Markus Hinterhäuser, 2011 Intendant der Salzburger Festspiele, verdient wieder höchsten Applaus für seine Musik-Programmierungen – natürlich besonders für den Rihm-Schwerpunkt. Der stets anwesende Komponist Wolfgang Rihm war auch selbst von den Aufführungen begeistert. Hinterhäuser muss man aber auch für das gesamte andere Musikprogramm gratulieren, namentlich für seine überwiegend kammermusikalischen Konzertprogramme im Rahmen von „Brahms und …“, aber auch für die gemeinsam mit Jürgen Flimm verantworteten Opernprogramme (wie etwa eine hervorragende Strauss-„Elektra“). Die Lulu-Neuinszenierung durch die Regisseurin Vera Nemirova allenfalls ging vielleicht etwas daneben.
Aber die Berg-Oper war in Wien im Juni ja in der hervorragenden Realisation durch Peter Stein zu erleben. Und Stein war heuer auch in Salzburg tätig, vor allem mit „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles mit Klaus Maria Brandauer auf der Perner Insel. Beeindruckend. Aber ein weiteres „Highlight“ konnte man auch noch auf der Halleiner Insel an der Salzach erleben. Dazu gleich.
Bei dem lohnenswerten Aufenthalt bei „Arcana“ in St. Gallen und dem Gesäuse (siehe mica-Berichte) erfuhr der Autor dieses Berichts von Gertraud und Friedrich Cerha bereits von den Salzburger Missdeutungen der „Lulu“, aber auch von den an Cerha seitens Salzburgs verliehenen Preisen und Auszeichnungen. Ab dem 9. August konnte er für das mica wieder die Salzburger Aufführungen besuchen – wie bereits die Premiere von Rihms Oper „Dionysos“.
Die Salzburger Festspiele haben 2010 quasi ein Rihm-Jahr ausgerufen, ganz ohne runden Geburtstag. Am Dienstag, 27. Juli 2010 wurde Rihms Oper “Dionysos” in Salzburg uraufgeführt – ein Mitschnitt der Uraufführung war in Ö1 zu hören. Zudem richteten die Festspiele den sogenannten „Kontinent Rihm” aus, mit zehn Konzerten, die Kompositionen Rihms gewidmet sind. Bei kaum einem anderen Komponisten ist der Schwerpunkttitel „Kontinent” so passend wie bei Wolfgang Rihm: Mehr als 450 Werke aller Gattungen umfasst sein Schaffen.
Berits am 5. August spielte in der Kollegienkirche das Klangforum Wien unter Emilio Pomárico ein mehr als anspruchsvolles Programm und gleichzeitig eine wunderbare Einführung in die Klangwelten des deutschen Komponisten Wolfgang Rihm: Zwei Stücke „in memoriam Luigi Nono“ aus 1990 sowie „Silence to be beaten“ für 14 Spieler (1983) aus dessen „Chiffren-Zyklus“ wurden kombiniert mit John Dowland („Lachrimae“), Anton Weberns Sechs Stücken für Orchester op.6 (in der Kammerorchester-Fassung von 1920) und Karlheinz Stockhausens „Kreuzspiel“ für Oboe, Bassklarinette, Klavier und 3 Schlagzeuger (1951). „Während Anton Webern darauf zielt, Ausdrucksmomente aus dem traditionellen Repertoire auf eine Minimalgestalt zu komprimieren, findet in Karlheinz Stockhausens ‚Kreuzspiel’ eine Versachlichung der musikalischen Sprache statt, die sich äußerlich in sich überkreuzenden Tonhöhenordnungen und Registerbereichen abzeichnet und von hier aus auch den symbolischen Bereich – wurzelnd in Stockhausen Katholizismus – berührt. Wolfgang Rihms energetischer Umgang mit kompositorischen Bausteinen gehorcht demgegenüber viel stärker den Gesetzmäßigkeiten musikalischen Gestenreichtums (‚Chiffre II’) … oder verbindet seine Musik mit dem Gedanken der Trauer“ – heißt es zutreffend im Programmbuch.
