Virtuelle Musikwelten – Teil 1: Ein historischer Rückblick

Mit dem Vormarsch generativer KI im Musikbusiness ist es ein Leichtes geworden, virtuelle MusikerInnen zu schaffen. Nicht nur ihr äußeres Erscheinungsbild kann durch künstliche Intelligenz designed werden, sondern auch die Songs, die sie interpretieren bis hin zum Video können mithilfe entsprechender KI-Tools erstellt werden. Allerdings gibt es virtuelle KünstlerInnen schon viel länger und ihre Ursprünge reichen noch in die Zeit vor der digitalen Revolution in der Musikindustrie zurück. Diese Blog-Serie wird daher die historische Entwicklung virtueller MusikerInnen von den 1960er Jahren bis heute nachzeichnen und Rolle, die KI dabei spielt, analysieren.

Teil 1 der Serie befasst sich mit virtuellen KünstlerInnen, die noch nicht mit KI-Tools geschaffen worden sind wie die Comics-Bands The Archies oder Alvin and the Chipmonks, aber auch computergenerierte Musik-Avatare wie die Gorillaz und Kyoko Date.

Virtuelle Comics-Musikstars: The Archies und Alvin and the Chipmunks

Am 20. September 1969 stürmte der Song „Sugar, Sugar“ an die Spitze der US-Billboard-Top-100 und löste damit „Honkey Tonk Woman“ von den Rolling Stones ab. Vier Woche lang sollte dieser Gute-Laune-Song die US-Single-Charts anführen, um schließlich von „I Can’t Get Next to You“ von den Temptations abgelöst zu werden. „Sugar, Sugar“ stammte aber nicht von einer real existierenden Pop-Gruppe, sondern war von einer Studioband aufgenommen worden, die den Song zur Zeichentrickserie „The Archies Show“ beisteuerten. „The Archies Show“ basierte auf den Archies-Comics, die 1941 von Bob Montana geschaffen und im Verlag von John L. Goldwater veröffentlicht wurden.1 Die Archies sind eine Teenage-Popband, bestehend aus Archie Andrews (Lead-Gitarre), Reggie Mantle (Gitarre) und Jughead Jones (Schlagzeug), die durch die weiblichen Charaktere Betty Cooper (Tamburin) und Veronica Lodge (Keyboard) ergänzt wurden und an der Riverdale High School ihre Abenteuer erleben.2

Hinter dem Projekt „The Archies Show“ stand der Musikproduzent und Musikverleger Don Kirshner, der bereits Jahre zuvor mit der fiktiven Rock-Gruppe The Monkees Chart-Erfolge gefeiert hatte. Die Archies sollten das Erfolgskonzept der Monkees wieder aufgreifen. Kirshner engagierte den erfolgreichen Songwriter Jeff Barry, der mit seiner Ehefrau Ellie Greenwich in den 1960er Jahren zahlreichen Brill Building-Hits verfasst hatte,3 als Produzenten und formierte mit den Session-Musikern Ron Dante (Lead-Sänger), Ron Frangipane (Keyboards), Dave Appell (Gitarre), Chuck Rainey (Bass) und Gary Chester (Schlagzeug) eine Pop-Band, die hinter den animierten Charakteren der Archies steckten und die er für seine Label Calendar Records unter Vertrag nahm.4 In der Ausgabe des Billboard Magazine vom 18. Mai 1968 wurde über das Projekt von Don Kirshner berichtet. Angekündigt wurde die 17teilige TV-Serie „The Archies Show“, die von der Produktionsfirma Filmation für den TV-Sender CBS produziert wurde.5 Die erste Staffel wurde zwischen September 1968 und Januar 1969 immer am Samstag-Morgen ausgestrahlt und erreichte ein Millionenpublikum.6

