Utopien zur „Zukunft der Musik“: Robert Rotifer

Anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums hat mica – music austria langjährige Kenner der österreichischen Musikszene gebeten, sich in Form polemischer Utopien mit dem Thema „Zukunft der Musik“ auseinanderzusetzen. Vorgetragen wurden diese im Rahmen des Geburtstagsfests am 26. Juni. Nun gibt es sie auch zu lesen. Wie eben jene von Robert Rotifer. 

Eine nächtliche Taxifahrt in Vöcklamarkt in Oberösterreich, irgendwann gegen Ende des letzten Jahrzehnts, nicht Völkermarkt oder Vöcklabruck, nein, kleiner, Vöcklamarkt. „Und“, fragt der Taxifahrer meinen Begleiter und mich, „Ihr habts da drin jetzt gespielt? Was kriegt ma denn da dafür?“ „400 Euro“, die ehrliche Antwort, denn für die damalige Zeit war das an der Größe des Orts und des Lokals gemessen durchaus anständig, für die heutige sowieso, da würde man in so einem Ort auf Eintritt spielen bzw, gibt’s den Veranstalter gar nicht mehr.
„Meine Freunde und ich, wir spielen auf Hochzeiten“, sagt der Taxifahrer, „und für 400 Euro mach ich nicht einmal meinen Koffer auf.“ Ich beschließe ihm nicht zu sagen, dass ich für diesen und zwei weitere Auftritte eigens aus England angereist bin, in der Hoffnung, nebenher vielleicht ein paar Platten loszuwerden. Man muss ein bisschen Selbstachtung wahren. Und für manche bedeutet das eben, dass sie lieber unter solchen Bedingungen die eigenen Songs statt „Achy Breaky Heart“ von Billy Ray Cyrus spielen. Obwohl mir die Idee von der Hochzeitsband seither schon immer öfter wieder einfällt.

„Und, kannst du von der Musik leben?“ ist eine Frage, die mich schon öfter in Verlegenheit gebracht hat. Gestellt wird sie fast immer von Menschen über Fünfzig. Nicht nur, weil die Leute ab diesem gewissen Alter zunehmend taktloser werden, sondern weil sie aus einer Zeit kommen, als man damit rechnen konnte, dass jemand, der so wie ich sieben bis acht Alben herausgebracht hat, ganz offensichtlich eine Firma hinter sich hatte, die diesen Aufwand auch wirtschaftlich fand. Das war ein nachvollziehbares Auswahlkriterium.
Insbesondere die Popmusik emanzipierte sich mit dieser Logik von der höheren Anerkennung seitens des kulturellen Establishment und der darin impliziten Pflicht zur Repräsentation. Sie bezahlte dafür mit dem Einbüßen des Privilegs der künstlerischen Selbstlegitimierung, aber die war ohnehin immer nur eine scheinbare gewesen. Der Avantgardist durfte ja auch nur Krach machen oder absolute Stille erzeugen, wenn er vorher an der Akademie glaubhaft das Beherrschen aller Etüden unter Beweis gestellt hatte.

Der elitäre Glaube an klassische Ausbildung als Berechtigung für künstlerischen Ausdruck wurde im Pop ersetzt durch die Idee, dass alles, was sich verkauft, einen Wert haben musste – mit dem offensichtlichen Haken, dass man auf das vorherige Urteil derer, die einzuschätzen hatten, was sich verkaufen würde, vertrauen musste. Es gab keine Möglichkeit zum Gegenbeweis, und nachdem wir hier von Österreich reden, erreichte der Kreis derer, die im Pop von ihrer Musik leben konnten, sehr schnell Kongruenz mit dem Kreis derer, die davon lebten, ihnen das zu ermöglichen. Dementsprechend war das Qualitätsprädikat, dass ich als Teenager in den Achtzigern am öftesten zu hören kriegte, das Wort „professionell“.

