„So gut wie jede Nacht beim Einschlafen erfindet mein Gehirn die perfekte Musik.“ – mica-Interview mit Dino Spiluttini

Mit seiner neuen EP „Rave Brutalism“ (Tortured Anthems) erweist sich der aus Hallein bei Salzburg stammende Electronic-Musiker Dino Spiluttini erneut als versierter Analytiker des Rave der 1990er-Jahre und der dazugehörigen Dance Music – ohne dabei jedoch in Nostalgie zu verfallen. Stattdessen zerlegt der selbsternannte „Emo Boy“ harsche Electronica und das Genre Rave in seine Bestandteile, um zu untersuchen, was sich jenseits typischer Klischees noch herausholen und realisieren lässt. Herausgekommen ist dabei eine Musik, die mit ihrem radikalen Minimalismus erneut die Frage aufwirft, inwieweit Melancholie auch eine (ästhetisch-politische) Form von Widerstand sein kann. Für mica hat sich Didi Neidhart mit Dino Spiluttini zum Interview getroffen.

Im Promozettel ist von „Rave Brutalism“ die Rede. Es gibt ja auch einen deutschen Post-/Neo-Techno-Act namens Brutalism 3000 – also scheinst du nicht der Einzige zu sein, den das Thema aktuell interessiert. Was verstehst du darunter, und wieso ausgerechnet „Brutalismus“?

Dino Spiluttini: Mir ist der Begriff Brutalismus in den letzten Jahren hauptsächlich im Grafikdesign begegnet – in der Musik eigentlich weniger. Meine Hauptsorge war eher, dass der Begriff „Rave Brutalism“ oder „Brutalist Rave“, den ich für diese EP erfunden habe, ständig mit Lorenzo Sennis „Trance Pointillism“ in Verbindung gebracht würde – aber das ist bisher noch gar nicht passiert.

Den Brutalismus-Bezug habe ich eigentlich meinem Unterbewusstsein zu verdanken. So gut wie jede Nacht, beim Einschlafen, erfindet mein Gehirn die perfekte Musik – so, dass ich mir dann denke: Genau das will ich machen. Diese Visionen sind auf eine seltsame Weise gleichzeitig sehr direkt und klar – und auf der anderen Seite sehr fragil. Wenn ich versuchen würde, etwas davon in die physische Welt zu holen, würde alles sofort verschwinden.

Also habe ich einfach angefangen, statt konkreter Ideen gröbere Zusammenhänge in meinen Alltag zu retten. Zum Beispiel: Welche Charakteristika haben diese luziden Skizzen? Was vereint sie? Und die daraus entstandene Liste hat eben viel mit Brutalismus gemeinsam: lineare Komposition – also es dominiert immer nur ein Klangobjekt –, klare Strukturen, eindeutige Ideen, harte Übergänge, keine Verzierungen und Schnörkeleien, Pausen und negativer Raum.

Schon bei „Death Chants II“ (2022) hast du dich intensiv mit den Möglichkeiten von „minimalist club music“ auseinandergesetzt. Nun gehen die Meinungen darüber, was „Minimal“ bedeutet, ja sehr auseinander: Die einen denken dabei eher an Steve Reich oder Philip Glass, die anderen an Techno-Künstler wie Robert Hood oder an Veröffentlichungen auf (Techno-)Labels wie Basic Channel oder Kompakt. La Monte Young meinte schlicht, es gehe dabei um ein simples Setup – auch Gilles Deleuze sagte einmal, für elektronische Musik reiche im Prinzip ein Oszillator, ein Filter und eventuell ein Echo.

Wie siehst du das?

Dino Spiluttini: Leute wie Steve Reich und Philip Glass haben diesen Zugang sicher geprägt – es wurde ja auch ein ganzes Subgenre der sogenannten Neuen Musik für sie erfunden: Minimal Music. Also diese Herangehensweise, sich auf das Essenzielle zu konzentrieren und Elemente roh in den Vordergrund zu stellen. Das Zelebrieren von Abwesenheit. Das ist genau genommen auch brutalistisch: ein Betonklotz ohne Verzierungen als fertiges Werk. Keine sanften Übergänge. Schönheit finden in unapologetischer Hässlichkeit. Und vor allem: dieser laserhafte Fokus auf das Material.

Das ist für mich ein Konzept, das in jeder Kunstrichtung funktioniert – im Film zum Beispiel mit Dogma 95 oder dem traditionellen, eher brutalen österreichischen Kino.