The Archies waren aber nicht die ersten virtuellen Musiker, die in einer TV-Serie zu sehen waren. 1961 traten Alvin and the Chipmunks erstmals in „The Alvin Show“, einer Zeichentrickserie, deren erste Staffel von Oktober 1961 bis September 1962 bei CBS ausgestrahlt wurde, auf.7 Im Zentrum standen drei Streifenhörnchen (chipmunks) – Alvin, Simon und Theodore Seville –, die vor allem mit ihren Gesangseinlagen in Erscheinung traten. Kreiert wurden die singenden Streifenhörnchen vom Singer/Songwriter und Musikproduzenten Ross S. Bagdasarian Sr., der bereits 1958 auf dem Label Liberty Records den Song „Witch Doctor“ unter seinem Bühnennamen David Seville veröffentlicht hatte. Dabei singt Bagdasarian aka Seville ein Duett mit dem Streifenhörnchen Alvin, dessen Stimme durch das Abspielen einer Bandaufnahme mit höherer Geschwindigkeit erzeugt wurde. Damit war das singende Streifenhörnchen Alvin Seville geboren, das später mit seinen beiden Brüdern Simon und Theodore weitere Songs wie beispielsweise den Chart-Topper „Chipmunk Song“ aufnahmen, die 1959 auf dem Album „Let’s All Sing with The Chipmunks“ bei Liberty veröffentlicht wurden. Das war Beginn einer Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält und mit zahlreichen Grammy und Emmy Awards gekrönt wurde.8

Die Chipmunks und die Archies waren zur Zeit ihrer Entstehung natürlich noch nicht computergeneriert. Es waren Zeichentrickfiguren, denen menschliche Stimmen verliehen wurden und deren Songs von StudiomusikerInnen eingespielt wurden. Sie waren aber schon insofern virtuell, weil sie ihre Existenz der Mediatisierung zu verdanken hatten und somit zu den Vorläufern jener Avatare wurden, die später dann im Computer und schließlich per KI erzeugt wurden.

Die Gorillaz – die ersten computergenerierten Musik-Avatare

Virtuelle, vom Computer generierte KünstlerInnen erscheinen erst in den 1990er Jahren, als dafür die technischen Möglichkeiten zur Verfügung standen. Eine neue technische aber auch wirtschaftliche Qualität erreichten virtuelle KünstlerInnen mit den Gorillaz, deren erstes Album, das nach der Band benannt wurde, gleich nach dem Release im März 2001 in den USA Platin-Status erreichte und sich schließlich weltweit sieben Millionen Mal verkaufte.9 Die Gorillaz sind das Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Lead-Sänger der Brit-Pop-Band Blur, Damon Albarn, und dem Comics-Zeichner, Jamie Hewlett, der in den späten 1980er Jahren die Hauptfigur Tank Girl der gleichnamigen Comics-Serie geschaffen hatte. In einem Interview für das Wired Magazine im Juli 2005 erzählten Albarn und Hewlett, wie sie die Idee für diese virtuelle Band bekommen haben. 1998 lebten sie in einer gemeinsamen Wohnung in London und schauten sich eines Tages in Dauerschleife MTV-Videos an. Hewlett erinnerte sich im Interview: „Because if you watch MTV for too long, it’s a bit like hell – there’s nothing of substance there. So we got this idea for a cartoon band, something that would be a comment on that.“10 Für Albarn war ein weiteres Motiv für die Erschaffung von den Gorillaz die Möglichkeit, Genregrenzen zu sprengen und Musik zu machen, die jenseits einer britischen Alternative Rockband lag.11

Albarn und Hewlett schufen bereits 1998 die vier Charaktere der Bandmitglieder – den Lead-Sänger Stuart Harold ‚2D‘ Pot, die Gitarristin Noodle, den Bassisten Murdoc Faust Niccals und den Drummer Russel Hobbs. Die vier Figuren sollten unterschiedliche Stereotypen bedienen, für die sogar ausführliche Biografien erschaffen wurden, die in der 2006 erschienen Autobiografie „Rise of the Ogre“ ausführlich beschrieben wurden.12

Der musikalische Mastermind der Gorillaz war von Anfang an Damon Albarn, der zuerst allein und dann mit dem HipHop-Produzenten Dan ‚the Automator‘ Nakamura am Debütalbum der virtuellen Band arbeitete. Nakamura brachte die beiden Rapper Kid Koala und Teren Delvon Jones aka Del the Funky Homosapien mit in das Projekt und so unterschiedliche MusikerInnen wie Ibrahim Ferrer vom Buena Vista Social Club, Miho Hatori von der US Alternative Rockband Cibo Matto sowie Tina Weymouth von den Talking Heads leisteten Beiträge für das Debütalbum, das am 26. März 2001 veröffentlicht wurde.13 Der große kommerzielle Erfolg des Albums und der Single-Auskopplung „Clint Eastwood14, ermutigten die Gorillaz-Macher, das virtuelle Bandprojekt fortzusetzen.

