„WIR MÜSSEN DEN FREE SPACE PRESERVEN“ – HVOB IM MICA-INTERVIEW

Mit „Too“ veröffentlichen HVOB ihr viertes Studioalbum – und es wird laut. Die Technospezis um ANNA MÜLLER und PAUL WALLNER verlegen vom ersten Moment Kickdrums, die für eine FM4-taugliche Nachmittagsekstase im Großraumbüro taugen. Die Zeichen stehen schließlich nicht umsonst auf Rave im kontrollierten Rahmen der eigenen Fragilität. Deshalb sei „Too“ auch „die härteste und verletzlichste Platte“ geworden, man kann es sich denken. Wieso man den Eltern immer zuhören sollte und sich alles wiederholt; was Songs von Blümchen mit dem eigenen Sound zu tun haben und warum man niemals seine Idole treffen sollte, haben MÜLLER und WALLNER im Gespräch mit Christoph Benkeser erklärt.

Das Album beginnt mit einem Stück, auf der eine harte Techno-Kick durchmarschiert, als müsste zuerst etwas Altes zerstört werden, bevor Neues entstehen kann.

Paul Wallner: Altes niederzureißen war von uns zumindest nicht geplant. Wir wollten Altes mit Neuem verbinden. „Bruise“, die erste Nummer, entstand spontan, ohne große Gedankenspielerei. Am Anfang stand die Kick, die für uns beide frisch klang. Wir wussten, dass wir daraus etwas machen wollen.

Anna Müller: Es ist die erste Nummer am Album, aber die letzte, die wir produziert haben. Wir haben den lieblicheren HVOB-Sound mit der härtesten Kick der Platte verbunden. Vor dem Release der Single war ich aufgeregt, weil ich gewusst habe, dass es sich von dem Sound unterscheidet, mit dem man uns verbindet. Die Leute haben den Song aber positiv aufgenommen. Der Tenor war: Das ist HVOB – aber irgendwie anders. Das hat mich erleichtert. Das Bauchweh war weg.

Bauchweh kann auch ein gutes Zeichen sein.

Paul Wallner: Natürlich, gleichzeitig ist es auch – und das merkt man hoffentlich, wenn man sich durch unsere bisherige Diskographie hört – ein Schritt. Nicht unbedingt nach vorne, aber zumindest zur Seite. Wir wollen die Wiederholung zwar nicht bewusst vermeiden, aber es wär fad, andauernd dasselbe zu produzieren. Deshalb suchen wir uns Dinge, die wir anders machen. Wer weiß, vielleicht wird es auf der kommenden Platte noch schneller?

Das entspräche dem Zeitgeist – alle wollen raven!

Anna Müller: Wir bekommen schon mit, was um uns herum passiert. Das sind Sounds, die ich gerade spannend finde, deshalb schlägt sich das auf unseren Sound nieder.

Trotzdem hast du gerade das »Liebliche« in eurem Sound erwähnt. Das finde ich spannend, weil es durch einen neuen Sound überschrieben wird.

Anna Müller: Wir haben es nicht verloren. Das Liebliche, das bin auch irgendwie ich – allein schon wegen meiner Stimme. Wir haben es nur anders verpackt.

Über das »Liebliche« in eurem Sound habe ich mich zuletzt mit dem Journalisten Stefan Niederwieser unterhalten. Versteckt sich darin nicht eine tradierte Geschlechterzuschreibung?

Paul Wallner: Nein, gar nicht. Ich bin zwischen uns oft der, der den Sound lieblicher oder weicher machen will, während Anna es noch garstiger haben möchte. Deshalb gibt es bei uns keine Rollenzuschreibung.

Anna Müller: Mit dem Lieblichen meine ich bewusst meine Stimme – auch weil Paul nicht singt.

Paul Wallner: Noch nicht!

Wollen wir nichts ankündigen, was nicht kommen muss!

Paul Wallner: Aktuell kann ich es ausschließen – die Welt hat genügend Probleme!

Lass uns deshalb noch ein wenig über die Wechselwirkung zwischen der Härte des Sounds und der Verletzlichkeit der Message sprechen.

Paul Wallner: Wobei wir das doch immer schon kombiniert haben, nicht? Das fängt bei „Trialog“ an und zieht sich durch, wir haben die beiden Pole nur weiter auseinandergetrieben. Trotzdem fügen sie sich zusammen.

Anna Müller: Deshalb ist „Too“ unser härtestes und weichstes Album. Wir haben zwei Extreme herausgearbeitet, die sich aufeinander beziehen. Das geschah nicht bewusst. Es ist einfach passiert.

Paul Wallner: Gerade bei „Bruise“ lässt sich das gut erkennen. Es ist gleichzeitig die härteste und die melodischste Nummer. Das passt zusammen. Nur Melodie wäre uns zu platt. Je härter die Nummer, desto melodischer darf es sein.

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Kann sich das Verspielte hinter der Fassade harter Tracks verstecken?

