„Der Erfolg liegt meistens jenseits der Angst.“ – MIRELA IVIČEVIĆ IM MICA-INTERVIEW

Die in Split geborene und seit vielen Jahren in Wien lebende Komponistin MIRELA IVIČEVIĆ gehört zu jenen Stimmen, die Klang nicht als Selbstzweck verstehen. Ihre Arbeiten reagieren auf gesellschaftliche Spannungen und suchen nach Formen des Ausdrucks, die politisch denken, ohne zu belehren. In ihren Stücken treffen Intuition und Konzept, Emotion und Struktur aufeinander – immer mit einem offenen Ohr für das, was sich zwischen den Tönen abspielt. Für ihr Schaffen wurde sie heuer mit dem renommierten Belmont-Preis ausgezeichnet. Seit demselben Jahr leitet sie die Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik und versteht das Festival als Ort, an dem künstlerische Freiheit Verantwortung mitdenkt. Im Interview mit Ania Gleich spricht MIRELA IVIČEVIĆ über Intimität als kuratorisches Leitmotiv, antifaschistische Familiengeschichte, Tabus im Jahr 2025 und über das Glück, Musik unter Wasser zu hören.

Sie haben heuer den Belmont-Preis erhalten. Inwiefern war das für Sie Bestätigung, Überraschung oder vielleicht auch eine Zäsur in Ihrer bisherigen Laufbahn?

Mirela Ivičević: Es war eine schöne Überraschung. Der Preis kam völlig unerwartet; es ist kein Preis, für den man sich bewerben kann. Ich freue mich natürlich, zu wissen, dass meine Musik es geschafft hat, irgendwo Menschen zu erreichen und zu bewegen. Aber schlussendlich komponiert man nicht für Preise, sondern aus einem starken inneren, teils irrationalen Bedürfnis heraus, die Welt zu verstehen und mitzugestalten. Preise sind wie Blumen – wunderschön, aber nicht das Wichtigste.

„Die wahre ‚Religion‘ und das verbindende Element in unserer Familie war der Antifaschismus.“

In den Jurybegründungen fällt oft das Wort „politisch“. Würden Sie selbst sagen, dass Ihre Musik politisch ist – und wenn ja, auf welche Weise?

Mirela Ivičević: Mein ganzes Leben ist politisch – wie bei fast jedem Menschen. Dass ich überhaupt am Leben bin, verdanke ich meinen beiden Großvätern; sie waren Partisanenkämpfer. Hätten sie und viele ihrer Kameraden in ganz Europa damals nicht Widerstand geleistet, gäbe es weder meine Eltern noch mich noch das Europa, das wir heute kennen. Das wurde mir schon in meiner Kindheit sehr klar vermittelt: Meine Eltern kommen aus unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergründen. Die wahre „Religion“ und das verbindende Element in unserer Familie war der Antifaschismus. Ich bin nicht so mutig wie meine Vorfahren, aber ich spüre die Verantwortung, ihren Weg so gut wie möglich weiterzugehen. Musik ist ein sehr abstraktes Ausdrucksmittel, aber sie ermöglicht trotzdem, Ideen zu vermitteln. Meine eigene Obsession ist es, in einzelnen Stücken Räume zu schaffen, in denen möglichst viele verschiedene Materialien auf ungewohnte, aber wirkungsvolle Weise koexistieren – als Metapher für das wahre Leben.

Sie leiten seit diesem Jahr die Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik. Welche Leitidee hatten Sie für Ihre erste Programmsaison?

Mirela Ivičević: Das Thema, das ich gewählt habe, war Intimität – die geheime Zutat vieler großartiger Werke und Aufführungen. Der Verein „Allerart“, der das Festival organisiert, wünschte sich für meine erste Saison unter anderem auch ein quasi „Vorstellungskonzert“ der neuen Intendantin – so war es offenbar auch bei meinen Vorgänger:innen. Deshalb spielte das Black Page Orchestra mein Stück „CASE BLACK“, und in dieser Richtung habe ich weitergebaut. Ich habe bewusst nach Interpret:innen und/oder Komponist:innen gesucht, von denen ich weiß, dass sie eine tiefe persönliche Verbindung zueinander haben, die weit über die gemeinsame Arbeit hinausgeht – was für ein umso intensiveres musikalisches Ergebnis sorgt. Von Beat Furrers „Ira–Arca“ bis zum neuen, extrem persönlichen, herzzerreißenden und im heutigen Moment äußerst relevanten Stück „How long is Now“ von Dror Feiler, dem langjährigen Freund des Black Page Orchestra. Wir haben auch versucht, das Programm so zu gestalten, dass ein intimerer Kontakt zwischen Künstler:innen und Publikum entstehen kann.