Schon das Debütalbum wurde von einer weltweiten Konzerttournee begleitet, die am 22. März 2001 in London startete und über andere europäischen Städte nach Japan, Kanada, die USA und Mexiko führte, bevor die Tournee am 22. Juli 2002 in Lissabon ihren Abschluss fand. Da aber Anfang der 2000er Jahre noch nicht die technischen Möglichkeiten für ein rein virtuell animiertes Konzert existierten, mussten die MusikerInnen hinter einer überdimensionalen Leinwand performen, auf die die virtuellen Bandmitglieder mit Special Effects projiziert wurden. In einem Interview mit der Entertainment Weekly fand Albarn zwar Spaß daran, anonym hinter der Bühne zu spielen, aber die menschliche Komponente, die ein Konzert eben ausmacht, ging dadurch verloren: „I enjoyed playing the first tour behind the screen. That was very obtuse of us, but highly enjoyable. But it became difficult to continue that. I think the human element of the band just demanded that we have a bit more life.“15

Noch vor dem Abschluss der erste Welttournee wurde ein erster Schritt zu mehr Interaktivität zwischen den virtuellen und menschlichen Musikern gesetzt. Bei der Verleihung der BRIT Awards 2002, die am 22. Februar im Londoner Earls Court über die Bühne ging und für die die Gorillaz sechs Mal nominiert waren, aber letztendlich leer ausgingen, war die virtuelle Band der zweite Live-Act. Es existiert ein YouTube-Video16 mit der Performance des Hit-Songs „Clint Eastwood“, in der die vier Bandmitglieder als 3D-Animationen auf vier riesigen Videowänden zu erleben sind, was Anfang der 2000er Jahre eine Sensation war. In den frenetischen Applaus des Publikums hinein eröffnete Russel Hobbs mit seinen Drum-Beats den Song, in den sogleich Murdoc Faust Niccals und Noodle mit Bass und Gitarre einstimmten, damit 2D, dem Damon Albarn seine Stimme verlieh, mit dem markanten Ausruf „Hoo-hoo-hoo-hoo-hoo …“ loslegte und mit den fatalistischen Textzeilen „I ain’t happy, I’m feeling glad. I got sunshine in a bag“ fortsetzen konnte. Nach etwa 1 Minute und 20 Sekunden tauchte Rapper Phi Life Cypher mit einem weiteren Rapper auf der Bühne auf, um mit den 3D-Avataren gemeinsam zu performen. Die Abstimmung zwischen den menschlichen Akteuren und den virtuellen MusikerInnen war perfekt und überzeugte sichtlich auch das Publikum, das nach dem Ende der Performance in tobenden Applaus ausbrach. Der Aufwand, der dafür getrieben wurde, konnte sich auch sehen lassen. Die BBC berichtete, dass der rund 4minütige 3D-Auftritt der Band an die GBP 300.000 gekostet haben soll.17

Da sich Damon Albarn 2003 wieder Blur und deren Welttournee widmete, die das siebente Studioalbum „Think Tank“ promoten sollte,18 kam das Gorillaz-Projekt vorübergehend zum Stillstand. Aber bereits 2004 erneuerten Albarn und Hewlett ihre Zusammenarbeit und beauftragten DJ Danger Mouse, nachdem dieser mit seiner Mash-up-Produktion „The Grey Album“ für medialen Wirbel und Urheberrechtsstreitigkeiten gesorgt hatte, mit der Produktion des zweiten Gorillaz-Albums „Demon Days“.19 Erneut wurde die Zusammenarbeit mit zahlreichen bekannten KünstlerInnen wie beispielsweise Neneh Cherry, Martina Topley-Bird, Roots Manuva, Ike Turner und mit dem Schauspieler Dennis Hopper, der eine Sprechrolle übernahm, gesucht. Am bekanntesten wurden aber Kollaboration mit dem US-Rap-Duo De La Soul, die den Chart-Hit „Feel Good Inc.“ zum Album beisteuerten, das im Vereinigten Königreich an die Spitze der Album-Charts stürmte und sich 78 Wochen lang dort halten konnte. In den US-Billboard-Charts kletterte „Demon Days“ auf Platz 6 und hielt sich 73 Wochen in den Billboard 200.20 De La Soul traten auch bei den „Demon Days Live-Performances“, die vom 1. bis 5. November 2005 im Manchester Opera House veranstaltet wurden und im April desselben Jahres im Apollo Theater in New York City wiederholt wurden, auf. Dieses Mal performte die Live-Band direkt auf der Bühne, aber Lichteffekte sorgten dafür, dass nur ihre Silhouetten sichtbar waren, sodass die Videoprojektionen im Hintergrund die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zogen. Die anderen KünstlerInnen des Albums, wie z.B. De La Soul, agierten direkt auf der Bühne, wie auf der später releasten DVD „Demon Days: Live at the Manchester Opera House“ zu sehen ist.21