Anna Müller: Würde ich nicht sagen. Ich habe keine Angst vor Pop, Melodie und Verletzlichkeit in der Musik. Deshalb habe ich auch nicht das Gefühl, dass wir in unserer Musik etwas verstecken müssen, im Gegenteil: Wir müssen zu 100 Prozent dahinterstehen können.

Paul Wallner: Und bei „Bruise“ musste es eben brettern!

Anna Müller: Gleichzeitig gefällt mir dieses trancige Element. Die Melodie öffnet den Song.

Etwas, was man zuletzt im Techno-Bereich wahrnehmen kann. Die Angst vor der Melodie ist weg.

Anna Müller: Das ist spannend, weil es ein wenig an den Sound meiner Kindheit erinnert. Mit zehn hatte ich Blümchen und Die Schlümpfe, das ging total in eine Happy-Rave-Richtung – und war 20 Jahre lang wirklich uncool. Jetzt kommt dieser Sound wieder, er wiederholt sich.

Wir bewegen uns im Loop!

Anna Müller: Wir kommen in ein Alter, in dem man merkt, dass Dinge wiederkommen. Wenn meine Eltern damals meinten, dass die Dinge aus den 60ern und 70ern wiederkämen, konnte ich das nicht nachvollziehen. Mittlerweile merke ich, dass sich manche Dinge tatsächlich wiederholen – aber das liegt wohl auch am Älterwerden.

Gibt es einen Ausweg aus der Schleife oder muss man es embracen?

Anna Müller: Diese Rave-Musik gefiel mir schon mit zehn. Deshalb finde ich sie schön, weil sich etwas aus meiner Kindheit wiederholt. Ich merke, dass Menschen, die 15 Jahre jünger sind als wir, diese Musik hören – und voll dazu stehen. Das ist lustig, aber vor allem befreiend! Schließlich realisiert man dadurch, dass Musik oft in Gedankenkäfigen steckt. Nach dem Motto: Nur weil etwas gerade als uncool gilt, darf man es nicht hören. Dabei kommt es 20 Jahre später wieder und wird gefeiert. Daran erkennt man, wie meinungsbildend Musik ist. Weißt du, was ich meine?

Sie bildet gesellschaftliche Muster ab, ja.

Anna Müller: Genau! Sie steckt zu oft in Zwängen oder Meinungen, bei denen es nicht darum geht, ob es einem gefällt oder nicht, sondern ob es gesellschaftlich akzeptiert ist. Deshalb will ich an alle Menschen appellieren, das zu hören, was gefällt – und nicht, was in einer Gruppe von Menschen akzeptiert wird.

Der Prozess, wie sich zuvor Nicht-Akzeptiertes in etwas wandelt, das plötzlich wieder akzeptiert wird, ist spannend. Man merkt, dass nichts fix ist und alles im Wandel ist.

Paul Wallner: Ist es nicht immer so im Leben? Der Mensch lebt von seinen Erfahrungen und entwickelt Neues anhand der Erfahrungen, die er macht. Das lässt sich genauso auf Musikstile umlegen. Es entsteht nicht einfach Neues, es ist ein Prozess, der ein Davor kennt. Was heute fresh ist, ist eine Kombination aus bestehenden Stilen, die sich neu anordnen. Deshalb ist es schön, wenn man das Bestehende zitiert, aber anders zusammenfügt. Würde man eine Trance-Platte machen, so wie sie damals produziert wurde, wäre das heute wohl auch nicht akzeptiert …

Na ja, wobei …

Paul Wallner: Ja, eh! Ich kann mich mit allen Musikstilen anfreunden, auch im Trance gibt es gute Nummern! Deshalb darf man das auch zitieren, wenn man es in eigenes Gewand packt.

Da schwingt eine positive Nostalgie mit, oder?

Anna Müller: Ja, unbedingt. Das darf auch sein.

Wir reden die ganze Zeit über „Bruise“, ich möchte trotzdem noch eine Frage stellen, weil mir eine Textzeile nahe ging und sie ein Gefühl vermittelt, dass sicher vielen Menschen bekannt ist: „It‘s the hardest thing to choose, what to keep and what to lose.“ Was begleitet diese Entscheidung?

Anna Müller: Es spiegelte eine Situation wider, die man nicht ändern will, obwohl man weiß, dass man sie ändern muss, weil es anders nicht weitergehen kann. Diese Entscheidung hat viel mit Schmerz zu tun – und wie viel Schmerz man aushalten kann oder ertragen möchte. Darin können sich viele wiedererkennen, auch wenn ich nur über meine Erfahrungen spreche.

Man kanalisiert den Schmerz und führt die Entscheidung über in einen hedonistisch anmutenden Sound.

Anna Müller: So habe ich es noch nicht gesehen, aber das Bild ist stimmig. Der harte Beat treibt die Entscheidung an. Es ist das sture Durchziehen, das – gleich wie im Beat – schmerzvoll sein kann.

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Gleichzeitig spielen viele Texte der Platte einen Selbstzweifel an, der sich für mich besonders auf „Gluttony“ zeigt: „Only with a hole in my body I feel alive.“ Du durchdringst dich und gehst dadurch aus dir heraus.