Sie sprachen von ästhetischem Pluralismus und davon, sich auch selbst überraschen zu wollen. Wann merken Sie bei einem Stück, dass es genau dieses Überraschungsmoment hat?

Mirela Ivičević: In meinen eigenen Stücken wähle ich immer Wege, die ich noch nicht gegangen bin. Durch meine Konzepte zieht sich zwar ein roter Faden, aber wenn es um die klangliche Umsetzung geht, experimentiere ich gerne mit neuen Verbindungen und Ausdrucksmitteln. Ich sage nie „nein“ zu etwas, nur weil ich nicht sicher bin, ob es „gut“ klingt – im Gegenteil. Der Erfolg liegt meistens jenseits der Angst. Beim Kuratieren finde ich es wichtig, Poetiken zuzulassen, die der eigenen nicht unbedingt nahestehen, aber eine starke künstlerische Idee tragen. Das bringt oft sehr positive Überraschungen.

Bludenz gilt als schwieriger Standort mit geringem Publikumsinteresse. Was reizt Sie persönlich an dieser Herausforderung?

Mirela Ivičević: Immer, wenn Komponist:innen zu Kurator:innen werden, ist etwas Missionarisches dabei – es geht weniger um Karriere. Wir lieben einfach diese Art Musik und glauben fest daran, dass sie die Welt zumindest ein bisschen verbessern kann. Und je unvertrauter ein Ort mit dieser Musik ist, desto motivierter sind wir, sie dorthin zu bringen. Beim Kuratieren des Festivals für zeitgenössische Musik in meiner Heimatstadt Split habe ich erlebt, welche weitreichenden positiven Effekte das haben kann. Manche Kinder, die 2010 mit ihren Eltern zum ersten Mal solche Musik gehört haben, spielen sie heute selbst, veranstalten ähnliche Projekte oder sind ein sehr neugieriges Publikum geworden.

Mirela Ivicevic
Mirela Ivicevic © Rui Camilo I EvS Musikstiftung

„ALLE MENSCHEN SIND GLEICH VIEL WERT, UNABHÄNGIG VON HERKUNFT, HAUTFARBE UND GLAUBEN.“

Die Meisterklasse für junge Komponist:innen führen Sie weiter. Was kann so ein Format im besten Fall auslösen – bei den Teilnehmenden, aber auch beim Publikum?

Mirela Ivičević: Wie auch meine Vorgängerin Clara Iannotta immer betont hat: Es ist unglaublich wichtig, dass junge Komponist:innen einen Ort der Freiheit bekommen, an dem sie einerseits von hervorragenden professionellen Künstler:innen betreut werden, andererseits aber auch Raum zum Scheitern haben. Man soll hemmungslos experimentieren dürfen, und niemand nimmt es einem übel, wenn nicht alles so wird wie geplant. Wie eine Oase weit weg vom Perfektionismuswahn, an dem viele von uns leiden. Paradoxerweise entstehen dort oft die spannendsten Stücke: Komponist:innen trauen sich mehr – und das spürt auch das Publikum.

Mitte Oktober wurde bei den Donaueschinger Musiktagen Ihr neues Werk im Rahmen des EBU-Commissions-Projekts uraufgeführt. Was bedeutet es für Sie, in diesem großen, internationalen Netzwerk vertreten zu sein?

Mirela Ivičević: Es ist schön zu wissen, dass ein Stück ein längeres Leben haben und oft übertragen oder sogar wieder aufgeführt werden wird. Gerade bei Orchesterstücken ist das besonders wertvoll, weil sie das größte Publikum erreichen, und man möchte ja möglichst viele Menschen ansprechen.