Allerdings war das Fehlen von 3D-Animationen der Bandmitglieder unbefriedigend und so wurde nach einer Technologie gesucht, die eine Live-Performance der Avatare ermöglichen sollte. Dabei griff man auf die EyeLine-Technologie der britischen Firma Musion 3D zurück, mit der computergenerierte Hologramme hergestellt werden konnten. Auf diese Weise wurden die Gorillaz am 3. November 2005 bei den MTV Europe Music Awards 2005 in Lissabon auf die Bühne projiziert, um „Feel Good Inc.“ mit Unterstützung des Rap-Duos De La Soul zum Besten zu geben.22 Das Experiment wurde ein paar Monate später bei der Verleihung der 48. Grammy Awards am 8. Februar 2006 im Staples Center in Los Angeles wiederholt, allerdings mit Verstärkung durch die US Pop-Diva Madonna, die zuerst ebenfalls als Hologramm gemeinsam mit den Gorillaz und danach in Fleisch und Blut direkt auf der Bühne ihren Hit „Hung Up“ performte.23

In einem Interview mit dem US-Radiosender Hot 97 zeigte sich Damon Albarn aber enttäuscht von der bei den MTV Europe und Grammy Music Awards eingesetzten Hologramm-Technologie. Im Gespräch mit dem Moderator der Sendung kritisierte er, dass die Lautstärke der Performance reduziert werden musste, um die Projektion nicht zu stören: „They started and it was so quiet cause they’ve got this piece of film that you’ve got to pull over the stage so any bass frequencies would just mess up the illusion completely.“24 Die Hologramm-Technik war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgereift und die technische Umsetzung mit großen Schwierigkeiten und Kosten verbunden. Deshalb wurde der Plan für eine Live-Tournee der Gorillaz, die 2007/08 stattfinden sollte, verworfen.

Trotz dieser Rückschläge versuchte Damon Albarn das Gorillaz-Projekt am Leben zu erhalten. Im März 2010 wurde der dritte Studioalbum der Gorillaz „Plastic Beach“ veröffentlicht, die durch die Live-Tournee „Escape to the Plastic Beach“ promotet wurde.25 Nach einer längeren Pause folgte im April 2017 das Album „Humanz“, mit dem die Gorillaz in der Folge wieder auf Tournee geschickt wurden.26 In beiden Fällen wurde auf 3D-Animationen und Hologramm-Technik verzichtet und stattdessen das erprobte Konzept von „Demon Days“ mit der Live-Band im Vordergrund und Visuals sowie 2D-Animationen der Band auf einer Leinwand im Hintergrund fortgesetzt.

Auch das nächste Projekt „Song Machine“, das Ende Januar 2020 gestartet wurde, versuchte nicht die Charaktere der Gorillaz als KI-generierte Avatare zum Leben zu erwecken. Statt eines klassischen Albums wurden bei „Song Machine“ zwischen dem 30. Januar und 24. Dezember 2020 neun Episoden einer Musikvideo-Webserie hochgeladen, die von Londoner Kong Studios produziert wurden. Bei jeder Episode performen Gast-MusikerInnen mit den Gorillaz die neuen Songs, die schließlich ein virtuelles Album ergaben. Eine virtuelle Realität wurde nur insofern erzeugt, dass bei drei weltweit ausgestrahlten virtuellen Live-Gigs im Dezember 2020 Augmented Realtity eingesetzt wurde.27

„Song Machine“ war sicherlich eine neue, innovative Form, Musik zu releasen, was durch die 2020 wütende COVID-19-Pandemie einen zusätzlichen Schub bekommen hatte, aber es war kein innovativer Schritt Richtung KI-generierte virtuelle KünstlerInnen. Es blieb daher vor allem Unternehmen in Südkorea und Japan vorbehalten, in dieser Hinsicht federführend zu werden.