Nur Bands, deren Musik eine gewisse verlässliche Vorhersehbarkeit erreichte, sollten auch davon Leben dürfen. Jede Form der Überschreitung, alles, was Pop spannend zu machen drohte, war unprofessionell. Man sollte meinen, Punk und die Independent-Kultur hätten das alles samt und sonders weggeblasen, aber nicht in Österreich, da wurde jeder Anflug von Charakter schnell wegprofessionalisiert. Nicht von der Musik leben konnten früher eben einfach die, die gar nicht so weit kamen, was zu verkaufen zu haben. Die waren dann allerdings auch eindeutig Hobby-Musiker und hatten gar keinen Grund sich zu erwarten, dass sie davon leben konnten, wöchentlich in den Probekeller zu gehen. Unser Begriff des „Lebens von der Musik“ geht immer noch auf diese Zeit zurück. Daher der vor allem unter Musikern herrschende Eindruck: Früher konnten Musiker von der Musik leben, heute nicht mehr.

An dieser Stelle sollte ich nun wohl über die Unmöglichkeit des Geldverdienens im digitalen Zeitalter jammern. Tatsache ist aber auch, dass mit dem technologischen Wandel nicht nur die Musikindustrie geschrumpft, sondern gleichzeitig dank der erheblich billiger gewordenen Produktionsmittel die Anzahl digital und in Tonträgerform erhältlicher Produktionen in schlicht unüberschaubare Größenordnungen explodiert ist.
Interessanterweise sagt uns zum Beispiel Bandcamp, die bei 15% Provision und völlig freier Preisgestaltung für Künstler bei weitem beste digitale Do It Yourself-Verkaufsplattform für Tonträger und digitale Files, dass es in seinem Bestehen insgesamt 73 Millionen Dollar, und allein 2,8 Millionen Dollar in den letzten 30 Tagen erwirtschaftet habe, aber nicht, auf wie viele Künstler sich diese Zahl aufteilt.

Wir erfahren allerdings sehr wohl, dass auf Bandcamp 1,4 Millionen Alben online stehen.Durchschnittlich ergibt das einen Umsatz von zwei Dollar pro auf Bandcamp veröffentlichtem Album im Monat. Keine Lebensgrundlage, selbst wenn einer 100 Alben auf Bandcamp stehen hat. Dass auch Spotify mit den Krümeln, die es abgibt, selbst für die größten Bands keine Lebensgrundlage darstellt, hat sich vielleicht schon herumgesprochen.

Wir kennen das Anfang Mai durch die News-Sites gegeisterte Beispiel der Band Vulfpeck, die ein Album namens „Sleepify“ auf Spotify stellte, dessen Songs jeweils aus 30 Sekunden Stille bestanden. Durch ständiges automatisiertes Streamen des Albums während der Nacht spielten die Fans der Band einen Profit von 20.000 Dollar ein, mit dem Vulfpeck dann ihre nächste Tour finanzierten. Spotify hat das Album inzwischen gelöscht, weil es gegen seine Nutzungsbestimmungen verstößt. Das allerdings nur wegen der Stille, nicht wegen der Idee, seine Fans zum Dauerstreamen aufzurufen. Man ahnt, dass die Leute, die heute auf Spotify und anderen großen Streamingdiensten werben, sich angesichts des „Sleepify“-Experiments fragen werden, was all die Klicks, für die sie da bezahlen, eigentlich wert sind.

Aber begehen wir einmal mutwillig denselben Denkfehler wie viele Musikschaffende und stellen wir uns vor, die digitale Revolution wäre nur im Bereich der Produktion und nicht im Bereich des Konsum vonstatten gegangen. Wenn also Musik immer noch als Tonträger gekauft werden müsste. Berthold Seliger rechnet uns in seinem Buch „Das Geschäft mit der Musik“ vor, dass eine durchschnittliche Indie-Band nach allen Aus- und Abgaben unterm Strich zwischen 300 und 400 Euro an 1000 verkauften Tonträgern verdient.

Allein in den USA erschienen es Anfang des Jahrzehnts ca. 77.000 physische Alben pro Jahr. Man braucht gar nicht zu rechnen zu beginnen, um zu wissen, dass dieser Markt vor lauter Übersättigung nur mehr schwefelhältig rülpst und die Künstler hinter all diesen Alben nie und nimmer ernähren könnte.
Es gibt nicht nur zu viele Bands. Solange es Software gibt, werden die auch viel zu viel reproduzierbare Musik herstellen, die professionell klingt, die aber keiner braucht. Über den Daumen gepeilte 99,9 Prozent der 1,4 Millionen Alben auf Bandcamp allein, da blieben dann immer noch 1.400 essentielle aktuelle Alben über.
Aber wer soll bestimmen, welche das sind?

