unterschiedlich. In den meisten Fällen bringt eine von uns eine Komposition oder ein Arrangement mit, das schon ziemlich ausgearbeitet oder fast fertig ist. Oft steht die musikalische Idee also schon recht klar im Raum. Aber es gibt auch immer wieder Stücke, bei denen sich vieles erst im gemeinsamen Probenprozess entwickelt. Dann wird ausprobiert, gemeinsam verändert, neu gedacht – manchmal entstehen sogar ganze Passagen erst durch dieses kollektive Erarbeiten. Beides hat seinen Reiz, und genau diese Mischung aus individueller Kreativität und gemeinsamer Gestaltung macht unsere Arbeitsweise so lebendig.

Anna László: Es ist immer wieder spannend, wenn jemand mit einem fertigen Stück kommt – und sich dieses dann plötzlich in eine ganz andere Richtung entwickelt, als ursprünglich gedacht. Durch das gemeinsame Singen entstehen neue Ideen, und manchmal hat man fast das Gefühl, die Musik selbst entscheidet, wohin sie will. Das klingt vielleicht ein bisschen esoterisch, aber es passiert oft: Man hat eine klare Vorstellung, und durch kleine Veränderungen entsteht am Ende etwas noch Schöneres, als man es sich je vorgestellt hätte.

Bild des Quartetts HALS
HALS © Maria Frodl

Normalerweise steht ihr in anderen Projekten mit einer Band oder einem Ensemble im Rücken auf der Bühne. Wie anders fühlt es sich an, als reine Gesangsformation aufzutreten?

Anna Anderluh: Es ist schon etwas ganz anderes, finde ich.

Anna László: Es erfordert deutlich mehr, als wenn man mit einer Band spielt. Wenn vier Sängerinnen gemeinsam auf der Bühne stehen, muss jede nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich gut eingebunden sein. Man braucht echte Soft Skills, damit das Ganze wirklich als Band funktioniert – nicht nur als vier Einzelpersonen, die zufällig zusammen singen. Das ist schon ein ganz besonderes Setting.

Verena Loipetsberger: Ein großer Unterschied ist auch, dass wir in der A-cappella-Formation als Sängerinnen viel mehr Rollen übernehmen. In einer Band ist man meist ausschließlich Sängerin – bei uns aber wechseln die Funktionen ständig: mal übernimmt man die Basslinie, dann wieder eine rhythmische Begleitung oder singt die Hauptstimme. Diese Vielschichtigkeit macht es anspruchsvoller, aber auch spannender als in einer klassischen Bandbesetzung.

Anna László: Dadurch, dass die Stimme so unmittelbar ist, muss auch auf menschlicher Ebene viel zusammenpassen. Da schwingen die Körper mit, da schwingen die Seelen mit. Das heißt nicht, dass so etwas nicht auch mit einem Saxophon oder anderen Instrumenten möglich ist – aber um nur mit Stimmen einen gemeinsamen Klangkörper zu formen, braucht es eine ganz besondere Verbindung.

Anna Anderluh: Es ist einfach wichtig, dass es wirklich zusammenpasst. Wir arbeiten ja alle mit dem gleichen Instrument – der Stimme – und müssen darauf achten, wie sich unsere Stimmen mischen und miteinander verschmelzen. Entscheidend ist dabei, wie gut man sich aufeinander einstellen kann. Wenn jede nur ihren eigenen Sound durchzieht und sich nicht anpasst, entsteht kein schöner Akkord.

Man singt auch ganz anders als in einer Band, in der man Solistin ist. Dort kann man seinen eigenen Sound frei wählen. Bei uns hingegen hängt alles von der jeweiligen Funktion ab, die man gerade übernimmt – und diese wechselt ständig, manchmal sogar innerhalb eines einzigen Stücks.

Bei einem Lied habt ihr aber dennoch Instrumente zugelassen. Wie ist es dazu gekommen?

Amina Bouroyen: Da muss ich ein wenig ausholen. Es geht um das Stück „Going Round in Circles“, das ich komponiert habe. Und ich sage immer scherzhaft, von diesem Lied gibt es mittlerweile schon hunderttausende Versionen, weil ich es ursprünglich mit einer anderen Band gespielt habe – in der auch Robin Gadermaier E-Bass spielt.

Im Rahmen meines Master-Abschlusskonzerts habe ich sowohl mit HALS als auch mit meinem Trio Slowklang gespielt. Und ich dachte mir, es wäre schön, am Ende des Konzerts eine Fusion aus beiden Bands zu machen. Dabei habe ich ‚Going Round in Circles‘ mit dem Trio als Schlussstück gespielt, und die Mädels sind dazugekommen. Das hat total schön funktioniert.

Im Laufe der Arbeit am Album haben wir dann überlegt, dass das Stück gut einen Special Guest vertragen könnte. Und weil das Konzert so eine tolle Erfahrung war, haben wir beschlossen, Robin dazuzuholen. Als so einen schönen Special Moment am Ende des Albums.

Wie weit treibt ihr die Improvisation eigentlich bei einem Konzert? Und wie sehr kann sich ein Stück live von der Version auf der Platte unterscheiden?

Anna Anderluh: Schon sehr. Aber gerade das ist uns wichtig – dass es je nach Ort, Stimmung oder Situation anders sein darf.

Anna László: Genau das macht es so spannend. Bei uns gleicht wirklich kein Konzert dem anderen – und ich finde das unfassbar schön.

Ich find, dass euch auf dem Album eine wirklich schöne Balance zwischen auf der einen seite etwas melancholischeren Note und andererseits doch auch sehr erhebenden Schwingung gelungen ist. Worum geht es in euren Stücken inhaltlich?  

Anna László: Ich denke, bei diesem Album geht es vor allem darum, uns einmal vorzustellen. Es ist ein bisschen wie eine lange, sehr schöne Visitenkarte unserer Band. Das Album spiegelt – wie ich finde – unsere aktuelle Arbeitsweise und die Art, wie wir singen, sehr gut wider. Für mich ist es, gerade weil Anna und ich zu den Gründungsmitgliedern gehören, auch ein ganz besonderer Meilenstein in unserer Entwicklung.

Anna Anderluh: Es gibt kein übergeordnetes Thema oder eine konkrete textliche Message für das Album. Aber ich finde, allein die Art, wie wir A-cappella-Musik verstehen – mit vielen improvisierten Momenten und der Entscheidung, alles gemeinsam in einem Raum einzusingen – ist auf ihre Weise schon ein Statement. Natürlich bringt das auch Herausforderungen mit sich, gerade technisch. Aber Jazz oder improvisierte Musik zu machen, ist in sich schon ein Statement – besonders in einer Zeit, in der alles oft hochgradig perfektioniert, quantisiert und glatt produziert ist. Wir nehmen bewusst in Kauf, dass nicht alles bis ins Letzte kontrollierbar ist. In diesem Sinn stellt sich das Album auch ein Stück weit gegen den Zeitgeist.

Herzlichen Dank für das Interview.

Michael Ternai

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