Virtuelle Musik-Idole aus Fernost: Kyoko Date und der Cyber Singer Adam

Bereits in den 1990er-Jahren experimentierten japanische und südkoreanische Firmen mit computeranimierten Musiker-Avataren. 1996 erregte das Erscheinen von Kyoko Date international für Aufmerksamkeit. Dabei handelte es sich um das erste Virtual Idol, das singen und tanzen konnte aber, anders als die menschlichen Idole, rund um die Uhr verfügbar war, nicht altern und keine Skandale verursachen konnte. Kyoko Date war von der japanischen Talentagentur Horipro entwickelt worden, die schon zuvor die florierende japanische Pop-Idol-Industrie mit Talenten versorgte. In einem Interview prognostizierte Horipro CEO Yoshitaka Hori, Sohn des Firmengründers Takeo Hori, der das Unternehmen 1960 in Tokio in Leben gerufen hatte, dass die Mitte der 1990er Jahre wie Pilze aus dem Boden schießenden Musik-TV-Sender neue Inhalte benötigen würden, die sie mit menschlichen Stars nicht füllen könnten. Es bräuchte daher virtuelle KünstlerInnen, die die Nachfragelücke füllen müssten.28

Kyoko Date wurde deshalb genau nach dem damaligen Idealbild eines Teenie-Stars konstruiert.29 Unter dem Projektname DK 96, wobei DK für Digital Kids stand, entwickelte das in Tokio ansässige Visual Science Laboratory den computeranimierten Avatar, dem aber die menschliche Stimme einer Sängerin, die Horipro unter Vertrag hatte, verliehen wurde. Für die Tanz-Performances von Kyoko Date zeichnete die in Los Angeles ansässige Firma Three Space Imagery (TSi) verantwortlich, weil sie eine der wenigen Unternehmen weltweit war, die die damals noch vollkommenen neue Motion-Capture-Technologie in der Computeranimation einsetzte. Abgerundet wurde der virtuelle Auftritt von Kyoko Date durch eine persönliche Webpage, auf der auch ihre „Biografie“ nachgelesen werden konnte. Demnach war sie 17 Jahre alt, stammte aus Tokio und jobbte in einer Hamburger-Bude, bevor sie für das Musikbusiness entdeckt wurde. Ursprünglich wollte sie Privatdetektivin werden und ihr sehnlichster Wunsch war, US-Präsident Bill Clinton persönlich kennenzulernen – das war noch bevor „Monica-Gate“ die internationalen Schlagzeilen dominierte.30

Insgesamt wurde ein immenser Aufwand getrieben, um Kyoko Date zum Leben zu erwecken. Neben zehn MitarbeiterInnen der Talentagentur waren fünfzig ComputertechnikerInnen achtzehn Monate damit beschäftigt, den Avatar zu designen – allein die perfekte Lippen-Synchronisation soll ein halbes Jahr in Anspruch genommen haben.31 Die technischen Schwierigkeiten, die überwunden werden mussten, verzögerten auch den Zeitplan. Bereits im Mai 1996 startete Horipro eine internationale PR-Kampagne, in der Kyoko Date angekündigt wurde. Weil die Computeranimation immer noch nicht gut genug funktionierte, hatte Kyoko Date ihren ersten Auftritt im Oktober 1996 in einer Radiosendung auf Tokio FM. Erst am 2. November 1996 konnte ein Musik- und Tanzvideo von Kyoko Date im japanischen Sender TBS Television gezeigt werden, in dem die virtuelle Künstlerin auch ein Interview gab. Damit sollte der Verkauf der ersten Single von Kyoko Date mit dem Titel „Love Communication“, die am 21. November erschien, angekurbelt werden. Die Verkaufszahlen von lediglich 30.000 weltweit abgesetzten CD-Singles waren aber enttäuschend und rechtfertigten die Produktionskosten von mehreren Millionen US-Dollars ganz und gar nicht.32 Eine zweite Single mit dem Titel „Touch“, die im Juli 1997 veröffentlicht wurde, verkaufte sich noch schlechter33 und damit musste das Projekt eines virtuellen Pop-Idols als gescheitert betrachtet werden.

