Sylvia Wendrock verfasste für uns einen sehr persönlichen Nachruf auf Peter Ablinger. Fakten können im music austria Musikdatenbankeintrag nachgelesen werden.
In der Nacht zum 17. April 2025 ist Peter Ablinger gestorben. Nun folge ich dem Auftrag, einen Nachruf zu diesem komponierenden Musikphilosophen, diesem eigenwillig konsequent seinen Fragen folgenden Künstler zu verfassen.
Nur wie einem Menschen gerecht werden, den man nicht mehr treffen kann?
Wir haben uns zuletzt vor vier Jahren und virtuell gesehen und gesprochen, Corona bäumte sich gerade ein letztes Mal auf in Deutschland, viel Schnee beschwichtigte die Stadt. [Das daraus hervorgegangene Interview ist hier nachzulesen.]
Ich müsste diesen Text sprechend mit den Geräuschen des Frühlings konfrontieren, die durch das geöffnete Fenster vor meinem Schreibtisch hereindringen, um ihm konkrete Wahrnehmungsdimensionen einzuweben, die Peter Ablingers zumindest späteres Werkschaffen befragte, platte Reminiszenz an Das Wirkliche als Vorgestelltes. Stimme und Rauschen. Gibt es die Wirklichkeit außerhalb unserer Vorstellung oder enthält sie nicht bloß Vorgestelltes? Im Sprechteil eben jenes Stückes sagt Peter Ablinger unter anderem sehr schwer verstehbar: „… vielleicht hätte ich es dann mit einem Wirklichen zu tun, das meinen Gedankenkäfig ein ganz klein wenig durchlässig werden ließe und das allein dadurch schon dem Leben ähnlicher wäre als der Tod. Das Wirkliche und das Vorgestellte würden dann keine Gegensätze mehr bilden, sondern uns nur als das jeweils Andere existieren. Das Vorgestellte als Wirkliches wie gleichermaßen das Wirkliche als Vorgestelltes, das wäre dann gewissermaßen eine Form für das Lebendige und für das Hier-Sein.“

Ihm ging es nicht darum, die permanente Gleichzeitigkeit von Geschehen abzubilden, aus der die jeweils individuelle Wahrnehmung gefiltert und subjektive Wirklichkeit konstruiert wird, wenngleich er auch nach der Differenz zwischen dir und mir fragte, die wir uns beide gerade auf dieselbe Sache konzentrieren. Den Wahrnehmungsvorgang hörbar, den Vorgang des Hörens selbst bewusst zu machen und sich beim Hören als Beobachter zweiter Ordnung zu bemerken, war eher das Ansinnen. Ablingers Arbeiten versuchen, verschiedene Wahrnehmungsmodi sinnlich zugänglich werden zu lassen. Denn „in dem Vergleich der Wahrnehmungsmodi habe ich den direktesten Zugriff auf Wirklichkeit.“ Sein Wirken kreiste um den Begriff von Wirklichkeit und den unermüdlichen Versuch, ihr im Musikalischen Ab-bildung zu ermöglichen wie ein Trabant um seinen Planeten. Initialzündung legte dafür seine Begegnung mit dem Photorealismus im Alter von 19 Jahren, demgegenüber er glaubte, einen Phonorealismus finden zu können und zu müssen. Damals war er noch Jazzmusiker, begann entsprechend sofort mit Fieldrecordings zu improvisieren. Doch die Suche behält ihre Kraft und führt ihn weiter zum Kompositionsstudium unter anderem bei Gösta Neuwirth. Während er sie in seinen Werken behandelte, taten sich völlig unerwartet ganz andere Fragen auf. Peter Ablinger hat von seinen Werken gelernt, wollte Wirklichkeit in die Musik hineinbringen und bemerkte dabei, wie dieser Wirklichkeitsbegriff zu einem Prisma wird. Bestimmte Fragen haben Ablingers Gedanken mehrfach gestreift, fanden Niederschrift in seinen unzähligen Notizbüchern, überstiegen oft sein Fassungsvermögen. Glücklicherweise mündeten solche Gedanken irgendwann in Werke und wurden so zu gültigen Fragen. Jahrzehnte später lässt sich Kontinuität darin entdecken. Eine mögliche Erklärung für sein Arbeiten in vielteiligen Serien, das wiederholte Aufgreifen und Weiterarbeiten an Stücken. „Wir gehen und gehen und bleiben uns immer gleich nahe. Der Mensch kann sich nur mit seinen eigenen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausfüllen. Er weiß ja nicht, was es ist, was ihm nicht zur Verfügung steht.“