Wie alle Musiker ihnen bestätigen werden, ist Musik, die keiner braucht, immer nur solche, die die anderen machen. Während wir früher große Werke von Bill Fay und John Howard und Damon und Rodriguez und Linda Perhacs verpasst haben, ganz zu schweigen von den ungeschaffenen Werken all derer, die von den Ermöglichern zu Unrecht nicht als der Ermöglichung würdig erachtet würden, haben wir es heute mit den unbegrenzten Möglichkeiten der narzisstischen Selbstverwirklichung zu tun. Der verbilligten Ökonomie der Produktion steht daher, und das ist die von den Jubelpropheten des digitalen Zeitalters am Häufigsten übersehene Crux, eine unverhältnismäßig härter gewordene Ökonomie der Aufmerksamkeit gegenüber.

Es ist zwar immer ein Gamble, aber Aufmerksamkeit lässt sich bezahlen, und dafür sind die Leute da, die von der Musik leben, ohne welche zu machen, die PR-Firmen und Radio Plugger. Circa 10.000 Pfund muss man ihnen in Großbritannien in den Mund stopfen, um eine Single in Presse, Radio und Blogs unterzubringen. Mit der so erkauften Aufmerksamkeit kann man nicht nur seine Musik verkaufen, man gerät auch ins Blickfeld der Booking-Agenturen, die einem die fett bezahlten, oberen Festival-Slots besorgen können. Wieder eine dicht geknüpfte Seilschaft, die ebenfalls gut von der Musik anderer lebt. Nur soviel für jene, die einem dann erklären, sie hätten in der Zeitung gelesen, dass man heutzutage eben mit Live-Spielen sein Geld machen müsse: Die unteren zwei Drittel bis drei Viertel jedes großen Festival-Line-Ups spielen sowieso gratis, die Gagen in britischen und amerikanischen, mittlerweile aber auch deutschen Clubs, sind nicht vorhanden bis nicht erwähnenswert.

So oder so braucht man ein sehr hohes Anfangskapital, um irgendwie in die profitable Zone des Live-Geschäfts zu kommen. Kein Wunder, dass die britische Pop-Szene mittlerweile von der Sorte junger Menschen aus besserem Haus bevölkert wird, die einem früher immer mit einem nonchalanten Lächeln zu versichern pflegten, dass sie gedachten, fürs erste einmal ein Jahr lang „auf Reisen“ zu gehen. Die Popkarriere ist eine Aktivität fürs Gap Year geworden, eine Art glamouröseres Praktikum für den Lebenslauf. Aber warum, fragt der eh zufriedene Liebhaber der niedlichen Ukulelenmusik, spielt das überhaupt eine Rolle?
Weil Popkultur immer und eigentlich nur dort spannend war, wo sie Gegenöffentlichkeit gespielt hat. Popkultur war nie ein authentisches Ausdrucksmittel der jungen Working Class, sondern ein Ort, wo neue Identitäten erfunden werden konnten. Im Gegensatz zu anderen, elitären Formen des künstlerischen Ausdrucks, war der Zugang dazu aber ein vergleichsweise offener.

Ein Graham Nash aus einem Slum in Salford zum Beispiel verdiente in den frühen 1960ern als Live-Musiker noch ohne Plattenvertrag bereits mehr als beide seiner Eltern zusammen. Im 21. Jahrhundert gibt es dagegen außer der Erniedrigungsmaschine der Talente-Shows für seinesgleichen faktisch keine Möglichkeit, an den Punkt zu gelangen, wo sie von der Musik, die sie machen, leben könnten. Die inhaltlichen Veränderungen, die das in der Popkultur nach sich zieht, sind nicht mehr abzusehen, sie sind viel mehr schon im Hier und Jetzt zu beobachten, und zwar nicht nur in Gestalt hunderter Hipster-Bands mit Vintage-Gitarren und Vintage-Synths, die die Festivalbühnen der Welt mit ihrem Wehklagen über gar nichts beschallen, sondern auch dort, wo Musik tatsächlich noch Profit macht.