Zwar versuchte Horipro in den folgenden Jahren Kyoko Date immer wieder zum Leben zu erwecken. 1999 wurde sie unter dem neuen Künstlernamen DiKi in Südkorea mit der Single „Between“ neu positioniert, was aber im Sand verlief. 2001 erhielt Kyoko Date ein neues Design und wurde unter dem Namen DK 2001 die digitale Botschafterin des japanischen Ministeriums für internationalen Handel und Industrie. Sogar eine Tochter namens Kaori Date wurde ihr zu Seite gestellt, was aber auch nicht nachhaltig funktionierte. Auch ihr Auftritt als Host im Videospiel „Second Life“ 2007 war nicht von Erfolg gekrönt und sie verschwand genauso in der Bedeutungslosigkeit wie das kurzzeitig gehypte Game.34

Ein ähnliches Schicksal erlitt der Cyber-Singer Adam, der 1997 von der südkoreanischen Softwarefirma Adamsoft entwickelt wurde. Am 23. Januar 1998 debütierte Adam mit dem Song „No Love in the World“, worüber auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Südkorea berichtete.35 Ähnlich wie Kyoto Date erhielt Adam eine Biografie, wonach er am 12. Dezember 1977 in Eden/Südkorea geboren wurde. Er war 178 cm groß, wog 68 kg und trug Kontaktlinsen und soll dem koreanischen Filmstar Song Seung-heon nachempfunden sein.36 Da es Ende der 1990er Jahre noch keine KI-generierten Voice-Klone gab, verlieh der südkoreanische Sänger Park Sung-chul Adam die Stimme, mit der er auch das erste Album „Genesis“ aufnahm, das von YPC Records noch 1998 veröffentlicht wurde.37 Mit 200.000 verkauften Einheiten war das Debütalbum ein beachtlicher Erfolg, was Adamsoft dazu veranlasste, im Juni 1999 ein zweites Album unter dem Titel „Adam 2 – Exodus“ anzukündigen.38 Wie beim ersten Album war Park Seong-cheol der eigentliche Interpret, allerdings verkaufte sich das zweite Album wesentlich schlechter als das erste und so wurde das Avatar-Projekt wegen zu hoher Kosten wieder eingestellt. In der Öffentlichkeit wurde das Gerücht gestreut, dass Adam seinen Militärdienst ableisten müsse oder wahlweise an einer Virusinfektion gestorben sei.39

Auch wenn dem Cyber-Singer Adam kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, so kann er trotzdem als Mitbegründer des K-Pops betrachtet werden, der in der 1990er Jahren seine Wurzeln hatte. Kyoko Date und Adam blieben zwar One-Hit-Wonder, ebnete aber den Weg für die Musik-Avatare der nächsten Generation, die sich dann schon der KI-Technologie bedienten.

Peter Tschmuck

Dieser Artikel erschien erstmal am 6. Oktober 2025 auf der Seite https://musikwirtschaftsforschung.wordpress.com/2025/10/06/virtuelle-musikwelten-teil-1-ein-historischer-ruckblick/


Peter Tschmuck ist Professor am Institut für Popularmusik (ipop) der mdw.


