Pearl Jam ist ein Urgestein des Öko-Aktivismus in der Musikbranche – seit 2003 bemüht sich die Band um CO2-neutrales Touring. Fünf Jahre später hat sich auch Radiohead dazu verpflichtet, ihre Tourneen klimafreundlich zu gestalten. Auch Jack Johnson bewirbt und baut sein „grünes“ Touring seit 2014 aus. Bei alledem muss man sich aber fragen: Wie nachhaltig sind Kulturveranstaltungen in Österreich und Europa heute?
Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist es, inklusive und nachhaltige Entwicklung zu erreichen ohne dabei Biodiversität, Ökosysteme, und indigene bzw. traditionelle Kulturen zu zerstören. Nachhaltigkeit ist ein vielfältiges Konzept: Neben dem dringenden Aufruf nach Klimamaßnahmen schließt es Aspekte wie soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderung ein. 1987 haben die Vereinte Nationen den Begriff der „Nachhaltigkeit“ präzisiert: Ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen und Verfahren, der die Bedürfnisse der jetzigen Generation unterstützt und künftigen Generationen wiederum ermöglicht, auch ihre Bedürfnisse zu decken. Obwohl das Konzept der Nachhaltigkeit im heutigen Sinn über 50 Jahre zurück reicht, die Musikbranche wurde erst in den letzten zwei Jahrzehnten darauf aufmerksam. Seitdem steigt das Engagement der Musiker:innen und Veranstalter:innen mit dem Thema kontinuierlich.
Auf europäischer Ebene machen seit 2007 Organisationen wie Julie’s Bicycle im Kunst- und Kultursektor gegen Klima-, Natur-, und Sozialkrisen mobil; sie versuchen wirksame Maßnahmen zu setzen und politische Veränderung einzuleiten. Das Green Touring Network ermutigt Künstler:innen und andere Akteure in der Musikindustrie aktiv zum Klimaschutz beizutragen, mit Schwerpunkt auf die Entwicklung einer nachhaltigeren, zukunftsorientierteren Branche. Unter anderem hat die Initiative einen praktischen Leitfaden für Künstler:innen, Tourmanager:innen, Veranstalter:innen und Booking-Agenturen verfasst, den Green Touring Guide. Dieser enthält Alternativen und ein Instrumentarium um die CO2-Bilanz einer Tournee zu reduzieren und regt an, bestehende Praxen neu zu überdenken.
Sustainable Music CARES, eine Initiative von Mauricio Lizardo Prada, ist ein weiteres interessantes Beispiel einer Organisation die nachhaltige Musik produziert und unterstützt im Sinne der 17 nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDG), die 2015 als Teil des „Agenda 2030“ von den Vereinten Nationen gesetzt wurden. In den letzten Jahren hat der European Music Council (EMC) SHIFT Eco-Guidelines – Richtlinien für Management, Politik, Reisen und Veranstaltungen für Netzwerke und Plattformorganisationen entwickelt, aktuell arbeitet der EMC mit anderen Initiativen an einer Klimazertifizerung für Kulturnetzwerke.
Auf österreichischer Ebene unterstützt pulswerk, die Beratungsfirma des österreichischen Ökologie-Institut, Organisationen und Firmen bei der Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Verfahren und Produkte, sowie beim Erlangen von Klimazertifizierungen. Die Initiative Green Events Austria arbeitet mit der Veranstaltungsbranche um nachhaltige Event-Konzepte, Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und bewerben.
Die NÖKU-Gruppe (Niederösterreich Kulturwirtschaft) hat sich auch der Nachhaltigkeit gewidmet: Sie folgt einer Nachhaltigkeitsstrategie um die erwähnten 17 SDGs umzusetzen. Im Herbst 2020 veröffentlichte die Gruppe den NÖKU Nachhaltigkeitsstandard, einen Veranstaltungsleitfaden für ihre Mitarbeiter:innen, sämtliche Standorte und fast 40 mitwirkende kulturelle und wissenschaftliche Institutionen. Der Standard berücksichtigt diverse Aspekte von Kulturveranstaltungen hinsichtlich Nachhaltigkeit: Veranstaltungsort, Veranstaltungstechnik, Beschaffung, Abfallwirtschaft, soziale Themen (wie z. B. Barrierefreiheit), Mobilität/Transport, Catering/Gastronomie, Kommunikation und Unterkunft.
Der Schlosspark und die Veranstaltungsorte in Grafenegg haben das Nachhaltigkeitsmodell der NÖKU-Gruppe umgesetzt und setzen seit 2021 Nachhaltigkeitsmaßnahmen um (u. a. in den Bereichen Verkehr und Mobilität, Reinigung und Abfallwirtschaft, Energieversorgung, Veranstaltungstechnik und Druck) und wurden dafür neulich mit dem österreichischen Umweltzeichen als „Green Location“ ausgezeichnet. Im sozialen Bereich bemühen sie sich zusätzlich um Jugendausbildung und Barrierefreiheit.