Bei mir muss man tatsächlich den gesamten Begriff inklusive „Club Music“ berücksichtigen. Ästhetisch gesehen hat meine Musik mehr mit der Tanzmusik der 1990er-Jahre zu tun als mit Oszillator- oder Tonbandfrickeleien aus Pariser oder Kölner Studios der 1950er-Jahre. So sophisticated wie Reich, Glass oder Young bin ich ja nicht – das ist auch eine bewusste Entscheidung.

Im Gegenteil: Mein Motto bei der EP war eher – schaffe ich es, wirklich alle Klischees des 1990er-Rave unterzubringen? Das ist ja, auch wenn es in meinem Fall völlig unironisch gemeint ist, ein sehr triviales Unterfangen. Denn auch wenn – oder vielleicht gerade weil – ich zuerst elektronische Musik und dann Multimedia-Art studiert habe, liegt mir nichts ferner als ein akademischer Zugang zum Musikmachen.

„Ein Betonklotz ohne Verzierungen als fertiges Werk.“

Wie entstehen eigentlich solche Tracks? Sind deine Tracks schon von Anfang an „minimal“ angelegt, oder reduzierst du die einzelnen Teile erst in späteren Arbeitsgängen – wie beim Dub?

Dino Spiluttini: Die eher minimalistische Herangehensweise ist schon von Anfang an beabsichtigt. Wie gesagt: Ich will keine Ablenkung von den Sounds, die im Vordergrund stehen. Das, was zu hören ist, soll wichtig und kohärent sein – und gleichzeitig ist es auch Teil der Ästhetik, dass etwas fehlt. Also, dass man die Lücken auch merkt.

Meistens baue ich mir ein hybrides System aus Software und Hardware, und dann drehe ich einfach so lange herum, bis ich etwas höre, das ich aufnehmen will. Und diese Aufnahme kann dann das Hauptobjekt eines Tracks werden.

Den Dub-Zugang habe ich tatsächlich eher beim Live-Spielen. Da kommt vieles von einem Backing Track, und ich verwende Fader und Knöpfe als Instrument.

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Der britische Pop-Theoretiker Mark Fisher hat die (sozialdemokratische) Moderne der 1970er-Jahre einmal als einen Mix aus folgenden Bestandteilen beschrieben: (öffentliche) brutalistische Bauten, wohlfahrtsstaatliche Institutionen (inklusive Förderungen etwa im Sozial- und Kulturbereich) sowie frei zugängliche Räume für sozio-kulturelle Experimente. Nach dem Scheitern all dessen – unter anderem durch die neoliberale Politik von Thatcher – entstanden als ästhetische Reaktion darauf Stile wie Post-Punk, Industrial oder Rave.

Würdest du deine Musik zumindest als Versuch verstehen, auf gewisse politische Umstände zu reagieren?

Dino Spiluttini: Ich versuche nicht bewusst, mit meiner Musik politisch Stellung zu nehmen – aber wie wir ja wissen: Alles ist politisch. Eigentlich bin ich generell ein sehr politischer Mensch. Aber ich habe nicht das Bedürfnis, mit meiner „Kunst“ (wenn wir sie so nennen wollen) das politische Zeitgeschehen aufzuarbeiten. Das wäre mir persönlich viel zu abstrakt und unwirksam.

Politische Aufklärung sollte meiner Meinung nach so niederschwellig wie möglich passieren – und nicht durch die bassdrum-lose Trancemusik von irgendeinem schwindligen Dude. Man könnte aber sagen, dass der kulturelle Kontext meine Musik politisch macht. Ich spiele ja nicht im Bierzelt. Politik ist ja auch das, was man nicht macht – und nicht ist.

Laut aktuellen Untersuchungen gab es im Jahr 2000 England noch an die 2800 Clubs. 2024 sind davon 787 übriggeblieben. Dieses Clubsterben kann ja sicher nicht nur mit Corona zusammenhängen. Diese Post-Rave-Depression gabs ja auch schon vor Corona (z.B. bei Burial). Würdest du sagen, dass deine Tracks auch quasi Abarbeitungen am Verschwinden von ganz wichtigen kulturellen und sozialen Orten, Räumen und Plätzen ist?