Gestern hab ich im Londoner Evening Standard einen Artikel über Scooter Braun gelesen, bezeichnenderweise nicht im Kultur, sondern im Wirtschaftsteil. Braun ist ein nach LA verzogener New Yorker Party-Veranstalter, hauptsächlich Manager von Leuten wie Justin Bieber, dem K-Pop-Star Psy und dem britischen Singer-Songwriter Ed Sheeran, nebenher aber auch Teilhaber bei Spotify ist und bei der Taxi-App Uber, und falls sie sich jetzt die ganze Zeit gedacht haben: Was redet denn der dauernd vom Musikmarkt, das Geld liegt doch längst in den Sync-Deals und in der Film- und Werbeindustrie? Genauso sieht das Scooter Braun auch.

Und er erzählt dem Evening Standard davon, wie er neulich mit Ed Sheeran zusammensaß und sie darüber redeten, wie wenig von seinem Geld Ed aus traditionellen Quellen wie Tonträger- und Downloadverkäufen bezieht. Im Gegensatz zu Werbung und Film und Fernsehrechten, wo die naive Befindlichkeitsromantik seiner Songs so gut reinpasst, während Justin Bieber offenbar vor allem mit seinen Parfüms abräumt. Aber Eds Mentor und Freund Scooter denkt schon weiter und hat ein Zusammenarbeitsmodell mit der Werbeagentur Bartle Bogley Hegarty ausgearbeitet.
Die Werbewirtschaft will nämlich nicht mehr nur geistiges Eigentum für ihre Produkte ankaufen oder ausleihen, sie will es selbst herstellen und besitzen. Dann ist vom Entdecken der Künstler über die Produktion, vom Werbespot bis zum Videoclip, von der Vermarktung und Medienarbeit bis hin zur Verwertung in Film und Fernsehen endlich alles in einer Hand. Seine größte Angst, sagt Scooter Braun, sei dass er eines Tages aufwachen und keinen „coolen Shit“ machten könne.

Es scheint logisch: Der werbekonforme coole Shit, der hier abgesondert wird, kann in Ursprung und Funktion kaum der neue Punk, auch nicht der neue Bowie sein. Wie man von der Musik lebt, wie man von ihr leben kann, ist also auch eine politische Frage. Und da hab ich noch nicht einmal über das in Österreich so wichtige Thema der öffentlichen Förderungen angesprochen. Aber es geht ja hier auch ums Leben von der Musik, nicht ums Leben vom Wissen, wie man Anträge ausstellt oder von der Repräsentation, wiewohl die zumindest nicht widersprüchlicher und an weniger inhaltliche Bedingungen geknüpft ist als die Kooperation mit der Werbewirtschaft. Aber auch das sind, wie das mica aus eigener 20-jähriger Erfahrung sehr gut weiß, politische Fragen.

Ich erinnere mich schließlich an eine Zeit vor fünf, sechs Jahren, bevor auch der musikalische Merchandise-Markt schon den Saturationspunkt erreicht hatte, als es hieß, man solle halt statt Platten T-Shirts verkaufen. Ich versuchte also herauszufinden, ob es irgendwelche T-Shirts gab, die unter menschlich vertretbaren Bedingungen hergestellt wurden. Es gab sie, aber als ich mir ihren Preis angeschaut hab, hat die Profitspanne mit einem Mal gleich gar nicht mehr so gut ausgesehen. Mir fiel dabei eine Reportage ein, die ich Anfang der 1990er über Textilarbeiterinnen im Waldviertel gemacht hatte, die sich unter dem Druck der damaligen Konkurrenz in Osteuropa genötigt sahen, für 9000 Schilling im Moment, weniger als die Arbeitslose, in Fabriken, die es heute alle nicht mehr gibt, im Akkord zu arbeiten.
Die Musikerinnen und Musiker sind also nicht die ersten, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, viele andere Branchen waren schon vorher an diesem Punkt. Damit komme ich an die Grenzen meiner heutigen Vorgabe, weitere Schlussfolgerungen findet man in der Debatte um das gesetzliche Mindesteinkommen. Oder gleich bei Thomas Piketty.
Robert Rotifer ist Musiker, Musikjournalist und ehemaliger Kurator des Popfest Wien. Er lebt und arbeitet in England. Dieser Artikel erschien erstmals in profil, am 14. Juli 2014.

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Robert Rotifer