Wenn ein Stück nicht nur auf einem Festival, sondern gleichzeitig via Rundfunk europaweit hörbar ist – verändert das Ihren Kompositionsprozess?

Mirela Ivičević: In diesem Fall habe ich gar nicht viel darüber nachgedacht. Das Stück verfolgt ein hauptsächlich klangliches Konzept, es gibt also wenig Visuelles, das in der Radioübertragung verloren gehen würde – abgesehen vom Spiel auf den Muscheln. Allerdings enthält es einige musikalische Referenzen, die nicht in allen Regionen Europas auf dieselbe Weise verstanden werden. Das finde ich aber spannend: zu erleben, wie der gleiche Klang in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich wahrgenommen wird.
Die Samples werden bei Menschen aus dem Raum Ex-Jugoslawiens sicher intensive, mit Nostalgie verbundene Gefühle auslösen; andere, die die Referenzen nicht kennen, werden sich wahrscheinlich eher auf den formalen Aufbau oder stilistische Aspekte konzentrieren. Man könnte natürlich argumentieren, es wäre sinnvoller, Musik zu komponieren, die überall gleich verstanden wird. Vielleicht – aber ich hatte ein sehr starkes Gefühl, dass die Botschaft dieses Stücks genau jetzt, sofort und in dieser Form hinausmusste. Ich gehe immer nach Gefühl und bisher habe ich mich damit nie verirrt.

In einem mica-Interview von 2019 nannten Sie Ihre Arbeiten „Sonic Fictions“. Würden Sie diesen Begriff heute noch verwenden oder hat sich Ihr Zugang inzwischen verschoben?

Mirela Ivičević: Dieser Begriff bezog sich auf meine Arbeit mit vorgefundenem Material – mit Realitätsfragmenten, die zu Protagonist:innen einer neuen Fiktion werden und aus dieser neuen Position heraus neue Blicke auf die Realität ermöglichen. Ein Kreislauf, ähnlich wie in der Filmkunst. Das trifft immer noch zu. Ich arbeite bewusst mit Referenzen, mit bedeutungsgeladenem Material. Diese werden zu Bausteinen einer imaginären Welt, die etwas über und von der realen Welt erzählen möchte – ein „Dialog“, der letztlich grundlegend für jede Kunst ist.

Auch 2019 sagten Sie, fast alle Ihre Ideen hätten etwas mit Tabubrüchen zu tun. Gibt es Tabus, die für Sie 2025 besonders dringlich geworden sind?

Mirela Ivičević: Eine schmerzvolle Frage. Ich habe kürzlich die Rede der wunderbaren Mara Kronenfeld, Präsidentin von UNRWA USA, bei einer UN-Konferenz gesehen. Sie sagte: „Meine Kinder sind halb jüdisch, halb muslimisch. Ich möchte gerne heute allen sagen: Das muslimische Blut meiner Kinder ist nicht anders oder besser als ihr jüdisches Blut – und ihr jüdisches Blut ist nicht anders oder besser als ihr muslimisches Blut.“ Das hat mich als ethnisch gemischte Person sehr berührt, aber auch unabhängig davon fand ich es unbeschreiblich schrecklich, dass unsere Welt, unsere sich so gerne als aufgeklärt und moralisch überhöht betrachtende westliche Welt, sich in einem Zustand befindet, in dem man immer noch – oder schon wieder – laut schreien muss: Alle Menschen sind gleich viel wert, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Glauben. Ich kann es kaum fassen, dass dieser Gedanke im Jahr 2025 für viele immer noch fast ein Tabu ist. Ein Tabu, das man dringend und endgültig brechen muss. Einen kleinen Beitrag in diese Richtung versucht auch „Red Thread Mermaid“ zu leisten.

Sie haben das Black Page Orchestra mitgegründet, kuratieren Festivals und komponieren – drei sehr unterschiedliche Rollen. Wie beeinflussen sich diese Tätigkeiten gegenseitig?

Mirela Ivičević: Beim Black Page Orchestra mache ich eigentlich nicht viel – außer, dass ich immer wieder Stücke komponiere, die sie gerne aufführen, weil unsere Poetiken so sehr im Einklang sind. Komponieren und Kuratieren ist eine sehr energetisierende Kombination: Durch den Kontakt mit der Musik anderer wird man selbst extrem inspiriert. Gleichzeitig ist es schön, bei der Vorbereitung von Festivals und Konzerten mehr mit Menschen in Kontakt zu sein – denn Komponieren ist, besonders bei großen Formen, oft eine einsame Arbeit.