Dino Spiluttini: Ich würde das Clubsterben sogar weniger als ein Symptom der Pandemie sehen, sondern hauptsächlich als eine konsequente Folge des späten Kapitalismus. Niemand kann es sich mehr leisten, feiern zu gehen. Live-Acts brauchen höhere Gagen, weil es im Streaming nichts zu verdienen gibt. Gleichzeitig gibt es immer weniger Kulturförderungen für die Clubs, und es verschwinden die Orte, an denen man sich in der Öffentlichkeit konsumfrei aufhalten

kann. Aber meine Depression braucht keinen Post-Rave-Angle, die war auch vor Corona schon da. Vielleicht ist das etwas, was man in meiner Musik hört.

„Mein Motto bei der EP war eher: Schaffe ich es, wirklich alle Klischees des 1990er Rave unterzubringen?”

Gleichzeitig ist die Melancholie deiner Tracks nicht ohne aggressive Impulse. Du willst mit deiner Musik ja auch konkret gegen „the decorative sentimentality of nostalgia“ agieren. Welche Nostalgie meinst du da genau? Nach Corona, angesichts aktueller Kriege und des anhaltenden Rechtsrucks kann Nostalgie ja auch auf etwas verweisen, wo zumindest die Vorstellungen von Zukunft besser oder optimistischer waren.

Dino Spiluttini: Damit ist gemeint, dass orthodoxe Genre-Musik prinzipiell auf Nostalgie basiert. In meinem Fall spricht der Infozettel ja von Trance – und Trance passiert heutzutage, denke ich, in einem sehr nostalgischen Kontext. Sowohl das Machen als auch das Hören von Trance – oder, wie gesagt, generell Musik innerhalb klarer Genre-Grenzen – ist meist von Nostalgie motiviert.

Klar, ich bewege mich außerhalb von Genres, aber zumindest im ästhetischen Kontext von Trance und elektronischer Tanzmusik der 1990er-Jahre. Ich hoffe aber doch, dass ich emotional ein tiefergehendes Angebot machen kann als bloße Nostalgie oder Sentimentalität. Und Brutalismus war ja ebenfalls anti-nostalgisch – also ergibt das konzeptuell schon Sinn.

Mit dem zweiten Teil deiner Frage sind wir dann auch wieder bei Mark Fisher und seinen Lost Futures. Der nostalgische Aspekt in meinen Tracks ist ja akustisch stark vernebelt. Auch wenn es nicht beabsichtigt ist, könnte man das natürlich so interpretieren: dass das die Geister einer Zukunft sind, die uns damals selbstverständlich erschien – und die heute, wo sie längst da sein sollte, nur noch als utopischer Traum existiert, der ferner wirkt als je zuvor.

Ein Track heißt ja „The Crypt is Giving“. Das erinnert ein wenig an den Club (die Disco) als Bunker oder Krypta – also: Tanzen im Trockeneisnebel in kalten Gemäuern. Der britische Schriftsteller Ian Penman hat in seinem aktuellen Buch über den deutschen Filmemacher Rainer Werner Fassbinder (Tausende von Spiegeln) seine – auch von Post-Punk geprägten – frühen Erlebnisse in Kinosälen mit einer gewissen Bunkerstimmung verglichen. Bleibt uns von all der Club-/Disco-Euphorie vielleicht wirklich nur noch die Wahl zwischen Krypta oder Bunker?

Dino Spiluttini: Angesichts der weltpolitischen Lage, der Krisen und Kriege ist Bunkerstimmung nicht unbedingt etwas, das ich mit meiner Musik hervorrufen will. Aber ich weiß, was du meinst. Meine perfekte Situation fürs Live-Spielen wäre ein komplett dunkler Saal mit extrem viel Nebel. Am liebsten wäre es mir, wenn das Publikum visuell komplett unterfordert wäre – und von der Musik quasi fast erschlagen.

Klingt jetzt irgendwie nach Foltermethode, aber ich denke, dass das im Optimalfall ein transzendentales Erlebnis auslösen könnte. Dunkelheit und Nebel stehen auch auf meinem Tech Rider, aber bisher habe ich noch keinen Saal oder Raum erlebt, den man wirklich komplett abdunkeln kann. Es gibt immer irgendwelche Lichtquellen – sei es von Notausgängen oder dem Barlicht.

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Die Tracks bestehen ja aus nicht gänzlich unbekannten Versatzteilen aktueller elektronischer Dance-Music: Autotune, Hyperpop, Dubstep-Sounds, FM-Stabs, Chillwave-Anklänge. Sind das für dich immer noch spannende Audio-Artefakte – oder schon eher Schwundstufen einstiger Größe? Oder vielleicht einfach zusammengetragene Ruinen-Fragmente?

