Es ist nun mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass die permanente Verfügbarkeit und der ständige Fluss von Informationen und Eindrücken dazu führt, dass wir die Realität nur noch sehr oberflächlich und fragmentiert wahrnehmen. Zwischen To-do-Listen, Deadlines und Dauerverfügbarkeit bleibt kaum Raum, innezuhalten – geschweige denn, sich mit den eigenen Zielen oder Stärken zu verbinden. Wer im Dauerlauf durch den Alltag hetzt, läuft Gefahr, sich selbst aus dem Blick zu verlieren. Doch ein „sich ausnehmen“ aus dieser schnelllebigen digitalen Welt ist auch nicht die Lösung. Wir müssen also lernen damit umzugehen.
In einer Branche, in der Kunst, Beruf und privates kaum voneinander zu trennen sind, stoßen viele Musiker:innen schnell an ihre Grenzen – zwischen Kreativität, Selbstvermarktung, Social Media und ständigem Leistungsdruck. Genau hier setzt Barbara Steiner an: Als systemische Coachin begleitet sie Künstler:innen dabei, ihre Potenziale zu entfalten, Blockaden zu lösen und neue Perspektiven zu gewinnen. Im mica – music austria Interview spricht sie mit Dominik Beyer über ihren Coaching Ansatz, die Abgrenzung zur Therapie, wie man den eigenen Wert unabhängig von Klickzahlen bewahrt und weshalb gerade kleine Veränderungen oft die größte Wirkung haben.
Du bist systemische Coachin – aber keine Therapeutin. Kannst du erklären, wo da die Grenze verläuft?
Barbara Steiner: Therapie richtet sich an Menschen in akuten seelischen Krisen – etwa bei einer Depression oder Burnout. Da geht es um Heilung und Stabilisierung. Coaching hingegen begleitet – aber heilt nicht. Da gibt es eine klare Grenze. Coaching eignet sich aber sehr gut, um einem Burnout vorzubeugen, um Blockaden zu lösen oder Potenziale zu entwickeln.
Du hast davor auch selbst in der Musikbranche gearbeitet, richtig?
Barbara Steiner: Ja, ich war einige Jahre bei Ink Music, Labelmanagement und PR – habe mit Künstler:innen wie Clara Luzia, Bilderbuch oder Ezra Furman gearbeitet, danach beim mica – music austria und im Musikexport. Ich habe diese Jobs geliebt und gelebt. Musik war immer mein Umfeld. Am meisten Freude hatte ich daran, Künstler:innen über ihre Visionen und Ziele reden zu hören – ebenso Checklisten, Timetables und Marketingpläne zu erstellen. Irgendwann kam der Wunsch nach Veränderung, nach einer neuen Rolle: Weniger Fachwissen, mehr Zuhören. Ich mag die Haltung: Nicht ich bin die Expertin, sondern mein Gegenüber.
Klingt, als ob du sehr bewusst den Perspektivenwechsel gesucht hast. Was unterscheidet systemisches Coaching von anderen Ansätzen?

Barbara Steiner: Es sind andere Themen und im Kern auch die Haltung: Man betrachtet den Menschen immer in seinem Kontext: seine Erfahrungen, Werte, Beziehungen. Eine Grundlage dafür ist der Konstruktivismus – die erkenntnistheoretische Annahme, dass wir die Welt nicht „objektiv“ erleben, sondern subjektiv deuten. Deshalb kann dieselbe Situation – etwa ein Auftritt – für die eine Person lähmendes Lampenfieber bedeuten, für die andere pure Freude.
Differenzierung spielt auch eine wichtige Rolle. Statt „ich bin nervös“ als gegeben hinzunehmen, geht es darum, Unterschiede wahrzunehmen und mit diesen zu arbeiten: In welchen Situationen ist das Lampenfieber stärker und wann ist es schwächer?
Im Prinzip ist Coaching ein bewusster Ausstieg aus dem Hamsterrad, ein Boxenstopp zum Auftanken, Innehalten und Reflektieren.
Musiker:innen hadern oft mit ihrer Positionierung – „Es gibt doch schon alles“. Begegnet dir das häufig?
