Die letzten Festivaltage von Wien Modern 35

Bis ins Finale gilt: bei Wien Modern gibt es Konzerte unterschiedlichster Formen, Farben und Größenordnungen. Ein letztes Mal lädt «A Simple Guide to Complexity 2» mit dem Arditti Quartet in den Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses. Eine letzte experimentell-szenische Uraufführung präsentiert Marina Poleukhina in einer der kleinsten Spielstätten des Festivals, dem echoraum. Auf und vor der größten Leinwand der Stadt spielen dann The International Nothing beim Abschluss im Gartenbaukino. Insgesamt gibt es bis Ende November 59 Ur- und 19 Erstaufführungen an 27 Spielstätten in 10 Wiener Gemeindebezirken zu hören und zu entdecken.

Nichts ist unmöglich, keine neue Entwicklung ihres Arbeitsbereichs bringt sie aus der Ruhe: Das vollkommen unerschrockene, begeisternde Spiel von Musik des Schwierigkeitsgrades «unfassbar» hat das Arditti Quartet weltweit zur Referenz seines Fachs gemacht. 1974 in London gegründet und seit der Gründung von Wien Modern 1988 alljährlich hier zu erleben (sogar am letzten Live-Abend des Lockdown-Jahrgangs 2020, mit einem Lächeln), ist dieses Streichquartett ein Fels in der Brandung der stürmischen musikgeschichtlichen Entwicklungen des letzten halben Jahrhunderts. Auf die Bitte, diesmal für A Simple Guide to Complexity etwas über den Umgang mit Komplexität zu erzählen, hat das Arditti Quartet drei «unfassbar» komplexe Stücke ausgewählt und zeigt – um einen Schlüsselbegriff der Wiener Schule zu gebrauchen – wie «Fasslichkeit» zum Vorschein gebracht werden kann. Brian Ferneyhough untersucht in seinem Fünften Streichquartett, auf welche Weise komplexe Strukturen «nach der katastrophalen Zerstörung nach einem Wirbelsturm» ihre Form wahren. Elliott Carters Drittes Quartett spielt mit «sich ständig variierenden Perspektiven – oder auch Gefühlen, Ausdrücken, Rivalitäten und Kooperationen». Clemens Gadenstätter untersucht in seinem großen Triptychon drei Gesten, «die direkt mit starken (vorgestellten) körperlichen bzw. kognitiven Empfindungen gekoppelt sind» – ein Gang an die Grenze zwischen Hören und Fühlen, haarscharf, aber höchst elegant an der «Klippe des Scheiterns». (Montag 28.11.)

Right – left | You step above | Then you dance ist eine musikalische Komposition für Licht, Objekte und zwei Performer:innen in einem intimen Raum. Intention des Stücks ist, die Aufmerksamkeit auf die Grenze zwischen den verschiedenen künstlerischen Disziplinen zu lenken, insbesondere notierte musikalische Komposition, physische Performance, freie Improvisation und Installation. Tatsächlich könnte man die Intention des Werks damit beschreiben, die Zuschauer:innen in eine klingende, bewegende und strahlende Malerei hineinzuführen. […] Das sich ständig verändernde Ergebnis wird in diesem neuen Werk erforscht, in dem die Komposition aus Bewegung, Licht und Klang zu einem neuen Instrument wird, einem Organismus, dessen Sprache ich hören muss, aber noch nicht verstehe. (Marina Poleukhina) (Dienstag 29.11. + Mittwoch 30.11.)

Die Musik von The International Nothing (Mittwoch 30.11.) schafft das Unmögliche. Sie klingt voll nach Raum- und Elektronik-Effekten – und braucht nichts als zwei Klarinetten. Sie vertraut auf radikale Reduktion und minimalistische Ästhetik – und öffnet in ihrer atemberaubenden, mikroskopischen Präzision wilde, zerklüftete Hörlandschaften. Sie schafft ganz ohne Drama und Dorfkapelle eine Dauer wie Beethovens Pastorale. Hinter Just None of Those Thingsstecken zweieinhalb Jahre obsessiver Arbeit – und das Ergebnis ist federleicht. Intim und extrem wohnzimmertauglich («Platte des Jahres», schrieb freiStil bereits im Mai 2022), ist die Musik von The International Nothing ganz großes Kino. Deswegen ist sie auch genau dort live zu erleben zum Abschluss von Wien Modern. Vorher gibt es den Porträtfilm In Trout We Dust. Ein Film über das internationale Nichts von Dieter Kovačič, nachher Party mit dieb13Top*S und Adriana Celentana

„Die Grenze von Ton und Geräusch bleibt stets unscharf; diese Unschärfe ist schließlich eines der Dinge, um die die Musik von The International Nothing von jeher kreist. Just None of Those Things feiert die feinen Unterschiede des Wahrnehmens auf nüchtern faszinierende Weise.“ (Tim Caspar Boehme, taz 23.02.2022)

„Phrases and effects cycle on and on, but as they do there is a constant transformation, shifting between woozy undulation, hypnotic gliding, and pointillistic splattering. But the duo pushed those micro permutations into ever-shifting terrain, flowing from sequence to sequence with an elusive but unerring logic that’s deeply satisfying and conceptually whole. You need to be willing to surrender to the music, because that’s when the freedom kicks in.“ (Peter Margasak, The Wire 3/2022) 

Wien Modern 35

Heuer findet Wien Modern zum 35. Mal statt, einen Monat lang mit insgesamt 96 Veranstaltungen an 27 Spielstätten in 10 Wiener Gemeindebezirken. Das 1988 von Claudio Abbado initiierte Festival ist mit heuer 59 Ur- und 19 Erstaufführungen die größte Plattform zur inspirierenden Begegnung von Künstler:innen und Hörer:innen neuer Musik aller Spielarten. Mit dem Festivalpass (100 € / 80 € / 70 € / 40 € / 28 €), dem Mengenrabatt (30% Ersparnis ab vier Veranstaltungen) sowie kostenlosen Angeboten bietet das Festival Gelegenheit zur Begegnung mit der zeitgenössischen Vielfalt der Musik. Ermöglicht wird Wien Modern von der Stadt Wien Kultur und dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS), den Festivalsponsoren Kapsch und Erste Bank, Pro Helvetia, den SKE der austro mechana, AKM, und zahlreichen Koproduktions- und Kooperationspartnern.

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Wien Modern