Anna Müller: So höre ich es zum ersten Mal. Das ist spannend, weil ich merke, dass viele Menschen verschiedene Ansichten in die Texte einbringen.

Paul Wallner: Es gibt es nicht die eine Wahrheit hinter einem Track. Sie liegt vielmehr in einem selbst. In dem Moment, in dem ich einen Song höre, ist er meine Gedankenwelt. Deshalb brauche ich keine Erklärung – ich will sie gar nicht wissen!

Das fasst es gut zusammen, deshalb reden wir …

Paul Wallner: Das ist wie in der Kunstausstellung: Nicht die Beipackzettel lesen, sondern das Bild auf sich wirken lassen. Schließlich soll es etwas auslösen. Das funktioniert nicht, wenn es mir jemand erklärt.

Trotzdem wollen viele Leute eine Erklärung.

Anna Müller: Diesen Ansatz habe ich nie verstanden. Musik ist Hören und das Auslösen eines Gefühls – wie wirkt also das Ganze auf mich?

Paul Wallner: Man kennt das von Liedern, bei denen man den Text nicht versteht, deshalb einen eigenen hineininterpretiert und dadurch eine ganz andere Meinung dazu entwickelt. Das ist schön, weil es zeigt, was es sein sollte: Man muss sich ein eigenes Bild machen.

„PLÖTZLICH ERINNERT MAN SICH WIEDER, WIE MAN SICH MIT 23 GEFÜHLT HAT.“

Schließlich bringt jede Person ihren eigenen Wissens- und Erfahrungshorizont mit.

Paul Wallner: Deshalb bezieht es jede einzelne Person auf etwas anderes. Teilweise existieren Lieder, die ich mir kaum anhören kann, weil ich sie mit bestimmten Gefühlen verbinde, die mich unendlich traurig machen. Trotzdem ist es mein eigenes Verhältnis zum Song und vermutlich nicht das, was sich der*diejenige dachte, als er*sie den Song schrieb.

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Es ist gut, dass man weiß, dass diese Songs für einen existieren – sie sind Go-to-Places, um Gefühle hervorzurufen.

Paul Wallner: Stimmt. Ich habe ein Arsenal an Songs, die mich in diverse Stimmungen versetzen.

Anna Müller: Oder in bestimmte Lebensphasen! Plötzlich erinnert man sich wieder, wie man sich mit 23 gefühlt hat. Das ist das Magische in der Musik, dass man sein eigenes Gefühl hineinlegen muss, damit sie etwas auslöst.

Paul Wallner: Und bei jedem ist es anders!

Genau!

Paul Wallner: Na ja, vielleicht gibt es sogar eine Meinung, die man als Interpret*in im Song vertreten will – schlussendlich kommt sie aber sowieso nicht an. Zumindest denke ich mir das, wenn ich meine Rolle als Zuhörer reflektiere. Man müsste alle Interviews des*der Künstler*in lesen, um zu verstehen, was gemeint ist. Das würde wohl viel zerstören und ist ein bisschen so, als träfe man sein Idol, um zu merken, dass die Person ganz anders ist, als man sie sich vorgestellt hat.

Man zerstört seine eigene Illusion und kann die Songs nie mehr hören.

Paul Wallner: Ich hatte das mit Jugendhelden, von denen ich maßlos enttäuscht war, nachdem ich sie traf. Auf der anderen Seite gibt es Künstler*innen, von denen ich die Musik nicht mochte, die mich aber durch ihre Freundlichkeit überzeugt haben.

Wie du sagst: Bei jedem ist es anders.

Paul Wallner: Deshalb ist es auch so schwierig, darüber zu sprechen. Schlussendlich muss man diesen Free Space einfach preserven, weil ihn alle für sich nutzen können.

Wir müssen den Free Space preserven, gleichzeitig aber schauen, was passiert.

Anna Müller: Das sind schöne Worte. HVOB – wir schauen erstmal, was passiert.

Die ehrliche Herangehensweise!

Anna Müller: Voll! Wir können nur unser Bestes geben. Was damit passiert, können wir nicht beeinflussen.

Paul Wallner: Dabei ist es gerade im Musikmachen wichtig, einen Free Space zu haben, oder? Dass man eben nicht darüber nachdenkt, was die Leute davon halten. Ansonsten würde es sofort zu einer Blockade führen …

Anna Müller: Das ist das Schöne an unserer Zusammenarbeit.

Paul Wallner: Dass wir diesen Gedanken, ob etwas ankommt oder nicht, gar nicht aufkommen lassen, ja!

Und wie bewahrt man sich diesen Free Space? Er passiert ja nicht einfach so, oder?

Paul Wallner: Das ist eine schwierige Frage, über die ich lange nachdenken müsste, um eine fundierte Antwort geben zu können. Wahrscheinlich ist der Free Space das Ergebnis eines Prozesses, der über Jahre andauert. Gleichzeitig lässt sich das nicht so einfach runterbrechen. Wie gesagt: Es ist immer anders!

So soll es sein! Vielen Dank für eure Zeit!

Christoph Benkeser

“TOO” erscheint am 8. April 2022 auf [PIAS].

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