Post-Covid, Post-Capitalism, Post-Festival? Hyperreality – Festival for Club Culture

Hyperreality ist ein jährlich stattfindendes Festival für experimentelle und elektronische Musik, das auch heuer wieder in einer Off-Location in Wien stattfindet. Für die Ausgabe 2024 zieht Hyperreality in das Otto-Wagner-Areal, ein leerstehendes historisches Krankenhaus in einem Park, und funktioniert die ehemalige Industrieküche am 23., 24. und 25. Mai zur Festival-Location um.

Im Jahr 2024 bietet Hyperreality ein Line-up, das tief in einem kollektiven Prozess der Reflexion über die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der Clubkultur verwurzelt ist. Mit dem Fokus auf Care, Community, Freundschaft und Interdisziplinarität will Hyperreality eine mögliche alternative Zukunft für die Clubkultur – abseits von kapitalistischen Funktionsweisen – zeichnen und unterstützen.

Hyperreality begreift Musik als eine transgressive Kunstform, die Klang, Performance und Architektur als gleich- berechtigte Parameter einzubinden vermag. Auf dem Otto-Wagner-Gelände lässt das Festival die Einschränkungen von Clubs und Konzerthäusern hinter sich, um einen Raum für neue musikalische Erfahrungen zu definieren. Ein perfekter Ort für multidisziplinäre Artists wie Chuquimamani-Condori (alias Elysia Crampton, alias E+E). Chuquimamani-Condori gehört der Pakajaqi-Nation des Aymara-Volkes an. Das Publikum erwartet Sample-reiche Arrangements, verbunden mit dem Minimalismus der amerikanischen Westküste und der indigenen Aymara-Musik aus den Anden. Zur weiteren Vermittlung zeigt Hyperreality den 2021 veröffentlichten Film „Amaru’s Tongue: Daughter“ von Chuquimamani-Condori und Joshua Chuquimia Crampton. Eine bewegte Bildcollage aus Super-8-mm-Film, Animation und archiviertem Ton- und Filmmaterial, die über Leben, Tod und Zeit aus der Perspektive der Aymara erzählt. Honour’s Debütalbum „Àlàáfía“ wurde am Label PAN Records veröffentlicht und ist eine verträumte Collage durch Themen wie Trauer, Piano-Komposition und 90er R&B Versatzstücken. Die klanglichen Widersprüche der mysteriösen Musikproduzent:innen übersetzten sich in einer immersiven, diffusen Live-Show, die das erste Mal in Österreich zu sehen sein wird.

HYPERREALITY Logo
HYPERREALITY Logo

Mica Levi ist zweifelsohne eine:r der interessantesten und wichtigsten Produzent:innen der heutigen Zeit. Levi’s Veröffentlichungen reichen von schrägen rhythmischen Bearbeitungen bis zu “chopped & screwed” Interpretation klassischer Arrangements, von kurzen Pop-Tracks mit Ohrwurm-Qualität bis hin zu Kompositionen für Film und Fernsehen. Zusammen mit Alpha Maid formiert Levi das Sludge-Rock-Projekt Spresso; das zweite Album wird am 15. Mai erscheinen. Das Debütalbum „Barely Making Much“ des multidisziplinären Künstlers Ian Nnyanzi alias Masaka Masaka wurde am 22. März 2024 auf Hakuna Kulala veröffentlicht. Das wunderschöne Debütalbum wagt stilistische Unruhen und zeigt, wie man die Klänge aus Kampala mit Einflüssen von Arca oder Dean Blunt vermengen kann. Die Wiener DJ und Performerin Mursal vereint die Sounds der vielfältigen Referenzen dieses Abends in ihren Sets.

ORA ET LABORA ist das Pseudonym der Wiener Musikerin Leonie Tabea Kudler. Sie mischt verträumte orchestrale Kompositionen – begleitet von Synthesizern, hallendem Gesang und elektrischen Drums – mit lauter und darker elektronischer Musik. Die in New York lebende Künstlerin, Performerin und Komponistin Embaci ist für ihre sphärische Stimme und Lyrik bekannt. Seit ihrem Debüt im Jahr 2016 auf dem Musikkollektiv NON-Worldwide hat sie sich als internationale Künstlerin etabliert und überzeugt als multidisziplinäre Virtuosin. In ihrer Arbeit finden sich fließende Übergänge zwischen Genres und vor allem ein Fokus auf kollaborative Prozesse: Sie hat bereits mit Künstler:innen wie Elysia Crampton (oben erwähnt), Klein und Chino Amobi zusammengearbeitet.

Aus ähnlichen Collagen der 2010er, zwischen K-Pop-Edits und Trance, zieht Goth Jafar die Energie ihrer DJ-Sets. Resident DJ der New Yorker Partyreihe New World Dysorder, gegründet von Jasmine Infinity, ist Cali Rose, die sich selbst als Electro-Vamp und Bouncy-Techno-Barbie beschreibt. An die Spitze des Rave-Genrebruchs bringt uns die in Paris lebende brasilianische DJ Working Class. Die zertifizierte freischaffende Musikwissenschaftlerin orchestriert sich durch ein breites Spektrum elektronischer Rhythmen und Musikgenres – immer gesampelt, nie einfach.

