Die Saison des Salzburger Kürzest-Intendanten Markus Hinterhäuser bei den Salzburger Festspielen wird als denkwürdig in der fast neunzigjährigen Geschichte des Festivals eingehen. Der von dort scheidende künftige Leiter der Wiener Festwochen gestaltete nicht nur ein sehr interessantes Konzertprogramm, sondern setzte auch in der Betreuung der Opern-Neuproduktionen – mit Peter Stein und Riccardo Muti, mit Janáček und Christoph Marthaler, mit Christian Thielemann und mit Claus Guth bei Mozart/Da Ponte– mehr als Akzente. Und er betreute den „Kontinent Nr. 5“ – mit Zeitgenössischem.
Dieser „Fünfte Kontinent“ sollte eine Art Resümee der bisherigen Kontinent-Programme darstellen. Nicht von ungefähr wurde er in der Kollegienkirche mit Luigi Nono und dessen Tragedia in ascolto „Prometeo“ eröffnet, die 1993 die Betreuung des beachteten „Zeitfluß“-Schwerpunktes markierte, den Hinterhäuser damals gemeinsam mit Thomas Zierhofer-Kien gestaltete. Auch schon 2009 setzte Hinterhäuser die szenische Neu-Inszenierung von Luigi Nonos Azione scenica „Al gran sole carico d’amore“ durch, die sich mit revolutionären Frauenschicksalen beschäftigt. Dirigent war auch damals Ingo Metzmacher.
Die „Kontinente“-Reihe, die er nach seiner Berufung als Konzert-Dramaturg der Festspiele ab 2007 aus der Taufe hob, war jeweils einem „Hauptkomponisten“ gewidmet: Giacinto Scelsi, Salvatore Sciarrino, Edgard Varèse und Wolfgang Rihm – mit Querverweisen auf andere, auch österreichische Komponisten. Dramaturgische Bezüge gab es in den Programmen Hinterhäusers immer, in allen von ihm gestalteten Konzertreihen. Davon zeugte der diesjährige Schwerpunkt „Mahler und …“, der nicht nur dessen Aufbrüche in die Moderne dokumentierte, indem etwa Mahlers Lieder von Matthias Goerne und Leif Ove Andsnes mit Schostakowitsch kombiniert wurden. Oder: Der Dirigent Kent Nagano, der drei Konzerte der Camerata Salzburg leitete, versicherte, er habe über die Programmzustellung (unter anderem Charles Ives und Karl Amadeus Hartmann) ein Jahr lang intensiv gemeinsam mit Hinterhäuser nachgedacht. Den „Fünften Kontinent“ bevölkerten Morton Feldman (mit seiner Oper „Neither“ nach Samuel Beckett), wiederum Sciarrino (mit seiner genialen „Macbeth“-Oper), Gérard Grisey, Karlheinz Stockhausen (mit Marino Formenti), John Cage (mit Pierre Laurent Aimard) und Georg Friedrich Haas in exemplarischen Umsetzungen.
In vain“ ist nicht vergeblich
Es ist dies eines der spannendsten Haas-Werke für Ensemble, damals dem Klangforum Wien auf den Leib geschrieben. Was Haas über dieses Stück heute sagt, auch über das seine Entstehung politisch Auslösende, kann man in dem jüngsten Interview von Markus Deisenberger mit dem gegenwärtigen Luzerner „Composer-in-residence“ nachlesen. Wenn man „in vain“ heute hört, sollte man diesen politischen Anlass eigentlich besser vergessen. Tatsache ist, dass es heute – mit an die 30 (!) Aufführungen – zum Bestandteils des „Repertoires“ zeitgenössischer Musik, zum „Klassiker“, geworden ist, was zweifellos einen Sonderfall in der Neuen Musik darstellt. Viele andere Ensembles haben das schwierige Werk einstudiert. Auch berühmte Streichquartette stellen sich für die Uraufführung eines neuen Stücks dieser Gattung an, bzw. gaben es in Auftrag, zuletzt das Arditti-Quartett. Und das Salzburger Hagen-Quartett erprobt die unter seinen Mitgliedern sprichwörtlich gewordene „Haas-Intonation“ auch bei gänzlich anderer, älterer Musik.
Die Klangforum-Aufführung von „in vain“ für 24 Instrumente unter dem charismatischen Dirigenten Emilio Pomàrico in der Kollegienkirche war außerordentlich eindrucksvoll. Bei dem Stück, das über eine Stunde dauert, vergisst man jeden gemessenen Zeitbezug – man hört nur mehr gebannt zu. Verwandtschaften zum vor der Pause gespielten Cage-Stück „Ryoanji“, in dem der Komponist eine der ungewöhnlichsten musikalischen Analogien zu gestalteter Landschaft (ein japanischer Zen-Garten) fand, bestehen auch.