Endnoten

  1. Fred Bronson, 2003, The Billboard Book of Number 1 Hits, updated and expanded 5th edition, New York: Billboard Books, S. 258. ↩︎
  2. Wikipedia, „The Archies“, Version vom 11. Juli 2025, Zugriff am 13.08.2025. ↩︎
  3. Ken Emerson, 2005, Always Magic in the Air. The Bomp and Brilliance of the Brill Building Era, New York: Viking, S. 257-258. ↩︎
  4. Ibid. ↩︎
  5. Billboard, „Kirshner Channeling Archies To A TV-Disk Launching Pad“, 18. Mai 1968, online bei Google Books verfügbar, Zugriff am 13.08.2025. ↩︎
  6. Wikipedia, „The Archie Show“, Version vom 28. Juni 2025, Zugriff am 13.08.2025. ↩︎
  7. Wikipedia, „The Alvin Show“, Version vom 27. Juli 2025, Zugriff am 13.08.2025. ↩︎
  8. Fred Bronson, 2003, The Billboard Book of Number 1 Hits, updated and expanded 5th edition, New York: Billboard Books, S. 47. ↩︎
  9. Allmusic, „Gorillaz Biography“ von Heather Phares, o.D., Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  10. Wired, „Keeping It (Un)real“, Issue 13.07 – July 2005, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  11. Q Magazine, „Gorillaz Interview“, 10. April 2017, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  12. Cass Browne & Damon Albarn, 2006, Rise of the Ogre, London: Michael Joseph Ltd. ↩︎
  13. Allmusic, „Gorillaz Biography“ von Heather Phares, o.D., Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  14. Wikipedia, „Clint Eastwood (song)“, Version vom 12. August 2025, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  15. Entertainment Weekly, „Gorillaz creators Damon Albarn and Jamie Hewlett on the cartoon band’s past, present, and future: The Music Mix Q&A“, 4. Juni 2010, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  16. YouTube, „Gorillaz – Clint Eastwood (Live BRITs Performance)“, 16. Januar 2010, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  17. BBC News, „Brits get under way“, 20. Februar 2002, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  18. Wikipedia, „Think Tank (Blur Album)“, Version vom 3. Mai 2025, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  19. Wikipedia, „Demon Days“, Version vom 7. August 2025, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  20. Ibid. ↩︎
  21. Die gesamten DVD kann in HD-Qualität auch auf YouTube gestreamt werden: YouTube, „Gorillaz Demon Days Live at Manchester Opera House (Full Show)“, 6. Januar 2021, Zugriff am 14.08.2025. ↩︎
  22. YouTube, „Gorillaz – Feel Good Inc. (Live At The MTV EMA’s)“, 16. Januar 2010, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  23. YouTube, „Gorillaz and Madonna – 2006 Grammy Awards“, 15. Oktober 2010, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  24. YouTube, „Gorillaz Share The Secret Behind Their Animations, Friction & New Album“, 28. April 2017, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  25. Wikipedia, „Escape to Plastic Beach Tour“, Version vom 25. April 2025, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  26. Während einer Tournee-Pause im Februar 2018, produzierte Damon Albarn das mittlerweile sechste Studioalbum der Gorillaz „The Now, Now“, das im Juni desselben Jahres released wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde die „Humanz“-Tour in „The Now Now“-Tour umbenannt, um das neue Album zu pomoten. Siehe dazu Wikipedia, „Humanz Tour“, Version vom 29. Juni 2025, Zugriff am 18.08.2025 und Wikipedia „The Now Now Tour“, Version vom 19. Februar 2025, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  27. Wikipedia „Song Machine“, Version vom 6. Juni 2025, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  28. YouTube, „First virtual Japanese Pop Idol – Kyoko Date (1997)“, 28. Mai 2015, Zugriff am 19.08.2025. ↩︎
  29. Eine Kurzdokumentation zur Entwicklung von Kyoko Date findet sich auf YouTube, „Kyoko Date, the First Virtual Idol“, 7. März 2021, Zugriff am 19.08.2025. ↩︎
  30. Ibid. ↩︎
  31. Ibid. ↩︎
  32. Ibid. ↩︎
  33. Ibid. ↩︎
  34. Ibid. ↩︎
  35. KBS News, „The birth of the first cyber singer“, 23. Januar 1998, übersetzt aus dem Koreanischen mit DeepL, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  36. Namuwiki, „Cyber Singer Adam“, Version vom 11. August 2025, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  37. Discogs, „Adam – Genesis“, o.D., Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  38. Discogs, „Adam – Exodus“, o.D., Zugriff am 18.08.2025. ↩︎
  39. Namuwiki, „Cyber Singer Adam“, Version vom 11. August 2025, Zugriff am 18.08.2025. ↩︎