DIE LEIDENSGESCHICHTE DES JOSEPH: PIER DAMIANO PERETTI IM MICA-INTERVIEW

Als Organist und Lehrer ist PIER DAMIANO PERETTI seit vielen Jahren im österreichischen Musikleben bekannt und geschätzt. Als Komponist wird er ebenfalls primär im kirchlichen Umfeld wahrgenommen, wiewohl Musik für den sakralen Rahmen nur einen Teil seines Werkkatalogs bildet. In Wien wird Mitte Juni seine „Josephspassion“ uraufgeführt. Christian Heindl sprach mit dem Künstler über seine Herangehensweise an diese Aufgabe und weitere aktuelle Arbeiten.

Sie sind 1974 im norditalienischen Vicenza geboren und erhielten dort ihre erste Ausbildung. Was hat Sie bewogen, 1996 nach Wien zu übersiedeln, das seither im Wesentlichen ihr Lebensmittelpunkt blieb?

Pier Damiano Peretti: Im Grunde lässt sich das mit wenigen Stichworten wiedergeben. Vicenza war und ist eine inspirierende Kulturstadt, aus der unzählige Musikerinnen und Musiker hervorgegangen sind. Nachdem ich dort Orgel bei Antonio Cozza studiert und in Padua Kompositionsunterricht bei Wolfango Dalla Vecchia hatte, kam ich – wie viele andere Italiener auch – nach Wien zum Zweitstudium im Orgelkonzertfach. Die größte Anziehung dafür waren Michael Radulescu und die „Wiener Orgelschule“ in der Nachfolge Anton Heillers.

Radulescu war Ihnen schon von Italien her bekannt?

Pier Damiano Peretti: Ja, er war wirklich ein Begriff in Italien. Nicht nur als Organist, sondern auch als Dirigent hinsichtlich seiner Bach-Interpretation. Mein erster Lehrer in Wien wurde für zwei Jahre Herbert Tachezi, anschließend konnte ich dann fünf Jahre bei Radulescu studieren.

Welche Rolle ergab sich im Verhältnis zwischen dem Organisten Peretti und dem Schaffen eigener Werke?

Pier Damiano Peretti: Ich sehe mich zuerst als Interpret – auch für viele Zeitgenossen. Das eigene Komponieren war da eher punktuell, aber von Anfang an präsent und ebenfalls sehr wichtig. In Wien habe ich damals auch noch bei Wolfgang Suppan und Dietmar Schermann studiert. Das fand ein Ende, als ich 2002 als Orgelprofessor nach Hannover berufen wurde. Heute sind es zwei ungefähr gleich wichtige Standbeine, die sich gegenseitig befruchten.

Während Ihrer Jahre in Hannover waren Sie auch bei den Darmstädter Ferienkursen und haben dabei intensiv die deutsche Komponistenszene entdecken können.

Pier Damiano Peretti: Ja, da habe ich insbesondere Wolfgang Rihm kennengelernt. Bei einem Porträt-Konzert in Hannover habe ich Orgelstücke von ihm gespielt, wo er dabei war. Mein kompositorisches Denken ist eigentlich sehr von seinen Schriften inspiriert; mehr noch als von seiner Musik. Rihm war übrigens als Teenager ein leidenschaftlicher Organist. Auch Hans Werner Henze ist für mich wichtig, sein undogmatischer Ansatz fasziniert mich immer noch. Ein anderes wichtiges Einzelereignis war 2006 ein Porträtkonzert zum 75. Geburtstag von Sofia Gubaidulina, das ich an der Hochschule Hannover initiieren konnte; dabei durfte ich sie auch kennenlernen. Ihr Schaffen steht für mich vorbildlich als Brücke zwischen Neuer Musik und Spiritualität.

2009 wechselten Sie zurück nach Wien, wo Sie die Stelle Ihres einstigen Lehrers Michael Radulescu an der Musikuniversität erhielten. Das war zweifellos ein sehr emotionaler Moment?

Pier Damiano Peretti: Radulescu war ein Universaltalent, das mich prägte. Ich sehe ihn auch als Vorbild hinsichtlich der Personalunion von Komponist und Interpret. Das bezieht sich weniger auf die kompositorische Ästhetik, die uns durchaus unterscheidet, als auf die ethische Komponente, die bei ihm auf allen Gebieten präsent und entscheidend war. Mein großes Anliegen als Orgellehrer ist es, das Niveau von damals zu halten – das Spiel- und Denkniveau, das wir alle bei ihm gelernt haben.