Das Klangforum spielte noch einmal am 9. August in der Kollegienkirche, diesmal unter Sylvain Cambreling. Auf dem Programm Jörg Widmanns „Freie Stücke“ (2002), im zweiten Teil dann Morton Feldmans „For Samuel Beckett“ (1987). Die beiden Ensemblestücke umrahmten Wolfgang Rihms „Séraphin-Sphäre“ (1993-96/2006). „Für die Séraphin-Werke von Rihm ist der französische Schriftsteller und Dramatiker Antonin Artaud (1896-1948) die Inspirationsquelle“, schreibt Marco Frei im Programmbuch. Artaud war, wie auch Charles Baudelaire, vom ostasiatischen Schattentheater fasziniert, das der Italiener Serafino 1781 in Frankreich eingeführt hatte. Und Rihm wiederum schreibt: „Das Séraphin-Schattentheater hat bei mir eine Werkreihe in Bewegung gesetzt (Eigenzeugung, plasmatische Generation …), die das jeweils Vorige als Abschein bewahrt, das Gegenwärtige als Eindruck und Spur setzt, sowie das Kommende als Projektion durchscheinen lässt.“ Damit, so Frei weiter, spiele Rihm zugleich auf eine Technik an, die in der Malerei Übermalung genannt und insbesondere von dem Österreicher Arnulf Rainer repräsentiert wird. Seit den 1990er Jahren inspiriere die Technik der Übermalung Rihms Schaffen, wie auch bei Morton Feldman, für Rihm der wichtigste Komponist aus den USA, die Arbeitsweise häufig durch die bildenden Künste angeregt wurde. Feldmans Spätwerk „For Samuel Beckett“ spielte das Klangforum Wien gut wie noch nie zuvor – unter Cambrelings erneuter Leitung (es existiert bereits eine KAIROS-Aufnahme aus 1999 unter ihm) – vermied die Salzburger Wiedergabe des 50-minütigen Werks falsches „Espressivo“ und „Vibrato“ zugunsten durchhörbaren und differenzierten Spiels. Und Feldmans eigene Vision ging für alle die zuhörten in Erfüllung: „Eigentlich sind meine Werke nicht lang, die meisten sind sogar zu kurz“. Das war ein Vorstoß „in neue Welten der Wahrnehmung, in klingende Räume, die wesentlich Werden und Vergehen ergründen“ (Marco Frei).
„Et LUX“ (2009) war ein zweites Konzert des Arditti-Quartetts, das zuvor auch bereits zwei Rihm-Streichquartette aufgeführt hatte. In der Kollegienkirche spielte es gemeinsam mit dem Hilliard Ensemble (mit einem Countertenor, zwei Tenören und Bariton) in der Uraufführungsbesetzung das Stück von Rihm, das auf Text-Fragmenten aus der römischen Requiem-Liturgie basiert. Zu hören waren also zwei jeweils für die Musik des Mittelalters und der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts wohl repräsentative Ensembles. Rihm konzentrierte sich besonders auf die Formel „et lux perpetua luceat eis“ (und das ewige Licht leuchte ihnen) und seine Intention ist, das die „sowohl tröstlichen als auch tief beunruhigenden Schichten dieser Worte vielleicht spürbar (werden)“.
