
Es war im Jahr 2000, da hatte Christian Fuchs ein Schlüsselerlebnis. Der Frontmann der mittlerweile aufgelösten Wiener Electro-Pop-Formation Bunny Lake war auf Besuch beim Sónar Festival in Barcelona. „Es waren alle elektronische Spielarten zu hören. Aber auch eine Musik, deren Spirit schon wieder mehr mit Rock´n´Roll zu tun hatte. Elektronische Musik mit einer gewissen Fuck-You-Attitude“. Es wurde dort also ein Gemisch zusammengebraut, das bald darauf mit dem Begriff Electro-Clash seine offizielle Zertifizierung erhielt.
Heute ist dieser Neologismus, wie auch viele andere, schon wieder aus der Nomenklatur verschwunden. Abzulesen ist an dieser Begebenheit allerdings, dass um die Jahrtausendwende die Zeichen im elektronischen Musiksektor auf Öffnung standen. Während in den neunziger Jahren der Austausch zwischen Genres wie Techno, House, Drum and Bass oder Electro eher osmotisch funktionierte, die Dämme selten brachen, schien jetzt alles schön langsam Richtung großes Auffangbecken Pop zu rinnen.

Die Plattenverkäufe allerdings gingen in den Nullerjahren zurück, die digitale und oft kostenlose Verfügbarkeit von Musik ließ die Musikindustrie ächzen und stöhnen. Professionelle Musiker waren mehr oder weniger gezwungen, sich neu zu orientieren. Nicht zuletzt bedeutete das auch, mitunter aus dem Betriebssystem Pop auszuscheren. „Mit einem Album Geld zu verdienen ist ja mittlerweile so gut wie unmöglich geworden“, meint Pulsinger. Und so suchten sich Musiker und Musikerinnen – wie etwa Pulsinger, Wolfgang Schlögl, der Elektroniker bei den Sofa Surfers, die Art-Pop-Chanteuse Eva Jantschitsch alias Gustav, der Popelektroniker Bernhard Fleischmann oder der Schlagzeuger und Produzent Rainer Binder-Krieglstein, Kopf hinter dem Popeklektizismus-Projekt Binder & Krieglstein – Aufgabengebiete abseits des ihnen vertrauten Popschaffens.

Während es lange Zeit üblich war, zumindest alle zwei Jahre ein Album zu veröffentlichen, wurde dieser Zyklus von vielen der Künstler wenig bis gar nicht beachtet. Jantschitsch etwa, die Anfang des letzten Jahrzehnts als Ein-Frau-Unternehmen mit Gustav an den Start ging, nahm es locker und veröffentlichte ihr erstes Album „Rettet die Wale“ im Jahr 2004, „Verlass die Stadt“ folgte im Jahr 2008, das dritte Album ist für Ende 2013 anberaumt. Nichtsdestotrotz hat Jantschitsch es geschafft, sich nachhaltig zu etablieren. Was den Zyklus betrifft, gibt sie sich pragmatisch: „Die Arbeit braucht eben ihre Zeit“. Und ihr Engagement in zahlreichen Nebenprojekten hatte für sie keinen vorrangig wirtschaftlichen Aspekt. Vor allem seien die gemachten Erfahrungen stets auch eine Bereicherung für das Projekt Gustav gewesen. Aber Jantschitsch wie auch Wolfgang Schlögl wissen schon auch davon zu berichten, welche Qualität es hat, wenn man als Künstler(-in) konzentriert ein halbes Jahr an einem Projekt arbeiten kann und dafür auch mit einem fixen Honorar rechnen darf. Rainer Binder-Krieglstein hat dazu ebenfalls eine eindeutige Meinung: „Am Anfang habe ich ‘Nein danke’ zur Theatermusik gesagt. Da war die Popidentifikation so stark, dass ich es mir nicht vorstellen konnte. Mittlerweile nehme ich Angebote dankend an. Es gibt einen klaren Plan, ein fixes Gehalt und man kann daraus auch Inspiration schöpfen.“