Barbara Steiner: Immer wieder. Zentral beim Coaching ist meistens „was will ich?“ statt „was soll ich?“ Es geht um Fragen wie: Wo gehöre ich hin, was motiviert mich überhaupt, Musik zu machen? Den Fokus finden. Die permanente Ablenkung durch Informationen und Eindrücke lenkt davon ab, auf unsere Stärken zu fokussieren oder auch auf das, was wir bereits alles erreicht und geschafft haben. Hartmut Rosa spricht vom „rasenden Stillstand“: Wir arbeiten schneller, füllen die gewonnene Zeit aber sofort mit noch mehr. Viele haben To-do-Listen, die nie enden. Früher gab es Zyklen wie Saat und Ernte. Es gab natürliche Pausen. Heute ist alles 24/7. Viele Aufgaben laufen oft parallel und werden oft nicht zu Ende geführt. Das erzeugt dann dieses Ohnmachtsgefühl von permanenter Arbeit und ausbleibenden Erfolgserlebnissen. Manchmal gibt es die Erfolge, aber wir genießen sie gar nicht, sondern klemmen uns gleich wieder hinter die to-do Liste. Gerade für Kreative ist das schwierig, weil Berufliches und Privates oft verschwimmen.
Vor allem in den sozialen Medien.
Barbara Steiner: Genau. Viele hängen ihr Selbstwertgefühl an Likes oder Reichweite. Da geht es oft darum, gesunde Abgrenzungen zu schaffen. Meine Musik ist mein Angebot an die Welt – aber meine Identität bleibt bei mir.
„Erkennt man Ressourcen, die vielleicht nur verschüttet sind.”
Das klingt einfach. Wie funktioniert die Umsetzung?
Barabara Steiner: Im Coaching darf das alles Platz haben: Konkurrenz, Neid, Selbstzweifel. Das sind menschliche Gefühle. Wenn sie ausgesprochen werden, entsteht oft wieder Kraft. Danach schauen wir gemeinsam: Was hat schon funktioniert? Was hat beim dritten Album besser geklappt als beim vierten? So erkennt man Ressourcen, die vielleicht nur verschüttet sind.
Bezogen auf die sozialen Medien lautet die Frage oft: „Warum glaube ich, dass ich mehr posten muss?“ Vielleicht steckt der Wunsch nach Sichtbarkeit dahinter, vielleicht aber auch der Wert Integrität. Dann gilt es zu schauen: Wie kann ich präsent sein, ohne mich zu verlieren? Manchmal hilft schon ein Postingplan, die Trennung von strategischer und operativer Arbeit, manchmal eine Kunstfigur, manchmal das Auslagern an andere.
„Erfahrene Menschen, die man fragen kann, die den Musikmarkt durch und durch kennen, die wissen wie er tickt, sind enorm wichtig.”
Die Branche selbst hat sich aber schon auch positiv entwickelt. Es gibt sicher doppelt so viele Bands aus Österreich, die große Hallen in AT und DE füllen, als noch vor 10 Jahren.
Barbara Steiner: Ja, das ist sehr positiv! Konzerte haben an Bedeutung gewonnen, das Publikum ist größer. Trotzdem ist es ökonomisch hart: Ticketpreise steigen, Konzerte werden abgesagt, wenn der Vorverkauf nicht stimmt. Wir haben es mit einer schier unfassbaren Menge an verfügbaren Musikinhalten im Internet zu tun, was es besonders schwer macht, aus der Masse hervorzutreten und Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Der freie Zugang zum Musikmarkt vermittelt vielen die Vorstellung, dass Musiker:innen ihren Erfolg eigenständig gestalten können. Aber der freie Zugang allein reicht nicht aus, um erfolgreich zu sein. Wir haben ein neues Engpasssystem: „Aufmerksamkeit“ – diese ist Ressource und Ware zugleich: Jeder will sie, jeder rackert sich dafür ab und jedem kann sie wieder entgleiten. Das kann enormen Druck erzeugen.
Ich glaube, dass in dieser Zeit die Rolle von Labels, Verlagen, Manager:innen, Fachreferent:innen – wie etwa hier im mica – etc., besonders wichtig ist. Erfahrene Menschen, die man fragen kann, die den Musikmarkt durch und durch kennen, die wissen, wie er tickt, sind enorm wichtig. Sie haben jahrelang bedeutende Netzwerke und Partnerschaften aufgebaut, wissen um die Komplexität, kennen Chancen und Sackgassen.
Ich beobachte auch Karrieren, die für 1-2 Jahre ganz gut laufen und kurz vorm Durchbruch sind. Dann hört man nichts mehr von ihnen, weil sie sich vielleicht eine Pause gönnen oder eben auch schon ausgebrannt sind. Kurze Zeit später erinnert man sich auch gar nicht mehr an sie. Es kommt einfach so viel Neues nach. Es ist also nicht nur unsere Wahrnehmung einer gestressten Zeit, sondern es ist schon auch ein wirklich hartes Geschäft. Etabliert sind eben oft die Bands, die ein Album veröffentlichen, danach eine große Tour spielen und Festivals im Sommer und am Ende der Saison bereits mit einem neuen Album in den Startlöchern stehen.
