„Nicht in der Vergangenheit verweilen” – ZORA JONES im mica-Interview

Die Produzentin, DJ und Medienkünstlerin ZORA JONES ist weitgereist, von einer Stadt zur anderen. Sie wuchs in Österreich auf und zog im Alter von 19 Jahren nach Barcelona, wo sie als DJ begann. Derzeit lebt sie in Montréal, wo sie zusammen mit ihrem Musikerkollegen SINJIN HAWKE das kreative Zentrum FRACTAL FANTASY betreibt, das 2013 als Label und Plattform für interaktive Musikclips und VR-Projekte gegründet wurde. Im Jahr 2015 erschien ihre Debüt-EP „100 Ladies”, gefolgt von verschiedenen Gemeinschaftsprojekten. Mit ihrer im Oktober dieses Jahres veröffentlichten Debüt-LP „10 Billion Angels”, bleibt ZORA JONES ihrem Stil treu, indem sie Elemente aus dem gesamten Spektrum von Footwork, Juke, Trap und dem britischen Bassspektrum aufgreift und diese mit autotuned Vocals und einem glänzenden und ausgefeilten Sounddesign verwebt. Shilla Strelka spricht mit der Produzentin über Community, ihren Auftritt bei der virtuellen Ausgabe des Unsound Festivals und ihre interaktiven Videoclips.

Deine Debüt-EP hatte den Titel „100 Ladies” und bezog sich damit auf die 100 Titel, die du vor der eigentlichen Veröffentlichung geschaffen hast. Ich nehme an, du hast so hart gearbeitet, dass sich die Anzahl auf die 10 Milliarden im Titel Deiner Debüt-LP summiert hat?

Zora Jones: Ja, je mehr Musik man macht, desto mehr lernt man und desto mehr verbessert man sich natürlich. Ich habe vier Jahre lang an meinem Album gearbeitet, also haben sich mein Sound und mein Stil in dieser Zeit definitiv stark weiterentwickelt.

Deine Visuals und Sounds sind hyperreal, und doch beinhalten sie eine persönliche Komponente. Selbst in deiner stark bearbeiteten Stimme spürt man eine gewisse Zärtlichkeit.

Zora Jones: Danke vielmals!

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Interessant ist, dass es dir gelingt, eine Art fremdartige Subjektivität zu schaffen, eine, die noch Gefühle transportieren kann. In Titeln wie „Paranoid” oder „Melancholy Princess” scheint es, als ob eine Cyborg-Einheit über ihre Ängste und Wünsche nachdenkt. Wie würdest du die Beziehung zwischen menschlichen Emotionen und dieser Art posthumaner Entität beschreiben, die du durch diese künstlichen Klänge erzeugst?

Zora Jones: Ich habe eigentlich nicht versucht, eine post-humane Entität zu erschaffen, indem ich meine Stimme manipuliert habe, sondern ich habe eher die mir zur Verfügung stehenden technologischen Hilfsmittel benutzt, um mit meiner Stimme zu spielen. Ich bin in erster Linie Produzentin, also brauche ich den „Preset-Patch” meiner Stimme nicht zu verwenden – für mich ist sie wie jedes andere Instrument, mit dem ich spielen und das ich erforschen kann.
Ich glaube, die menschliche Stimme ruft auch in bearbeiteter Form noch Emotionen hervor. Unsere Gehirne haben eine unglaubliche Fähigkeit, Stimmen zu erkennen, weshalb menschliche Stimmen eine starke emotionale Verbindung herstellen können, wenn sie in Liedern verwendet werden.

„Ich denke, die Gemeinschaft ist wichtiger, als uns bewusst ist.”

Du arbeitest seit vielen Jahren mit Sinjin Hawke zusammen – mit Fractal Fantasy habt ihr euer eigenes kreatives Zentrum geschaffen und 2018 gemeinsam das Album „Vicious Circles” veröffentlicht. Neben der Zusammenarbeit mit ihm hast du eine ganze Reihe einflussreicher Künstler wie DJ Rashad, DJ Taye oder Jlin kennen gelernt und mit ihnen gearbeitet. Wie wichtig ist diese Gemeinschaft von Künstlern für Dich? Fühlt sie sich wie eine Gemeinschaft an?

Zora Jones: Ich denke, Gemeinschaft ist wichtiger, als uns bewusst ist. Wenn meine Freunde mir Ausschnitte eines Songs schicken, an dem sie gerade arbeiten, oder wenn sie ein fantastisches Album veröffentlichen, werde ich davon inspiriert und motiviert. Musik zu teilen, ist genauso wichtig – DJ Rashad hat uns 2010 eine Sammlung mit unveröffentlichten Titeln geschenkt, die ich immer noch mindestens alle zwei Monate anhöre oder auf die ich mich beziehe. Mit der Entwicklung der Underground-Musikindustrie, die immer mehr zum „Mainstream” und zu einem Geschäft wird, hat sich alles ziemlich verändert, aber ich habe immer noch eine großartige Gruppe von Freunden, die meine Gemeinschaft ausmacht.

Bild Zora Jones
Zora Jones (c) Sabina Bösch

Futuristische Ideen, Sci-Fi und Cyberspace sind grundlegend für dein Projekt Fractal Fantasy. Wir sind eingeladen, VR-Welten und interaktive Musikclips zu erleben. Es gelingt dir, ein alternatives Universum zu schaffen, in dem Klänge und Bilder miteinander in Beziehung stehen. Was hat dein Interesse an diesem transmedialen Ansatz geweckt? Warum war es für dich ein logischer Schritt, über den Tellerrand zu schauen und verschiedene künstlerische Sprachen zu verbinden?