In Bludenz wollen Sie auch lokale Musiker:innen einbeziehen. Was kann daraus entstehen, wenn internationale und lokale Szenen aufeinandertreffen?

Mirela Ivičević: Es geht weniger darum, was entsteht, sondern vielmehr darum, was sich auflöst – nämlich unsichtbare und völlig unnötige Grenzen. Zusammenzukommen ist immer gut für alle.

„OFT GENÜGEN EIN PAAR KLUG FORMULIERTE SÄTZE, UM MUSIK GANZ ANDERS WAHRNEHMEN UND BESSER VERSTEHEN ZU KÖNNEN“

Sie haben gesagt: „Konzerte, die ich kuratiere, sind Visionen einer Welt, die ich mir für uns alle wünsche.“ Was ist diese Vision?

Mirela Ivičević: Das gilt übrigens auch für meine Stücke. Es ist die Vision einer Welt, in der man nicht verzweifelt darum kämpfen muss, dass ein Kind – unabhängig von seiner Herkunft – als ebenso lebenswürdig betrachtet wird wie jedes andere. Eine Welt, in der wir lieber nach dem suchen, was uns verbindet, als nach dem, was uns trennt. Was John Lennon in „Imagine“ besungen hat, klingt sehr einfach – ist aber offenbar schwer umzusetzen. Ein Festival kann sicher nicht das Schicksal der Welt verändern, aber es kann eine kleine Oase der Vielfalt und Empathie schaffen, aus der positive Impulse in die Welt hinausgehen.

Zeitgenössische Musik kämpft oft mit dem Vorurteil, schwer zugänglich zu sein. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern – auf Seiten der Institutionen, aber auch beim Publikum?

Mirela Ivičević: Grundsätzlich wird sich nicht viel ändern, solange sich die Situation der primären Bildung nicht verbessert. Die tiefsten Gewohnheiten entstehen in der Kindheit.
Das sind systemische Veränderungen, die wir als Einzelne nicht von heute auf morgen unternehmen können. Aber als Kunst- und Kulturschaffende können wir diesen Tendenzen entgegenwirken, indem wir uns nicht von vornherein auf ein ohnehin bereits vertrautes Publikum beschränken, sondern Konzepte entwickeln, wie man auch „ferneres“ Publikum – vor allem das jüngere – ins Konzert bekommt und durch Rahmenprogramme auf die Aufführungen vorbereitet. Oft genügen ein paar klug formulierte Sätze, um Musik ganz anders wahrnehmen und besser verstehen zu können. Ich habe zu Hause eine Fünfeinhalbjährige, die meint, sie liebe Helmut Lachenmann. Es geht.

Wenn Sie auf die nächsten Jahre blicken: Wo würden Sie selbst gerne noch Risiken eingehen – künstlerisch wie auch kuratorisch?

Mirela Ivičević: Ich gehe immer gern raus aus den üblichen Konzertrahmen: ortsspezifische Projekte an ungewohnten Locations, das Aufbrechen traditioneller Rezeptionsformen. Meine persönliche Vorliebe ist alles, was mit Wasser zu tun hat, am liebsten mit dem Meer – das ist das Einzige, was mir in Wien fehlt. Einmal hat das Black Page Orchestra tatsächlich Mikrophonie I von Karlheinz Stockhausen auf einem auf Meerwasser schwimmenden Ponton in einem verlassenen U-Boot-Hafen auf der kroatischen Insel Vis aufgeführt. Strom und Wasser – das war buchstäblich ein Risiko. Aber das Ergebnis: Man springt ins leicht kühle, herbstliche Adriatische Meer und hört aus dem Wasser heraus die Magie der Neuen Musik. Davon werde ich nie genug bekommen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Ania Gleich

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Termin:

Black Page Orchestra
Donnerstag, 20. November 2025, 20:00 Uhr
Musikverein: Gläserner Saal
Kooperation Wien Modern

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Links:
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