Während man in vielen Kreisen unserer Breiten die Moral wie eine Fahne als Etikette der Zugehörigkeit einer gebildet sensiblen Oberschicht wedelt, und mit kurzen Vermerken wie vegan, gender fluid die privilegierte Bio schmückt, existieren auf der anderen Seite noch andere „Werte“. Das Debütalbum von NIKE101 – „zu viele Hobbies“ (Futuresfuture // VÖ 10.02.23) beschreibt das Leben der Skaterparks, abseits der akademischen Lerngruppen. Dort wo das Leben selten von Moral geleitet ist. Vielleicht, weil man sich seinen sozialen Status mangels Eliteuni und Erbschaften anderweitig erarbeiten muss. Oder aber auch einfach nur im Wissen darüber, dass political Correctness für Teenager kein Lockmittel ist. Meist im Gegenteil. Unterhaltsame narzisstische Übertreibungen sind da eher erwünscht.
Popkultureller Hintergrund
Nike101 macht Hip Hop. Traditionsgemäß eine Kultur des Dagegenseins. Und die artikuliert sich, anders als im stets politisch motivierten Aufkommen dieses Genres, ganz klar auf der nicht politischen Seite. Wir leben in einer Zeit, in der so gut wie alles politisch ist, und nahezu jeder Gegenstand und jede Handlungsweise die Gesellschaft zu spalten vermag. Nike101 erzählt nicht von existenziellen Ängsten durch die Klimakrise. Sie ergreift auch nicht das Wort für marginalisiert Minoritäten. Darüber, ob Hunde nun vegetarisch leben sollten, können sich andere streiten. Der Moralismus der woken Kulturkrieger, wird hier gar nicht erwähnt. Fernab vom canceling und fremdshaming. Nike und ihre Backstreet Girls aus der Hood funktionieren anders.
„zu viele Hobbies“ reiht sich in die Tradition des in Deutschland zu Beginn des neuen Jahrtausends beginnenden Gangster Raps ein. Explicit Lyrics auf allen Tracks. Abgesehen von „double cup“. Was zwar nicht explizit klingt, seinerseits aber auch nur eine Metapher einer Konsumpraktik ist, zu deren Anwendung es eines zweiten Bechers bedarf, da der Inhalt durch mischen der Hausapotheke zuletzt auch den Becher ins Schwitzen bringt. Schlecht für Gehirn und Umwelt. Nachhaltigkeit ist aber nicht das Ding für Nike101.
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Die behandelten Themen drehen sich hauptsächlich um Drogen, sowie dem Körper als Kapital. Primitiv sagen die einen, Realität die anderen. Denunzierungen anderer Rapper:innen, sogenannter Beef, gibt es keinen. Vielleicht, weil es derweil noch zu wenige andere gibt. Das könnte sich aber schon noch ändern in Zukunft. Auch in Deutschland stieg die Anzahl der öffentlichen Streitigkeiten, nachdem diese mehr mediale Aufmerksamkeit brachten. Die Koorparationen mit Dinka Maximus, Mary404 auf diesem Album bleiben freundschaftlicher Natur.
Feministische Message
Feministisch bedeutet bekanntlich nicht, dass Frauen immer alles besser und schlauer machen müssen als ihre männlichen Vorreiter. Toxischer Männlichkeit kann statistisch betrachtet nicht immer mit weiser Toleranz beantwortet werden. Also dürfen Frauen auch mal toxisch und sexistisch sein.
Die Überlegenheit anderer, die Rapper gerne durch animalische Muskelkraft und dicke Autos ausstrahlen, demonstriert Nike101 mit kapitaler Körperlichkeit. Da schauen die Dealer, die ihre feilgebotenen Waren durchaus gegen Liebe tauschen würden, am Ende oft durch die Finger. Zu schnell ist Nike101 auf und davon mit ihrem Skateboard, und ghostet sie bis in den Tod.
Ironie und Punchlines
Money Boys legendärer Auftritt bei Joiz’ Blind Date trug viel zum Verständnis für Gangster Rap auch außerhalb dieser Blase bei. Eines der wichtigsten Elemente sind hierbei Provokation und Ironie. Mit letzterer arbeitet Nike101 auch. So gesteht sie zwar keine „Kick-Flips“ zu beherrschen, angeblich aber andere Tricks, die man dort macht, dass das Wort Kick-Flips beschreibt, nachdem man die Anfangsbuchstaben vertauscht. Der Browserverlauf der Väter ihrer Freundinnen könne das angeblich dokumentieren.
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Nebst locker sitzender Schlabberhose, ist sie außerdem bewaffnet mit stolz diagnostizierter Bipolarität. Bleibt einem auch nichts anderes übrig. Denn „Ich kann mir den Therapeuten nicht mehr leisten“. Wer kann das schon in Zeiten der Inflation, wenn die Eltern nicht mitfinanzieren und die Kassenplätze so rar sind. Hier wird’s ja fast schon politisch.
Hauptsache nicht in die Opferrolle schlüpfen. Besser man druckt selber nachts Geldscheine oder behilft sich eben mit DIY Behandlung durch besagte Hausapotheke. So macht man das auf der Street.
Das Debutalbum von Nike101 traut sich eine Momentaufnahme zu sein, die nicht mit Perfektion glänzt. Die Aufnahmen klingen noch weitgehend nach Jugendzimmer Produktion. Was vermutlich aber so gewollt sein könnte, nachdem die Musikvideos auch nicht viel mehr als aneinandergereihte Instagram Storys sind.
Auch wenn die Punchlines vermutlich nicht die Einträge der urban Dictionarys bereichern werden, weil sie sich nur weitest gehend daraus bedienen, ist “zu viele Hobbies” dennoch ein erfrischendes Zeugnis zeitgenössischer Jugendkultur.
Dominik Beyer
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