Diese Fälle sind beispielhaft für die Priorisierung von ökologischer Nachhaltigkeit in Europa und Österreich. Der Schwerpunkt liegt bei „grünerem“ Veranstalten aber soziale Nachhaltigkeit – Publikumsinklusion, Gender und Diversität – wird auch im kleineren Ausmaß berücksichtigt. Bislang fehlt allerdings ein ganzheitliches Konzept das auch wirtschaftliche und soziokulturelle Aspekte einschließt. Themen wie Wohlbefinden, faire Bezahlung und Arbeitsbedingungen, Gleichstellung und Gleichberechtigung der Künstler:innen und Mitarbeiter:innen sind genauso wichtig zur Erreichung einer nachhaltigen, gerechten Kulturszene. Hierzu können die nachhaltige Entwicklungsziele der UNO als Rahmen dienen, welcher alle drei Dimensionen – Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft – umfasst, diverse Themenbereiche abdeckt und den globalen Wohlstand anstrebt.
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig anzumerken, dass nachhaltige Entwicklung auch bei der Europäischen Union hohe Priorität hat: Kultur wird z. B. im „EU Work Plan for Culture 2019 – 2022“ und im „New Strategic Agenda 2019 – 2024“ mit allen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht. Die EU sieht Kultur als grundlegendes Element, maßgeblich für die Realisierung nachhaltiger Entwicklung (siehe European Council Resolution on the Work Plan for Culture 2023 – 2026). Die österreichische Kulturpolitik setzt sich für Gerechtigkeit, Fair Pay und Gendervielfalt ein und unterstützt die nachhaltige Stärkung der Kunst- und Kulturlandschaft durch Partizipation und Zusammenarbeit.
Kulturorganisationen, Festivals, Veranstaltungsorte und sogar Künstler:innen müssen aber auch ihre Verantwortung überlegen und wie sie zu einer nachhaltigeren Umwelt beitragen können. Ein rein technokratischer Zugang, der nach externen Lösungen sucht (z. B. die Besessenheit damit, CO2-Austoß zu reduzieren), reicht nicht: Interne Dimensionen müssen auch berücksichtigt werden. Beispiele dafür sind die Auswahl der Künstler:innen für Veranstaltungen mit Augenmerk auf Gender, Diversität, Wohlbefinden, und Fair Pay – sogar hinsichtlich der menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz.
Der Green Touring Guide sieht die größten Hürden bei der Umsetzung von nachhaltigen Veranstaltungsstrategien als „Angst vor höheren Kosten“, „Neuland“, „Verdacht auf ,Greenwashing‘“ und „Zweifel am Nutzen bzw. an der Auswirkung“. Hierzu braucht es einen praxisorientierten, interaktiven Ausbau der Kapazitäten mit Fokus auf Praxislernen. Bewährte, wirksame Verfahren müssen geteilt werden im Sinne eines Wissenstransfers. Diese Sachen sind unentbehrlich für alle, die in der Kulturbranche und darüber hinaus arbeiten: Damit eine Bewegung in Richtung Nachhaltigkeit stattfinden kann, braucht es Kooperation von allen Protagonist:innen – von Entscheidungstragenden und kulturellen Leitfiguren bis hin zu Kulturpraktizierenden, Manager:innen, Publikum und anderen. Der erste Schritt ist die Implementierung einer demokratischen, partizipatorischen, inklusiven Kulturpolitik und nachhaltige Finanzierung.
Es ist wichtig zu akzeptieren, dass wir uns den gängigen, neoliberalen, kapitalistischen Paradigmen abwenden müssen. Diese Logik verlangt ständig nach Wachstum, Gewinn und Macht; stattdessen müssen wir Reduktion und Abbau in allen Bereichen anstreben. Berthold Franke, Regionalleiter der Goethe-Institut für Mittel- und Osteuropa, nennt es „intelligent kleiner werden“ (More Europe, p. 82). Anstatt immer weitere Varianten desselben brauchen wir eine grundlegende Verlagerung von quantitativen zu qualitativen Werten. Abbau und Reduktion sind allerdings freilich mit anderen Herausforderungen verbunden – sie verursachen oder beschleunigen Probleme wie die Notwendigkeit von Rahmenbedingungen für existenzsichernde Löhne für die Schaffung, Produktion und Präsentation von Musik. Der einzige Weg, wirksame Lösungen zu schaffen und nachhaltige, kollektive Zukünfte zu gestalten, ist durch starke Kollaboration innerhalb und außerhalb der Branche.
Die Erreichung nachhaltiger Entwicklung verlangt die Bewirtschaftung von internen und externen Aspekten auf globaler und lokaler und auf Makro- und Mikroebene. So gesehen, um gemeinsam eine nachhaltige Zukunft zu schaffen, müssen die SDGs durch Inner Development Goals (interne Entwicklungsziele) ergänzt werden – transformative persönliche Kompetenzen, die folgende Dimensionen beinhalten: Die Beziehung zu einem selbst, kognitive Fähigkeiten, fürsorglicher Umgang mit anderen Menschen, soziale Kompetenzen und die Ermöglichung von Veränderung. Nichtsdestoweniger müssen wir zuerst unsere Mentalitäten, Kompetenzen, Prioritäten und Werten transformieren, um langfristige Ergebnisse und wirksame Lösungen zu schaffen – und vor allem müssen wir uns der Ursache der Probleme unseres jetzigen Wirtschaftssystems stellen. Denn nur dann können wir effizientere Systeme schaffen, die zu einer Welt führt, die gerechter, grüner und nachhaltiger ist – eine Welt wo Empathie für andere Wesen, das Pflegen unseres Planeten und das Agieren für eine bessere Zukunft zur Selbstverständlichkeit werden.
Aleksandra Bajde (aus dem Englischen übersetzt von Phil Yaeger)