Während Genres für viele Künstler:innen keine ausreichenden Beschreibungen mehr sind, will Hyperreality 2024 denjenigen huldigen, die sie definiert haben. Produzentin und DJ Octo Octa ist das, was man gemeinhin eine Creative Force nennt. Bei Hyperreality 2024 spielt sie ein exklusives Drum ‚n‘ Bass-Set, Vinyl only. Am selben Abend wird auch John T. Gast die Bühne betreten. Mit einer minimalen Online-Präsenz fordert er unsere Wahrnehmung von Künstler:innen im digitalen Zeitalter heraus. Er stellt seine Künstlerische Praxis – auch in Zusammenarbeit mit renommierten Musiker:innen wie Inga Copeland und seine Mitarbeit am Label 5 Gate Temple – klar vor seine eigene Person und widerspricht so den üblichen Marketing-Mechanismen der Musikbranche.

Das Wiener Kult-Label Cheap Records wurde in den 1990er von Erdem Tunakan mit Patrick Pulsinger gegründet. Produzenten wie DJ Ebhardy halten diese Legacy am Leben und erneuern den endlosen Loop der Technoklänge mit Einflüssen aus allen Genres, die sich dem “four” am Floor widmen. Dass die Club-Community nicht am Dance-floor endet, leben Multiplikator:innen wie DJ Terror vor. Die Wiener DJ ist Teil des Hyperreality Teams und tritt nicht nur im Bereich Gender Equality in die Fußstapfen von Vorreiter:innen wie Electric Indigo.

Bild HYPERREALITY 2023
HYPERREALITY 2023 (c) Anna Skuratovski

Nu Jazz ist eine in New York ansässige transgressive Punk- und Screamo-Supergruppe, die an der Grenze des gleichnamigen Genres steht. Mit Dan Orlowski (Deli Girls), Kevin Eichenberger (The Beak Trio/CGI Jesus) am Bass, John Bemis (Murderpact) am Schlagzeug, Ben Shirken (Beshken/Ex Wiish) an der Elektronik, Ryan Easter (Wrens/The Trap Music Orchestra) an der Trompete und Jason Lindner an den Tasten. Die in Wien lebenden Musikerinnen Kristina Pia Hofer und Tina Bauer aka Puke Puddle veröffentlichen Musik mit ähnlichem Anspruch. Das DIY-Punk Synth-Drums-Scream-Duo ist tief in der Wiener Underground-Punkszene verwurzelt.

Hardcore kann als Punk beschrieben werden, der in das Feld elektronische Musik überschwappt. Infinity Division (Ash Luk) ist für brutale Live-Sets bekannt, die aus komplexen Hardware Setups entstehen. In seinen Performances liefert er eine unermüdliche Flut von punk-lastigen Rave- und Breakbeats. Seit dem Debütalbum 2017 ist Tygapaw einem Symbol dafür geworden, wie afroamerikanische Künstler:innen die Stile und Techniken ihrer Vorfahren als Werkzeuge zur Bekämpfung von Patriarchat, Rassismus und Queerphobie nutzen und muss dabei den Vergleich zur Legacy von Produzent:innen wie Jeff Mills nicht scheuen. Das zuletzt auf NAAFI erschienene Album Get Free ist voller dramatischer, sci-fi Techno Tracks. Für das Closing Set des Festivals übernimmt die in Wien ansässige Kurdin Menal Batti. In ihrer Selection setzt sie auf vielschichtige pulsierende elektronische Tracks die von ihren auch schwedischen Wurzeln inspiriert sind. Ebenso dichte, nur viel maschinellere Sounds versammelt Ron Schofield aka Container auf seinem neuem Album „Yacker“.

Aisha Devi schließt das CTM Festival 2024 mit den Worten “… we have always been a community, I’m here because of that”. Die in der Schweiz geborene Künstler:in mit nepalesischen indigenen Wurzeln hat eine transversale Identität, die sowohl ihren persönlichen als auch ihren kreativen Prozess leitet. Ihre Arbeit ist reich an politischen und philosophischen Subtexten, und sie war schon vor dem ersten Hyperreality Festival ein wichtiges Mitglied unserer wachsenden globalen gegenkulturellen elektronischen Musikfamilie.

Devis Praxis ist interdisziplinär, politisch und zeitgemäß – was sie zu einer Musikerin macht, die viele der Aspekte repräsentiert, für die Hyperreality 2024 steht: Ein Festival, das von der Community getragen wird und darauf abzielt, eine alternative Herangehensweise an Musikfestivals zu probieren – in Kontrast zu denjenigen, die für kapitalistische Strukturen in die Clubkultur bringen. Ähnlich rituelle sind die Produktionen der in Wien lebenden Musiker:in Mala Herba. Die Queer-Aktivist*in ist Mitglied des Oramics-Kollektivs und wird am Hyperreality eine neue Bühneshow premieren.

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Hyperreality – Festival for Club Culture 2024 
23.- 25. Mai 2024
Otto-Wagner-Areal, 1140 Wien
Tickets

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