Auch die Wiener Philharmoniker unter Riccardo Chailly und Geigerin Anne-Sophie Mutter widmeten sich Rihm – natürlich im Großen Festspielhaus. „Gesungene Zeit – Musik für Violine und Orchester“ (1991-92)stand auf dem Programm und die Art, wie Mutter, für die Rihm dieses Violinkonzert einst komponierte, das spielte (von lang ausgehaltenen, leisen Tönen bis in höchste Regionen) ist – Geschmackssache. Die Philharmoniker beglückten dann allerdings besonders mit Anton Bruckners Symphonie Nr. 4 Es-Dur – der „Romantischen“, besonders mit den wunderbaren Blechbläsern, über die sie verfügen. Rihm schrieb 1975: „Durch Faktur und Diktion stelle ich meine Musik bewußt in die Tradition Beethovens, Bruckners, Mahlers und Hartmanns“, weil ich von diesen Komponisten gelernt habe, Musik als sprechenden Übergang ins Unsagbare zu begreifen“. Reinhard Kager (der SWF- und Donaueschingen-Jazzredakteur war auch in Salzburg, er verfasste auch ein Rihm-Porträt im Festspiel-Katalog 2010) schrieb bereits früher einmal über die Donaueschinger Kritik und Ablehnung Rihms in den siebziger Jahren: „Rihms Rückbesinnung auf die musikalische Expressivität trug ihm den Vorwurf des musikalischen Eklektizismus ein. Ein Neo-Romantiker, so lautete das Verdikt damals, als der Post-Serialismus seine letzten welken Blüten trieb.“
„Jagden und Formen“ (Zustand 2008)
Nun aber ein, vielleicht der Höhepunkt des diesjährigen „Kontinent Rihm“ – auf der Perner Insel. – Ein musikalisch-choreografisches Projekt von Ensemble Modern und Sasha Waltz & Guests. Das Ensemble Modern unter der musikalischen Leitung von Franck Ollu war wirklich „at its best“. Aus dem Programmbuch: Die musikalische „Form“ selber wird zum obsessiven Inhalt der Musik, wobei die unablässige „Jagd nach Form in Form umschlägt“ (Rihm 2000). „Das ungefähr einstündige, 1237 Takte umfassende Stück spielt auch mit der Idee jeweils unterschiedlicher Besetzungen, von der Kammermusik (stilisierte Duo-, Trio-, Quartett- und Quintettformationen, allerdings in Mehrfachbesetzungen der Orchesterstimmen) über Kammerorchester bis hin zum großen Orchester.“ Ein visueller Höhepunkt der Aktion von Sasha Waltz gegen Ende: Das gesamte Ensemble Modern spielt auf dem Bühnenboden liegend, umgeben von den Tänzerinnen und Tänzern. Die Salzburger Nachrichten schrieben eine emphatische Kritik über die Aufführung („Musik, die zum Körper wird“. Mit „Jagden und Formen“ bereiteten Sasha Waltz und Ensemble Modern eine Sternstunde, SN 12.08.2010).
Karl Harb in seiner Besprechung: „ … die Grundlage der 2008 in Frankfurt entstandenen und mittlerweile weitum gefeierten Arbeit ist eine aus drei Einzelensemblestücken zur Einheit gewachsene Komposition von Wolfgang Rihm – wohl eine der stärksten, mitreißendsten Partituren des Karlsruhers Großmeisters der Musikmoderne. Sie wächst von einem phasenverschoben einsetzenden Wechselspiel der zwei Soloviolinen über sich verdichtende Klangenergiefelder der einzelnen Instrumentengruppen (Streicher, Bläser, Schlagzeug) zum großen Orchestersatz, wobei ’alte’ musikalische Formen zitiert werden, sich kammermusikalisch bis orchestral verzahnen und in einem hochenergetischen Prozess mit unablässiger virtuoser Motorik und imaginativer Kraft ‚jagen’.
Sasha Waltz interessiert sich indessen nicht für eine daraus auch ableitbare mögliche Erzählung einer Geschichte, sondern für die direkten Impulse, die aus der Musik kommen und, wenn man so will, durchaus nach ‚Verkörperung’ schreien. Je nach dem wachsenden Intensitätsgrad der vom Ensemble Modern sensationell gestaffelten, wie selbstvergessen bravourös gespielten, von Dirigent Franck Ollu meisterlich und souverän geführten Musik wächst auch die Choreografie. Sie geht von abstrakter Zeichenhaftigkeit über skulpturale Körperplastiken einzelner Tänzer, Körper-‚Haufen’ des Ensembles, raumgreifende Bewegungssteigerungen zu immer dichter werdendem Kreiseln, Taumeln und rasantem Bodenrollen.