Pier Damiano Peretti
Pier Damiano Peretti © Maria Frodl

Wenn man ihr Œuvre betrachtet, sieht man viele sakrale Werke, naturgemäß viele Arbeiten für die Orgel, verschiedene kammermusikalische Instrumentalwerke, das Orchester spielt eine untergeordnete Rolle.

Pier Damiano Peretti: Für Orchester habe ich bisher in Verbindung mit Stimme geschrieben, also Chor oder Solostimme. Generell lagen die Schwerpunkte lange Zeit in den Bereichen Orgel und Chor bzw. der Verbindung von beidem. Das ändert sich allmählich, da fühle ich mich zunehmend zur Kammermusik hingezogen; als „Instrumentierungswerkstatt“ spielt aktuell das Bearbeiten eine wichtige Rolle. Bezüglich der sakralen Werke ist hinzuzufügen, dass das nicht immer unbedingt liturgische Musik ist, aber ein Interesse für geistliche Inhalte spiegelt – wie etwa in den „Litanie“ nach Pasolini für Bariton, Cello und zwei Schlagzeuger, die ich 2023 für das Festival Kirchklang komponieren durfte. In Verbindung damit steht für mich die Kirche als unverzichtbarer Ort kultureller Vermittlung.

In Wien erlebt am 15. Juni die rund 75-minütige „Josephspassion“ für Sprecher, Vokalensemble, Chor und Instrumente ihre Uraufführung in der Lutherischen Stadtkirche. Mit den Passionen nach den vier biblischen Evangelisten sind wir relativ vertraut. Was erwartet uns bei Joseph?

Pier Damiano Peretti: Auslöser war der 1991 erschienene Roman „O Evangelho segundo Jesus Cristo“ von José Saramago. Das war für mich eine spannende Lektüre, wobei mich die bei Saramago atheistische Perspektive fasziniert hat. Packend fand ich die Nebenhandlung der Geschichte des Joseph, der nach der Geburt Jesu unmittelbar aus der Bibel verschwindet. Hier erfährt Joseph vom Plan des Kindermordes in Betlehem. Er warnt zwar Maria, nicht aber die übrige Bevölkerung. Darin liegt seine große „Sünde“. In der Folge wird er mit 33 Jahren – wie später Jesus – von den römischen Besatzern für einen Aufrührer gehalten und gekreuzigt, wobei Maria und Jesus dem beiwohnen. Das erschien mir als geeignet für eine Passion. 

Mit welchen Mitteln arbeiten Sie bei diesem Projekt bzw. in der Passion?

Pier Damiano Peretti: Wichtig war von Anfang an die Zusammenarbeit mit Matthias Krampe, dem österreichischen Landeskantor der Lutherischen Kirche und Initiator der Konzertreihe „Musik am 12ten“. Das Libretto stammt von Martin Horváth, der Barockkontrabassist und ein herausragender Schriftsteller ist. Sprachlich bewegt er sich dabei sehr in der Nähe des Deutsch der barocken Passionen, sodass man von „Zitaten“ sprechen könnte. Dazu kommen sieben so genannte Zwischenrufe, die von Semier Insayif stammen und als A-cappella-Interpolationen gestaltet sind. Da gibt es also sehr verschiedene Sprachebenen. Auf musikalischer Ebene sind neben meinen eigenen Mitteln sieben Passionschoräle von Bach eingebaut und von mir neu instrumentiert.

Hinsichtlich der Ausführenden unter der Leitung von Matthias Krampe bin ich sehr glücklich, dass mit dem Albert Schweitzer Chor und dem Momentum Vocal Music von Simon Erasimus ein erfahrenes und ein ganz neues Vokalensemble mitwirken werden. Karl Markovics erhält als Sprecher wichtige Aufgaben bei den Rezitativen und in einem Schlussmonolog, in dem es um tiefgründige existenzielle Fragen geht.