Zora Jones: Ich würde sagen, Fractal Fantasy ist eher “Anti-Retro” als futuristisch – zu versuchen, mit relevanten Medien schöpferisch tätig zu sein und nicht in der Vergangenheit zu verweilen. Sinjin und ich sind beide sehr visuelle Menschen und interessieren uns für neue Technologien, deshalb versuchen wir immer, Dinge zu schaffen, die wir in dieser Form noch nie gesehen oder gehört haben, was wahrscheinlich der Grund ist, warum wir dazu verleitet wurden, Musik und visuelle Medien gemeinsam zu erforschen.

Deine neue Platte kann man als Post-Genre bezeichnen, da sie auf fließende Art und Weise Klang- und Rhythmussignaturen verschiedener Stile sammelt und dabei ihr eigenes Vokabular entwickelt. Es ist eine lebhafte Mischung und hat einen gewissen Pop-Appeal. Denkst du, dass das Umherziehen (Barcelona, London, Montreal), das teilweise nomadische Leben, auf deinen Stil eingewirkt haben, oder ist es ganz einfach das Leben und vom Internet und unserer digitalen Umgebung beeinflusst zu sein?

Zora Jones: Meine Musik ist eine Verschmelzung von verinnerlichten Lebenserfahrungen, aus denen ich Kreatives schöpfe. Ich denke zum Beispiel nie, dass „dieser Track durch einen Spaziergang in London inspiriert wurde”, aber es könnte etwas sein, das mich unbewusst von London aus beeinflusst und das sich in einem Song niederschlägt… aber der Prozess besteht hauptsächlich darin, dass ich mich in meinem Computer in einen Flow versetze, und was dabei herauskommt, ist nicht wirklich im Voraus überdacht.

Wie du in Deinem Pressetext erwähnt hast, bezieht sich die visuelle Identität von „10 Billion Angels” auf 3D-Tentakelpornografie. Jeder Track kommt mit einem interaktiven Video, alles glänzend, hyperpoliert, mit einem vielfältigen virtuellen Anime-Charakter, der im Raum schwebt wie Andy Warhols „Silver Clouds”. Wie hast du das Konzept dahinter entwickelt und wer ist für die Umsetzung verantwortlich?

Zora Jones: Ja, das Visuelle ist von der 3D-Tentakel-Erotik inspiriert. Sinjin und ich arbeiten an einem Fractal Fantasy-Videospiel, und vor ein paar Jahren begannen wir mit der Erforschung von Videospielcharakteren. Während der Recherchen bin ich über einige Erotik-Videospiele gestolpert und fand den ganzen flexiblen Aspekt des Spiels toll, und dadurch entdeckte ich die Modder-Gemeinschaft, die sich mit dem Spiel befasst. Ich war fasziniert von der Hingabe und Kreativität der Modder, vor allem im Untergenre der Tentakelpornos. Mit CGI kann man physikalischen Regeln trotzen, und Tentakel-Erotik erlaubt einem, dies wirklich zu erforschen, also war ich versucht, meine eigene Version davon zu machen. Während des Lockdowns habe ich gelernt, wie man Blender benutzt, und habe mit Louis TB zusammengearbeitet – Sinjin und ich arbeiten an jedem visuellem Aspekt von Fractal Fantasy, es wäre unmöglich, unsere Vision auszuführen, ohne uns die Hände schmutzig zu machen.

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Deine Shows und Videos sind interaktiv, auch deine Rolle als Musikerin wird durch das Verfolgen deiner Bewegungen erweitert, so dass du manchmal zur Tänzerin wirst. Was ist die Geschichte dahinter? Warum ist es für dich keine Option, dich hinter einem Laptop zu verstecken und Samples abzuspielen? Du hast viel als DJ gearbeitet und dadurch oft stark mit der Menge interagiert. Gehört dieser „verbindende” Ansatz zu deinem Verständnis einer Live-Show?

Zora Jones: Bei der Entwicklung der AV-Live-Show wurde viel experimentiert, und wie du schon sagtest, ist eine große Komponente der Show ihr interaktives visuelles Erlebnis: Es machte einfach Sinn, meinen Körper und meine Bewegungen darin zu erforschen und das in die Show einzubauen. Je weniger Bildschirme oder Objekte man zwischen sich und dem Publikum hat, desto besser wird die Verbindung sein. Am liebsten würde ich eigentlich den Tisch loswerden und das Set-Up auf seine wichtigsten Komponenten reduzieren.

Das ist gerade jetzt besonders sinnvoll, da die Clubs gezwungen sind, auf die digitale Welt zurückzugreifen. Das Werk, das du zusammen mit Sinjin bei Unsound präsentieren wirst, war es eine Auftragsarbeit speziell für diese Ausgabe? Könntest Du ein wenig erzählen, was uns erwartet?

Zora Jones: dreamRooms;(), die diesjährige Aufführung bei Unsound, ist eine Sammlung von Experimenten, die wir während des Aufbaus unserer neuen AV-Live-Show im Lockdown gemacht haben.

Du bist in Österreich aufgewachsen und noch als Teenager nach Barcelona gezogen. Dort hast du als DJ begonnen. Wie oft kehrst Du nach Österreich zurück (in welches Bundesland?) und was waren die Gründe, warum du nie an eine Rückkehr dachtest?

Zora Jones: Ich kehre ungefähr einmal im Jahr nach Kärnten zurück, um meine Mutter zu besuchen … Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Österreich gelebt, und die Welt ist ziemlich groß. Ich habe noch nicht alles gesehen, also gibt es noch viel zu entdecken! Das Leben und Reisen in verschiedenen Ländern erweitert den Blick auf das Leben und die Umgebung, was ich genieße und für sehr wichtig halte. Ich habe auf meinen Reisen in den letzten Jahren viel gelernt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Shilla Strelka 

Übersetzt aus dem englischen Original von Julian Schoenfeld


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