Auch wenn manche nur in sehr unregelmäßigen Abständen Popalben unter der Eigenmarke veröffentlichten – ganz verzichten wollte niemand. Sei es aus Gründen der Leidenschaft, um einen Schlussstrich unter eine künstlerische Phase zu setzen, oder nicht zuletzt deshalb – da sind Pulsinger, der im letzten Jahrzehnt als Solokünstler nicht mehr als drei Alben herausbrachte, und Schlögl einer Meinung –, um sich eine Visitenkarte zuzulegen, die viele Türen öffnen kann. „Ich finde ja das Album als Veröffentlichungsform immer noch super. Man sagt: Da stehe ich musikalisch, das ist, was mich interessiert, das sind die Leute, mit denen ich zusammenzuarbeiten“, so Pulsinger.
Ja, es wurde viel zusammengearbeitet im letzten Jahrzehnt. Wer in einer Bandformation verankert war, setzte sich zumindest solo ab, es entwickelten sich Splittergruppen, Duos oder Trios, man half sich mit Remixen aus. Fungierte der eine als Produzent, stand ihm der Produzierte dafür als Musiker zur Verfügung. Und so weiter. Einige Beispiele: Pulsinger bastelte zusammen mit dem Wiener Elektropop-Shooting-Star Wolfram einen Track für dessen erstes, selbstbetiteltes Album im Jahr 2011. Schlögl machte nicht nur unter dem Pseudonym I-Wolf Karriere, sein Album „Soul Strada“ aus dem Jahr 2003 war Meilenstein und internationaler Erfolg zugleich, man fand ihn auch in Formationen wie Paradies der Tiere oder zuletzt Team Tool Time. Trotzdem blieb auch immer Zeit für die Sofa Surfers: Zuletzt erschien der gelungene Release „Superluminal“ (2012). Das Wiener Trio Elektro Guzzi, das dafür bekannt wurde, alleine mit Bass/Schlagzeug/Gitarre technoide Tracks anzufertigen, nahm bei Pulsinger im Studio auf und beteiligten sich im Gegenzug auf dessem feinen Album „Impassive Skies“ (2010).

Aber nicht nur E und U kamen sich näher, auch die Musikergenerationen untereinander hatten wenig Berührungsangst. Fennesz remixte die österreichische Newcomerin des letzten Jahrzehnts Soap&Skin, Pulsinger stand mit Wolfram im Studio, Binder & Krieglstein durfte sich über Gustav als Gastsängerin auf dem Album „Alles verloren“ (2007) freuen, Bernhard Fleischmann setzte für sein Album „Angst Is Not a Weltanschauung“ auf die Stimme von Marilies Jagsch und auch der Altersunterschied der Bunny-Lake-Verantwortlichen Christian Fuchs und Teresa Rotschopf betrug doch einige Jahre. Das obwohl die nachfolgende Generation ihre Arbeit teilweise auch mit einem ganz anderen Verständnis für die Popgeschichte aufzäumte. So war es lange Zeit undenkbar, an einem Genre wie Eurodance anzustreifen. Wolfram Eckert allerdings, der lange Zeit als DJ Marflow unterwegs war und nun als Wolfram für Furore sorgt, hatte auf seinem Debütalbum jenen Haddaway als Gastsänger geladen, der Anfang der Neunziger ein sehr bekanntes Eurodance-Gesicht war.

Dass es künstlerisch zumeist fruchttragend ist, wenn man Grenzen, nicht zuletzt die eigenen, verschiebt und erweitert, lässt sich etwa gut an den Werdegängen von Bernhard Fleischmann oder Binder & Krieglstein veranschaulichen. Während Fleischmann als b.fleischmann auf seinen ersten Alben wie „Pop Loops For Breakfast“ (1999) oder „Welcome Tourist“ (2003) noch auf adrette Elektronik, Instrumental-Tracks mit Frickel-Appeal und die Groovebox setzte, sprach er bei darauffolgenden Werken wie „Angst Is Not A Weltanschauung“ (2008) oder zuletzt bei „I´m Not Ready For The Grave Yet“ (2012) dem Songformat zu, lies die Gitarre gewähren, schrieb Texte, lud Gastsänger wie die Outlaw-Folk-Legende Daniel Johnston oder Sweet William van Ghost (vormals bei Aber das Leben lebt), und griff auch selber zum Mikrofon. Ohne dabei aber seine Handschrift zu verwischen oder überkommenen Traditionalismen das Wort zu reden.
Stets auf der Suche nach neuem Ausdrucksformen war auch der Grazer Produzent Rainer Binder-Krieglstein, Mastermind von Binder & Krieglstein. Der Titel seines Albums „Trip“ (2004) geriet ihm zum Arbeitsmotto für die kommenden Jahre: Auf einer Odyssee durch das Unterholz der populären Musikgeschichte versuchte er nicht nur etwa den steirischen Dialekt mit Clubsounds kurzzuschließen, sondern forschten auch in Volksmusikarchiven, um heimische Traditionen wieder auf der aktuellen Landkarte des Pop einzutragen. „New Weird Austria“ (2010) war nicht nur eine Hommage an die Blasmusik, sondern zeigte auch, dass volksmusikalische Versatzstücke im Lichte des Stroboskops eine eigentümliche Wirkung entfalten können. „Ein lokales Phänomen in die internationale Popmusik einfließen zu lassen, das finde ich spannend“, erzählt Binder-Krieglstein. Und Gustav veranschaulichte auf ihrem Album „Verlass die Stadt“, dass die Blasmusik ihren Platz im Pop auf eine Art und Weise finden kann, dass es zum Weinen schön ist – der Song „Alles renkt sich wieder ein“ entstand unter Mitwirkung der Trachtenkapelle Dürnstein.