Dino Spiluttini: Ja, generell ist die EP schon so eine Art Collage aus wiedererkennbaren Tropen und Klischees aus der Geschichte der Club- und Popmusik. Artefakte und Fragmente finde ich gute Bezeichnungen dafür, weil ich ja sehr oft die „wichtigen“ Elemente weglasse und nur ganz bestimmte ästhetische Bruchstücke einbaue – die ich dann meistens auch noch rekontextualisiere oder auf ungewohnte Weise kombiniere. Ich selbst nenne das immer Dog Whistles: ästhetische Zeichen, die man vielleicht nur als Insider:in erkennt und die der Musik einen bestimmten Kontext und Vibe verleihen.

Sei es jetzt ein „Amen Break“, der nur einen halben Takt lang auftaucht und dann nie wieder kommt, oder ein 1990er-Jahre-House-Orgelbass unter einem Trance-Arpeggio. Ich glaube, das alles wäre viel langweiliger, wenn ich es nicht so pointiert und gezielt einsetzen würde. Schwundstufen und Ruinen einstiger Größe wären natürlich auch eine großartige Beschreibung – würden aber eher einen hauntologischen Zugang implizieren, denke ich. Und damit möchte ich mir eigentlich gar nicht die Finger verbrennen. Wer – außer Burial – könnte das schon überzeugend umsetzen?

„Das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist, dass ich Musik nur für andere Dudes mache, die ebenfalls Musik produzieren.“

Was bei den Tracks ja fast nicht zum Aushalten ist, ist die Tatsache, dass sie sich teilweise wie ewig lange, sich stetig aufbauende Intros anhören, es dann aber zu keiner Erlösung (oder einem Drop) kommt. Das heißt, es schaut zwar mal kurz ein Jungle-Beat vorbei, auch zeigen Bässe in die Richtung „Gleich geht’s los!“, aber dann ist der Track auch schon wieder vorbei. Das machst du ja gerne: Tracks als ewig langes Intro zu konzipieren, die dann aber eher nach locked grooves klingen, die irgendwie nicht anspringen. Worum geht es da? Wieso verweigerst du stets den (finalen) Dancetrack? Post-Corona könnte ja auch bedeuten, jetzt erst recht tanzen.

Dino Spiluttini: Ja, das ist durchaus beabsichtigt, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, fallen mir verschiedene Gründe dafür ein. Zum einen ist es natürlich so eine Art Trotzhaltung: das Gegenteil von dem machen, was üblich ist und erwartet wird. Ich verwende mein eigenes Template, weil ich ja auch mein Publikum anders erreichen will, als es zum Beispiel ein Techno-DJ tun würde. Ich will gar keine Erleichterungen und (Auf-)Lösungen anbieten.

Wenn man das Ganze auf die Filmwelt überträgt, ist es doch ähnlich: Ein gut gelöstes Ende kann Filme oft im Nachhinein sehr banal erscheinen lassen. Stell dir zum Beispiel mal einen Haneke-Film vor, bei dem am Ende alle Fäden zusammenlaufen – darüber würde ich mich wahrscheinlich richtig ärgern.

Wenn ich so zurückblicke auf die Musik, die ich in den letzten zehn Jahren gemacht habe, dann zieht sich dieses Motiv tatsächlich durch alle Veröffentlichungen: Spannung wird aufgebaut und läuft ins Leere. Ich kann mir gut vorstellen, dass das von einem gewissen Nihilismus in mir zumindest mit ausgelöst wird.

Vor ein paar Jahren habe ich zwei Tapes veröffentlicht, die das gut erklären: „No Horizon“ (Umor Rex, 2018) entstand in einer Phase, in der ich mehrere Antidepressiva für je einige Wochen ausprobiert habe – und nichts hat gewirkt. Gefangen in einer ewigen Vorhölle. Daher auch der Titel der Kassette: Es ist nichts zu sehen, kein Horizont, keine Veränderung, keine Hoffnung.

Die andere Kassette, „Forever“ (No Rent, 2018), entstand im selben Zeitraum und hat ihren Titel durch diese Anekdote erhalten. Und jetzt, wo der Spätkapitalismus, der Klimawandel und die Kriege einem – bzw. mir – nur noch absolute Dystopien als Zukunftsvisionen bieten, ist neben Angst eben auch wieder ein resignativer Nihilismus vorherrschend, zumindest in meiner Gefühlswelt.