Barbara Steiner: Ich stimme dir zu. Wir leben definitiv in gestressten Zeiten und das Musik Business ist ein hartes Geschäft. Beides zusammen erhöht das Risiko von Überforderung und chronischem Stress. Was helfen kann, ist zum einen, ein bewusster Umgang mit den eigenen Zielen & Bedürfnissen und diese auch immer wieder zu reflektieren. „Was ist mein Ziel? Warum? Wie komm ich dort hin? Wer kann mir dabei helfen? Was bin ich bereit für diesen Beruf in Kauf zu nehmen? Für wie lange? Wo liegen meine persönlichen Grenzen? Was sind meine Alternativen, wie will ich leben?“ Zum anderen ist regelmäßiger Medien Detox eine mögliche Vorsorge. Handy aus, Laptop zu, tschüss Social Media. Am besten mehrere Stunden am Stück. Es gab auch vor kurzem eine tolle Dok1 zu dem Thema: Handyentzug – das Experiment. Und natürlich Natur, Bewegung, gut essen, ausreichend Schlaf, Beziehungen. Auf unsere menschlichen Grundbedürfnisse achten. Das ist nichts Neues, aber oft fällt uns die Umsetzung so wahnsinnig schwer.
„Wenn man versteht um welchen Wert es dem jeweils anderen geht, fällt es auch leichter, seine Haltung zu verstehen.”
Und wie gehst du methodisch vor?
Barbara Steiner: In den Coachings? Das ist immer unterschiedlich. Bei Konflikten verwende ich gerne Modelle wie das Wertequadrat von Schulz von Thun. Sagen wir, ein Label, mit 2 Betreibern, die sich über ihre Investitionen uneinig sind. Der eine ist „sparsam“, der andere „großzügig“. Schnell wirkt der eine „knausrig“ und der andere „verschwenderisch“, wenn sie über geplante Ausgaben diskutieren. Aber eigentlich stehen dahinter Werte, die beide schützen wollen. Wenn man versteht, um welchen Wert es dem jeweils anderen geht, fällt es auch leichter, seine Haltung zu verstehen.
Kommt bei deiner Arbeit auch der Körper ins Spiel?
Barbara Steiner: Manchmal, ja. Vor allem in der Ressourcenarbeit: Wo spüre ich Druck, wie zeigt sich eine Blockade? Auch der Unterschied zwischen „gesundem“ Dopamin – etwa nach Sport – und den schnellen Social-Media-Kicks ist Thema.
Wie viele Sitzungen braucht es im Schnitt?
Barbara Steiner: Sehr unterschiedlich. Manche merken nach ein, zwei Sessions: „Eigentlich passt eh alles.“ Wenn es um ein konkretes Thema geht, sind es im Schnitt ca. drei bis sechs Einheiten. Andere nutzen Coaching als kontinuierliches Sparring, kommen regelmäßig, aber in größeren Abständen – das sind vor allem Menschen in Leitungspositionen, die Führungsaufgaben oder Strategien laut durchdenken wollen.
„Es sind oft die kleinen Schritte. Jemand kommt erschöpft, blockiert, und geht wieder gestärkt, motiviert hinaus.”
Hast du ein Beispiel für Veränderungen, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?
Barbara Steiner: Es sind oft die kleinen Schritte. Jemand kommt erschöpft, blockiert und geht wieder gestärkt, motiviert hinaus. Das können plötzliche Aha-Erlebnis sein, das Aufdröseln und Begreifen von Zusammenhängen, Erleichterung, Erkenntnisgewinn, ein klarer Plan oder das Gefühl von Ordnung im Chaos.
Und zum Schluss noch eine Frage. Siehst du KI im Coaching als Fluch oder Chance?
Barbara Steiner: Beides. Klar, manchmal gibt es brauchbare Denkanstöße. Aber wer übernimmt die ethische Verantwortung für die Inhalte? Außerdem ersetzt KI nicht den Prozess, in dem man selbst zur Lösung kommt. Nachhaltige Veränderung entsteht nur, wenn man spürt: Diese Antwort kam aus mir.
Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Dominik Beyer
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Barbara Steiner ist im Coaching Pool der Wirtschaftsagentur Wien für Gründer:innen. Im Rahmen dessen bietet die WA ein vierstündiges kostenloses Coaching an. Die Coachings sind für Leute, die entweder noch nicht selbstständig sind, oder noch nicht länger als 5 Jahre selbstständig sind:
https://wirtschaftsagentur.at/kostenlose-beratungen-fuer-gruenderinnen-und-unternehmerinnen/gruendungscoaching-beratung-bei-der-gruendung/