Die herausragende Erscheinung innerhalb einer jüngeren Musikergeneration war aber sicher Anja Plaschg alias Soap&Skin. Die gebürtige Steirerin, mittlerweile 22 Jahre alt, schaffte es, mit ihrem Debütalbum „Lovetune for Vacuum“ nicht nur die Herzen der Feuilletonisten höher schlagen zu lassen. Und das weit über die Landesgrenzen hinaus. Ihre tiefmelancholischen Klavierballaden zeichneten sich nicht nur durch eine Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit aus, sie wusste ihrem Liedgut mit widerborstig eingesetzten Laptopsounds einen zusätzlich dramatischen Drall zu geben. Wurde sie anfänglich noch gerne als „Wunderkind“ tituliert, so konnte sie letztes Jahr mit dem Album „Narrow“ ihre Stellung als künstlerische Ausnahmeerscheinung zementieren.
Aber nicht nur mit Balladenkunst im Zeichen der Melancholia, wie Soap&Skin sie pflegt, oder mit euphorischen Poptunes, wie Wolfram sie kredenzt, konnten österreichische Acts im Ausland für Aufsehen sorgen. Neben Christian Fennesz sei vor allem das Wiener Trio Radian erwähnt. Mit einem streng formalisierten Ansatz im Graubereich von Avantgarde, Postrock und Elektronik fanden ihre Alben wie „Juxtaposition“ (2004) oder „Chimeric“ (2009) zum einen auf dem US-amerikanischen Vorzeige-Label Thrill Jockey eine Heimat. Zum anderen wurde Radian auch die Ehre zuteil, dass ihnen John McEntire (Tortoise, The Sea and Cake) in seinem Studio in Chicago den letzten Schliff verpasste. Für die intellektuelle Maßarbeit des Trios interessierte sich schließlich auch der legendäre Folk-Eigenbrötler Howe Gelb (Giant Sand), voriges Jahr standen Radian und Gelb für einen Auftritt in Tirol gemeinsam auf der Bühne.

Nicht zuletzt Elektro Guzzi legen den Schluss nahe, dass das Heilsversprechen der Innovation, welches lange Zeit an elektronische Musikschaffen gekoppelt war, sich nicht mehr in ungehörten, futuristischen Klangwelten erfüllt. Heutzutage ist das Neue wohl eher im Aufbrechen alter Denkweisen, im Beschreiten ungewöhnlicher Wege auf altbekanntem Terrain zu finden. So erfuhr man mit Elektro Guzzi, dass Rhythmusmaschinen auch menschlichen Ursprungs sein können. Binder & Krieglstein oder Gustav zeigten, dass Blasmusik mehr sein kann, als bloß Sinnbild des Reaktionären. Wolfram wusste zu verhindern, dass Eurodance in der Hipster-Disco verlacht wird. Bunny Lake führten vor, dass Electro-Pop ordentlich Zuckerguss verträgt und Soap&Skin, dass auch die klassischen Balladenkunst mit dem Laptop eine Mesallianz eingehen kann. Sicher wird vielerorts die Retroseligkeit im zeitgenössischen Pop zu Recht beklagt. Man könnte es aber mit einem Vergleich aus der Architektur auch ein wenig anders sehen: Findige Architekten schaffen aus den immer gleichen Baustoffen Beton, Stahl, Holz und Glas auch stets aufs Neue originäre Bauwerke.
Foto Gustav: Thomas Degen
Foto Patrick Pulsinger: Elsa Okazaki
Foto Soap&Skin: Marco Prenninger
Foto Christian Fennesz: Maria Ziegelboeck
Foto Burkhard Stangl: Sepp Dreissinger
Foto Bunny Lake: Bunny Lake
Foto Elektro Guzzi: Klaus Pichler