Was soll ich da mit euphorischen Drops und Auflösungen? Nichts liegt mir ferner, wenn ich ehrlich bin.

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Woher kommen eigentlich die Sounds? Du arbeitest ja auch viel mit Modular-Gerätschaften, jedoch höre ich hier vor allem viele FM-Synths?

Dino Spiluttini: Die „Hauptobjekte“, wie ich sie nenne, sind alle am modularen Synthesizer entstanden. Oder genauer gesagt: Oft sind es Synthesizer-Spuren aus dem Computer, die dann durch mein modulares System laufen und die ich über meine analoge Masteringkette wieder aufnehme.
Das meiste andere entsteht dann am Computer. Ich verfremde Sounds sehr gerne extrem, es kann also durchaus sein, dass ein Vocal-Sample am Ende wie ein FM-Synthesizer klingt. Und natürlich benutze ich auch das eine oder andere originale 1990er-Preset, wie zum Beispiel das Housepiano und den Orgelbass aus dem Korg M1.

„Ich will gar keine Erleichterungen und (Auf-)Lösungen anbieten.“

Welche Funktion haben dabei die Vocals bzw. die gesampelten Stimmen?

Dino Spiluttini: Die menschliche Stimme hat zwei ganz wichtige Funktionen in der Musik: Einerseits gibt sie den Hörer:innen etwas Greifbares, das sie schon kennen. Die Musik kann noch so abstrakt sein, wenn man ein Pop-A-cappella darüberlegt, erreicht man auch Menschen außerhalb der Produzentinnen-Bubble. Das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist, Musik nur für andere Dudes zu machen, die ebenfalls Musik produzieren. Der Gesang ist ein wichtiges Kommunikationsmittel, um die Türen für andere zu öffnen. Das ist vielleicht auch der Kommunist in mir, dem so etwas wichtig ist.
Außerdem gibt es für meine Begriffe kein emotional wirkungsvolleres Instrument als die Stimme. Gesang kann sowohl für die singende Person als auch für die Hörenden geradezu kathartisch sein. Natürlich möchte ich dieses Werkzeug nutzen, ich bin schließlich der Emo Boy unter den österreichischen Produzent:innen.
Und natürlich ist das auch wieder der 1990er-Rave-Bezug: Vocal House und Jungle etwa haben ja sehr oft Vocal Samples verwendet – auch so, wie ich es mache: meist aus einem Pop-Kontext gestohlen und in einen vermeintlich cooleren Bezugsrahmen gesetzt. Ich bin selber auch tatsächlich ein großer Pop-Fan. Bei mir wird ein Justin-Bieber-Sample nicht ironisch verwendet, sondern eher als Zelebrierung des Originalmaterials.

Wie kam es eigentlich zum EP-Titel „Eros“?

Dino Spiluttini: Den Titel habe ich quasi gestohlen. Es gibt anscheinend ein fertiges, aber nie veröffentlichtes Album der Band Deftones mit dem Namen „Eros“. Und ich denke mir schon seit Jahren, dass es irgendwie lustig wäre, einfach zuerst ein Album namens „Eros“ zu veröffentlichen – so als Hommage. Jetzt ist es halt eine EP geworden.
Aber der Titel passt unabhängig von dieser Ursprungsgeschichte perfekt. Zum einen ist er ja in gewisser Weise auch sehr brutalistisch: konzise, schnörkellos, ein Wort als Objekt.
Und sogar aus einem psychoanalytischen Winkel betrachtet macht „Eros“ Sinn. Für Freud war das ja das Gegenstück zu Thanatos, dem Todestrieb. Man könnte das auf mich bezogen als Zäsur oder Aufbruch sehen. Die Beschäftigung mit dem Tod und mit allem, was man als Gegenteil von Lebensfreude bezeichnen würde, hat jahrelang meine Musik bestimmt. Und mit „Eros“ auf einmal: Pop und Hedonie.
Ich könnte natürlich behaupten, dass das alles Teil des Konzepts war, aber ehrlich gesagt ist mir das erst im Nachhinein aufgefallen.

Danke für das Interview.

Didi Neidhart

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Links:
Dino Spiluttini
Dino Spiluttini (Instagram)
Dino Spiluttini (bandcamp) / Eros