Haas findet in seinem Werk ebenfalls Bezüge zu Natur – im klanglichen Eröffnen weiter Räume (die man sich nur mehr vorstellen kann, wenn während der Aufführung zwischendurch auch lange Zeit die Musiker im Dunkeln spielen), Im Außer-Kraft-Setzen von Zeit, durchaus auch im Rituellen. „Innehalten, nachklingen lassen, Reaktionen auf die Entwicklung der Klänge, Aussetzen der gemessenen Zeit“ ist eine Vortragsanweisung für die Streicher- und vor allem Bläserstimmen nach der ersten Dunkelphase, wenn diese Obertonklänge horizontal ausbreiten. Wie schon György Ligeti endet „in vain“ mit ständigen sich in den Stimmen überlagernden Abwärtsbewegungen in Permanenz (sogenannte „Shepard-Skalen“) – Symbol für „Immer wieder von vorn“-Ausweglosigkeit. Man vernimmt eine Endlos- Motivrepetition eine scheinbar endlose chromatische Tonleiter entlang (obwohl die Ansatzpunkte dieser Abwärtsbewegungen auch ansteigend sein können): Eine Treppe von Maurids Escher.
Haas hat völlig recht, wenn er sagt, dass seine Musik „viel zu schön“ sei für bestimmte Protagonisten der Politik. Besser ist es zu sagen, diese ist ein in künstlerischer Freiheit gestaltetes „Spiel mit Illusionen“.
„In iij. Noct.“ (2001)
In absoluter Dunkelheit („keine Pultbeleuchtung, kein Notlicht“) solle das 3. Streichquartett gespielt und gehört werden, wünschte Haas. Um das zu gewährleisten, verlegte man das ursprünglich in der Großen Universitätsaula angesetzte Konzert des stadler quartett in die katakombenartigen Kavernen in der Gstättengasse. Allein, behördlich vorgeschrieben, blieben auch dort die Ausgänge mit Leuchten (mehr als) markiert. Man musste also eine Stunde lang die Augen geschlossen halten um die größtmögliche Dunkelheit zu gewährleisten.
Das bereits 1992 gegründete stadler quartett, bestehend aus den Stimmführern des Salzburger oenm (Österreichisches Ensemble für Neue Musik) verteilte sich nach der Pause in die vier Ecken des Raums. Diesmal saß auch Georg Haas im Publikum.
Das dritte Streichquartett stelle auch „eine „Reaktion auf ‚in vain’ dar, indem ich die Idee mit der Dunkelheit zu ihrem Extrempunkt geführt habe“, sagte Georg Friedrich Haas einmal. Der Titel bezieht sich auf die Stundengebet-Responsorien in der Karwoche, die an drei aufeinander folgenden Nächten zwischen Gründonnerstag und Karsamstag gehalten wurden. Wichtig für das Werk ist auch ein Zitat aus einem Werk von Gesualdo, das 1611 als Musik für diese Responsorien entstanden ist. Im traditionellen Sinn in Notenschrift geschrieben sind nur Anfang und Ausklang dieses Stücks. Ansonsten entfaltet das Quartett sich im möglichst freien Reagieren der vier einzelnen Instrumente aufeinander, bis jeweils durch Hinzutreten einer Stimme nach der anderen die Quartett-Situation erreicht ist. Und: Er habe mit diesem Streichquartett ein Stück geschrieben, „wo ich die Verantwortung für die Form aus der Hand gegeben habe. Das kann gut gehen oder nicht …“ Die Musiker sollen sich auf die Möglichkeiten einlassen, die ihnen die Partitur gibt. „Auch auf deren Freiheiten“. Die mit Buchstaben bezeichneten Elemente des Verlaufs (Obertonketten, eingetrübte Unisoni, Vierteltontrillerketten, Glissandi und so weiter) sollen sich mit A beginnend in dann beliebiger Reihenfolge entfalten. Die jeweilige von einem Instrument gespielte Ausgangssituation ist als „Einladung“ an die anderen zu verstehen. Natürlich entsteht bei jeder Aufführung ein zum Teil anderes Stück, auch die Spieldauer (nach Haas mindestens 35 Minuten) kann beliebig gestaltet werden.
Das „stadler quartett“ machte die Sache mehr als gut, nicht zuletzt gilt es als ein auf zeitgenössische Werke spezialisiertes Quartett.
Heinz Rögl
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