Das Ensemble Plus und den Komponisten Gerald Futscher verbinden eine langjährige Freundschaft. Als Martha Kneringer und Andreas Ticozzi Ende der 1990er Jahre das mittlerweile traditionsreiche Ensemble für neue Musik gründeten, erhielt Gerald Futscher den ersten Kompositionsauftrag. In den vergangenen Jahrzehnten wurden zahlreiche Werke des in Götzis lebenden Komponisten erstmals präsentiert. Seit Guy Speyers die Ensembleleitung übernommen hat, intensivierten sich der künstlerische Austausch und das gegenseitige Verständnis. Für Gerald Futscher ist dies ein Glücksfall, denn anderweitige Aufträge für neue Kompositionen oder Aufführungsmöglichkeiten sind selten.
Mehrere Bedeutungsebenen
Guy Speyers schätzt an Gerald Futscher und seiner Musik vier künstlerische Qualitäten: Ehrlichkeit, weil er stets seiner individuellen Stilrichtung treu bleibt und die „konservative Komplexität“ seiner meistens kontrapunktisch angelegten Werke. Kreative Elemente erzeugen stets eine besondere Atmosphäre und er handelt immer mit einer konkreten Absicht, fasst Guy Speyers zusammen: „Jeder Ton, jeder Klang, jede Aktion hat eine Bedeutung.“
Michaela Girardi, Anita Martinek, Guy Speyers und Jessica Kuhn bringen nun das zweite Streichquartett von Gerald Futscher zur Uraufführung. Darin sind zahlreiche Stilmerkmale seiner originellen Kompositionstechnik zusammengefasst. Die ausführenden Musiker:innen sind auf vielfältige Weise gefordert. Nicht nur die vier Streichinstrumente werden zum Klingen gebracht. Gerald Futscher schreibt auch Eier, ein Aquarium, Luftballonmundstücke, Schrottgeigen und weitere Utensilien und Spielgeräte für den musikalischen Einsatz vor.
Den außergewöhnlichen Spielanweisungen begegnen die Ensemblemitglieder mit Neugier und künstlerischer Offenheit: „Ich glaube, dass jede Aktion eine eigene Bedeutung hat. Ob wir etwas nach oben, unten, nach links oder rechts bewegen, für Gerald hat das alles eine Bedeutung, und vor allem bringt jede Bewegung eine andere Klangfarbe mit sich. Man darf nicht vergessen, es geht stets um Klänge, die produziert werden. Oft spielen Aktionen, die diese Klänge hervorbringen, eine Rolle“, erklärt Guy Speyers.
Schrottinstrumente im Einsatz
Beim Komponieren gerate er manchmal an Grenzen, wie er seine Klangvorstellungen realisieren könne, erzählt Gerald Futscher. Sämtliche instrumental erzeugten Schallereignisse und auch Lautäußerungen der Musiker:innen dienen der Erweiterung des Klangspektrums. Um die wertvollen Instrumente zu schonen, greifen die Musiker:innen gelegentlich auf ausrangierte oder billig produzierte Instrumentenmassenware zurück. Als zusätzliche Erweiterung der instrumental erzeugten Kratz- und Knarzgeräusche nutzt Gerald Futscher auch die Stimme. „Dafür notiere ich, wie die Musiker:innen zum Beispiel die Zunge formen sollen, damit sie den Geräuschen, die sie am Instrument erzeugen, möglichst nahekommen.“
Schon öfter sah sich Gerald Futscher mit dem Vorwurf konfrontiert, lediglich oberflächlich und effektorientiert zu agieren, wenn in seinen Werken etwa Instrumente zersägt oder in Aquarien versenkt, rohe Eier in eine Trompete eingeführt werden und das Eiweiß ins Wasser geblasen wird oder Quietschgeräusche aus breit gezogenen Luftballonmundstücken als musikalisches Material dient. Doch Aktionismus verstehe er keineswegs als Vorwurf, erwidert Gerald Futscher.
Der Wiener Aktionismus der 1960er Jahre sei eine der wichtigsten Kunstformen des 20. Jahrhunderts. Bei näherer Betrachtung bestehen klare Verbindungslinien zu dieser Bewegung. Gerald Futscher will mit optischen Elementen die Aufmerksamkeit bündeln, die Intensität des Ausdrucks steigern und Querverweise aufzeigen.
Fasziniert vom französischen Surrealismus und darüber hinaus
Seit jeher beeinflusst die Philosophie des französischen Surrealismus Gerald Futschers künstlerisches Schaffen. In dieser künstlerisch-philosophischen Denkrichtung finden sich zahlreiche Hinweise auf die Symbolik, die Gerald Futscher in seine Kompositionen integriert.