Schon zehn Tage vor der „Josephspassion“ haben Sie am 5. Juni eine spannende Uraufführung im Muziekgebouw Amsterdam. Das Klangforum Wien wird unter der Leitung von Katharina Wincor Ihre Orchestrierung von Arnold Schönbergs Orgelwerk „Variationen über ein Rezitativ“ op. 40 spielen.

Pier Damiano Peretti: Das ist während der Pandemie-Zeit entstanden und ich habe es vor längerer Zeit dem Klangforum vorgeschlagen. Die Fassung für Ensemble, die ich angefertigt habe, folgt eng meiner eigenen Interpretation des originalen Orgelstücks. Von diesem Stück habe ich 2024 eine Neu-Edition für die Universal Edition anfertigen können, da es bis dahin nur zwei nicht sehr brauchbare Editionen gab.

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Sie sind ja als Organist nicht nur dem historischen Katalog verschrieben, sondern auch ein sehr aktiver Interpret zeitgenössischer Komponisten.

Pier Damiano Peretti: Da gibt es schon eine sehr lange Liste. Nur als Beispiele erwähne ich Thomas Daniel Schlee, dessen Werke ich auch für CD eingespielt habe und mit dem mich seit 20 Jahren eine Freundschaft verbindet. Er war auch für mein eigenes Komponieren wichtig. Mit Karlheinz Essl habe ich 2020 an dem palindromischen Stück „tenet opera rotas“ gearbeitet, das ich in Auftrag gegeben hatte. Von Wolfram Wagner gibt es „Hymnos“, von Bernd Richard Deutsch die „Toccata octophonica“, uraufgeführt habe ich auch die „Plejaden III“ von Günter Kahowez. An Italienern wären etwa Bruno Bettinelli, Terenzio Zardini und Biagio Putignano zu nennen, von denen es auch jeweils eine CD mit mir gibt. Und dann natürlich immer wieder die Musik von Radulescu, die mir sehr wichtig ist.

Ein ganz neues Stück von Ihnen, das nicht mit der Orgel zu tun hat, ist „ ‚…nia nia…‘ preludes to a lullaby“.

Pier Damiano Peretti: Dieses Stück ist 2024 für die Harfenistin Elisabeth Plank entstanden, die es soeben für CD eingespielt hat. Der Titel bezieht sich auf ein darin zitiertes Wiegenlied des alten italischen Stammes der Lukaner in der süditalienischen Region Basilikata. Andere Anregungen und Aufträge der letzten Jahre kamen etwa vom Sargas Duo, der Organistin Silva Manfrè, dem Organisten Marco Paolacci, dem Milano Saxophone Quartet, Chören und Vokalensembles wie Company of Music und dem Bach Chor Salzburg, aber auch über Konzertreihen, Festivals und Wettbewerbe.

Unmittelbar nach dem Sommer wird es am 15. September im Mariendom im deutschen Freiberg ein neues Orgelwerk von Ihnen selbst geben, auf das man nicht zuletzt hinsichtlich des Titels gespannt sein darf: „Stahlspiel“.

Pier Damiano Peretti: Das ist ein Auftragswerk für die Finale Runde des Internationalen Silbermann-Orgelwettbewerbs. Gottfried Silbermann, der wichtigste deutsche Orgelbauer der Bach-Zeit, hat in einigen seiner Orgeln Registerkombinationen als Vorschläge hinterlassen. Eine sehr obertonreiche für eine kleine Kirche nennt er „Stahlspiel“. Daraus ergab sich die Idee, Silbermanns Registrierung als eine Art „Klang-Thema“ zu behandeln, woraus dann Variationen entwickelt werden – mit Assoziationen von barocken Schlachtenmusiken bis zu schimmernden Metalloberflächen.

Welche Zukunftspläne stehen rund um diese Uraufführungen an?

Pier Damiano Peretti: In der unmittelbaren Zukunft wird das Pendel wieder einmal in Richtung Orgelinterpretation schlagen. U. a. werde ich rund um Bachs Todestag am 28. Juli an den Orgeln der Thomaskirche das Eröffnungskonzert der Europäischen Orgelakademie Leipzig, bei der ich auch als Dozent mitwirke, spielen. Für 2026 ist ein umfassendes Aufnahmeprojekt rund um das Thema „Paul Hindemith und die Orgel“ in Vorbereitung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Christian Heindl

Links:
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Musik am 12ten