Und immer ist die unbedingte Kontrollinstanz die Musik, aus der heraus, in die hinein Sasha Waltz ihre Tanzkörper wachsen lässt – bis hin zu echten Interaktionen mit Instrumentalsolisten (Englischhorn, Klarinette), die in die Bewegungen aufgenommen werden. Der Höhepunkt: wenn sich die Musiker mit ihren Instrumenten zu den Tänzern auf den Boden legen und einen rihmschen ‚Liegeton’ weiterspielen. So wurden Klang und Tanz womöglich noch nie zur plastischen Einheit. In keiner Sekunde dieser denkwürdigen Stunde ist auch nur eine Note billig illustriert, sondern alles aus der klingenden, offenen ‚Werklandschaft’ Wolfgang Rihms entwickelt und geformt – ein Muster an Präzision des Denkens und Intensität der Gefühle.
Der Komponist durfte sich in den Ovationen aufgehoben fühlen. Nicht zum ersten Mal wirkte er in Salzburg wie ein staunend glückliches großes Kind.“ Dem haben wir nichts hinzufügen. (http://search.salzburg.com/articles/12283370?highlight=Jagden+und+Formen)
Zuletzt noch ein weiterer großartiger Konzertabend mit Bariton Georg Nigl, begleitet von Jean-Pierre Collot (Klavier), sowie mit drei Streicherinnen (trio recherche): Auf dem Programm Rihms schöne „Neue Alexanderlieder“ (1979) nach Gedichten von Ernst Herbeck (1920-91) und das gewaltige „Wölfli-Liederbuch“ (1980/81) – Texte eines schizophrenen Lyrikers (Pseudonym Herbecks: Alexander) sowie eines geistesgestörten Malers, Dichters und Komponisten (Adolf Wölfli,1864-1930), einem Vorbild durchaus für Rilke oder André Breton (und auch den österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas!). Nigl – zuletzt als Wozzeck zu erleben – ist auch ein bedeutender Lied-Sänger. Im zweiten Teil das einstündige, monumental zu nennende frühe Trio „Musik für drei Streicher“ (1977) mit den drei führenden Damen des Freiburger ensemble recherche. Eine (unverschämte) Rangwertung des Autors (verhinderter Musikkritiker): Das Stück ist wirklich faszinierend und hoch-expressiv (mal ätherisch, mal energisch im Ausdruck). Rihm äußerte dazu: Das Stück richte sich gegen die Ästhetik des Konstruktivismus, welche „sich Expression als Seelenregung schon seit langem verboten habe…Mein Plädoyer geht für eine undurchschaubare, klare, verwirrte und leidenschaftliche Musik, eine präzise und erstaunte, wie es menschliche Existenz ist.“ Und am schönsten spielte das die Bratsche (Barbara Maurer).
Der Salzburger Kontintent Rihm endete (am 21. und 22. August im Großen Festspielhaus) mit einem Konzert der Wiener Philharmoniker unter Christoph Eschenbach und einem ganz wunderbaren Schumann-Programm mit dem Pianisten Tzimon Barto: Als „Symphonie“ vor der tatsächlich auch am Ende gespielten Zweiten Symphonie von Robert Schumann hörte man „Introduktion und Allegro appassionato“ (1849) für Klavier und Orchester, als „zweiten Satz“ Schumanns „Geistervariationen“ (Thema mit Variationen für Klavier, 1854) sowie das „Konzert-Allegro mit Introduktion für Klavier und Orchester“ (1853). Dazwischen Rihms „Ernster Gesang“ (1996), ein Orchesterstück, das er im Gedenken an Johannes Brahms komponierte.
Heinz Rögl
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