Peter Ablinger beschrieb mir in unserem Gespräch Gedanken als eine Art Zugvögelschar, die uns an ihrer Schnur wie an einer Leine durchs Leben ziehen. Er erkannte eine funktionale Wahrnehmung, mit der der Mensch gewohnt war, durch den Alltag zu navigieren, und adressierte an eine ästhetische Wahrnehmung, die geschult werden sollte. „Die Kunst kann einen Schnitt durch unser Gedankenband machen. Das ist immer ein kleines Wunder, das die Kunst manchmal erreichen kann.“ Wahrnehmung schärfen, feinste Abstufungen erkennen, ein eindimensionaler erster Eindruck wird beim genauen Hinhören vielschichtig und mehrdimensional – dieses Phänomen wird von ihm bezogen auf das Hören unermüdlich erkundet. Ablinger meint, das Denken als lineare Verzeitlichung findet seinen Gegensatz im Hören als ortsbezogene Verdichtung. „Das Hören ist das, was mich selbst erschafft.“
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Niemals darf dieser Gedanke Ablingers pädagogisch interpretiert werden, nichts lag ihm ferner, als mit seinen Kompositionen erziehen zu wollen. So wie er der Musik ihre Sprachorientierung austreiben, ihr ihre reine, abstrakte Klanglichkeit zurückgeben wollte. Wenn beim Freejazz alle Instrumente auf ihrem Maximum tobten und die Musik ihren Richtungssinn verlor, weil sie sich bereits am Höhepunkt befand, stellte sich für ihn, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dieses Plateau als sein Sehnsuchtsmoment ein, den er später auch in seinen Arbeiten mit dem Weißen Rauschen suchte. Ein quasi buddhistisches Alles, das sich kurz zeigt. „Ich möchte nur das herzeigen dürfen, was mir als aufregend begegnet, nicht anders als ein kleiner Junge.“
Als entscheidenden Punkt kristallisiert Peter Ablinger den Schnitt zwischen zwei Rauschen heraus, der das Aha-Erlebnis birgt und aus der Zeit fällt, weil er den kontinuierlichen Verlauf unterbricht. Der Unterschied wird erst und nur durch den Moment des Wechsels deutlich. Der Mensch erkennt das Rauschen der Wirklichkeit erst in dem Moment, in dem er es unterbricht und es folglich nicht mehr in der Weise hörbar ist. Was könnte also Wirklichkeit sein, was kann sie für uns bedeuten?
„Das Hören ist da, um aufzuhören.“ Nun hat ihm selbst das Aufhören aufgehört. Der Tod ist Wirklichkeit, die sich dem eigenen Zugriff augenblicklich entzieht. Ich kann nicht entscheiden, ob ich Peter Ablinger lebend oder nicht lebend denken will, darüber kann ich nicht verfügen. So hat er eine sich in immer wieder neue Fragen aufsplitternde Reise zum Wirklichen zwischen Vorgestelltem und Projiziertem mit einer einzigen Wirklichkeit beendet. Ob er sie erfahren konnte?
Sylvia Wendrock
Links:
Peter Ablinger (Webseite)
Peter Ablinger (music austria Musikdatenbank)
„Eigentlich ist das wildgewordene Klavier das Reale.“ – Peter Ablinger im mica-Interview (2021)
mica-Interview mit Peter Ablinger (2008)