Michel Leiris und Luis Buñuel bestimmen Gerald Futschers Denkweise wesentlich. Offensichtlich wird dies unter anderem im Hinblick auf Buñuels Filme „L’Âge d’or“ (Das goldene Zeitalter) oder „Le Fantôme de la liberté“ (Das Gespenst der Freiheit). Darin wird beispielsweise eine Geige über den Gehsteig gezogen, als wäre sie ein Spielzeug.
Der Umgang mit „heiligen Kulturgütern“ habe ihn schon als Jugendlichen tief beeindruckt, erzählt Gerald Futscher: „Dieser freche, unverschämte Umgang damit. Was mich antreibt, ist der Anspruch, von der ‚Heiligkeit‘ der Kultur wegzukommen und die Kunst ins Leben und die Alltagswelt hineinzuholen.“
Mit den Schriften zur Ökonomie des französischen Philosophen und Schriftstellers Georges Bataille hat sich Gerald Futscher während seines Studiums beschäftigt. Dessen Theorie der Verschwendung lässt sich auch auf Gerald Futschers Musik übertragen, beispielsweise, wenn der Klang als Erfahrung des Exzesses und der Grenzüberschreitung eingesetzt wird.
George Battailes Novelle „Die Geschichte des Auges“ wurde in der Philosophie sowie in der Psychoanalyse viel diskutiert und zunächst auch als pornografische Erzählung skandalisiert. Als Gerald Futscher das Buch in seiner Jugend las, war er begeistert. Symbolträchtig und in unterschiedlichsten Zusammenhängen stehen darin das Ei und auch Wasser als vielschichtige Synonyme für die Sexualität und Entgrenzung sowie zahlreiche andere Bedeutungen.
Die musikalische Tradition fortschreiben
Neben all den außermusikalischen Bedeutungsebenen basiert Gerald Futschers Musik auf einer strengen Kontrapunktik. Präzise arbeitet er das musikalische Ausgangsmaterial aus. Er legt sich konkrete „Reihen“ als Ausgangsmaterialien zurecht, die im Rahmen des kompositorischen Arbeitsprozesses entfaltet werden. Im zweiten Streichquartett ist diese Vorgangsweise nicht von vornherein klar. Die Ausgangsmaterialien sind nämlich nicht auf Tonhöhen fixiert, sondern in Gesten. Die Musiker:innen führen sie aus und produzieren damit unterschiedlichste Geräusche, Klänge und Vokalisen. „Es geht hier nicht um Tonhöhen und Tondauern, sondern um kleine Bewegungen oder Klangfarben und erweiterte Bogentechniken. All diese Spielfiguren und Aktionen mit dem Bogen betrachte ich als Ton, mit denen ich weiterarbeite“, erklärt der Komponist.
Zeitwahrnehmung aufheben
Ein bedeutendes kompositorisches Stilmittel setzt Gerald Futscher ein, um die Zeitwahrnehmung zu beeinflussen. Traditionell wird die musikalische Zeit durch das Metrum und den Takt in kleine Einheiten unterteilt und strukturiert. Hebt man diese Teilung auf, entsteht ein musikalisches Kontinuum. Bereits in seinem Streichsextett „die walrus“ setzte Gerald Futscher dieses Prinzip ein, um damit auf die objektive Zeitwahrnehmung und das subjektive Zeitempfinden anzuspielen. Auf diese Weise wird die Musik in ein Naheverhältnis zur Sprache gestellt.
Auf einer weiteren Ebene beschreibt dies auch Gerald Futschers künstlerisches Schaffen. Schon vor Jahren beschrieb er sein Komponieren als zeitvergessenes Eintreten in eine andere Welt. „Mir macht das Spaß, ich habe da etwas, um einzutauchen, wo die banalen Dinge einfach weg sind.“
Silvia Thurner
Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft im Juli 2025 erschienen.
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Termine:
Ensemble Plus: Tanz der Kakerlaken
Freitag, 4. Juli 2025
vorarlberg musem
Kornmarktplatz 1
6900 Bregenz
Samstag, 5. Juli 2025
Fabrik Klarenbrunn
Klarenbrunnstrasse 46
6700 Bludenz
Programm:
Du Yun – A Cockroach’s Tarantella (ÖEA)
Gerald Futscher – Streichquartett no. 2 (UA)
Besetzung:
Bettina Barnay-Walser, Sprecherin
Michaela Girardi, Violine
Anita Martinek, Violine
Guy Speyers, Viola
Jessica Kuhn, Violoncello
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