Porträt: Attwenger

Quer durch die Musikgeschichte finden sich unzählige Beispiele dafür, dass diejenigen Musiker, die es fertig bringen, mit ihrer Musik einen völlig unverkennbaren Personalstil zu kreieren, oftmals den schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn entlang wandeln. Bei Markus Binder und Hans-Peter Falkner, die gemeinsam nun schon seit fast 20 Jahren als Attwenger sämtliche stilistische Grenzen pulverisieren, könnte man ebenfalls ohne Weiteres eine halbe Ewigkeit darüber nachgrübeln, auf welcher Seite von Gut und Böse sich denn diese beiden mit ihren Klang- und Sprachspielereien denn nun eigentlich befinden. Genauso gut könnte man es aber auch machen wie John Peel, der da einmal gemeint hat, “I have no idea what it’s all about, but I like the general noise”, und sich einfach an der Musik erfreuen.

Der Grundstein für diese erfreuenswerte Musik wurde bereits im Jahr 1989 in Linz gelegt, wo neben vielen, dem brachialeren Spektrum zuzuordnenden Bands, auch die fünfköpfige Formation “Urfahraner Durchbruch” musiziert hat. Genau genommen, hat man sich dabei mit ausschließlich tradierter Volksmusik, in einer Besetzung, bestehend aus zwei Geigen, Steirischer Harmonika, Gitarre und Bassgeige, den Lärmbands genau diametral entgegengesetzt positioniert. Entsprechend der jederzeit passenden Analogie der Köche, derer zu hohe Anwesenheitsdichte bekanntlich den Brei verdirbt, stellten sich aber auch beim Urfahraner Durchbruch unterschiedliche musikalische Auffassungen ein, die letztendlich, nach zwei Jahren, zur Abspaltung einer Zwei-Mann-Kombo führte, die fortan als Attwenger über die Landesgrenzen hinaus Berühmtheit erlangen sollte.
Bereits bei der Findung ihres Bandnamens haben die beiden Attwenger-Protagonisten Markus Binder (Schlagzeug, Gesang, Maultrommel) und Hans-Peter Falkner (Harmonika, Gesang) klar gestellt, dass sie alles genau so machen, wie alle anderen auch, nur eben doch auch wieder ganz anders. Entnommen wurde der Bandname einem österreichischen Volkslied, genauer gesagt, einem oberösterreichischen Gstanzl, dessen Komposition auf den Tischler Franz Attwenger zurück geht. Für all diejenigen, die mit schwedischen Einrichtungstempeln nicht so viel anfangen können, sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass die Tischlerei “Attwenger” heute immer noch existiert. Musiziert wird dort allerdings heute, wie wohl auch im Jahr 1990, nicht.
Dafür bedarf es nach wie vor geeigneterer Orte, wie bereits die nicht-tischlernden Attwenger in ihren Anfangstagen gewusst haben. Weniger geeignet war allerdings der Zeitpunkt, den sie sich für ihren ersten Auftritt in der Wiener Arena im April 1990 ausgesucht haben, nämlich, so will es der Bandmythos, um drei Uhr morgens, wo für gewöhnlich selbst Fuchs und Hase schon zu müde bzw. betrunken sind, um sich gegenseitig “Gute Nacht” zu sagen. Man kann sich also vorstellen, dass großen Teilen des Publikums, sofern überhaupt noch anwesend, gar nicht aufgefallen war, gerade etwas bisher noch nicht Dagewesenes gehört zu haben.
Einer größeren Öffentlichkeit wurde die Existenz dieser Band erst mit der Veröffentlichung ihres Album-Debuts im Frühjahr 1991 bekannt, obwohl diesem bereits ein Konzertmitschnitt namens “Di Kia” (dem Songtitel “Di Kia gengan auf da Oim entliehen) vom 10. August 1990 voraus gegangen war, der oldschool-mäßig, auf Kassette im Kartonschuber, unters eingeweihte Volk und die damals noch recht überschaubare Fanschar gebracht wurde. Aber erst mit dem bereits angesprochenen Debut-Album namens “Most” (auf dem Münchner Label Trikont) haben Attwenger schließlich sowohl zu einem größeren Publikum, als auch zu dem gefunden, was sich fortan, von Platte zu Platte, in stets verfeinerter Form zum Attwenger-Stil entwickelt hat. Hier werden all die Instrumente, die man für gewöhnlich auch in der Volksmusik findet, zweckentfremdet und Schlagzeug, Ziehharmonika und Maultrommel in einer stilistischen Symbiose aus eben jener Volksmusik, Hip Hop, Polka und Punk zu etwas völlig Neuem zusammen geführt, was auch ganz im Sinne der Protagonisten ist, wie Markus Binder erklärt. “Musik ist immer dann interessant, wenn sie nicht kalkulierbar ist. Und das ist etwas, was Attwenger schon auch machen soll – sich abheben.” Aber nicht nur musikalisch hat man auf “Most” neue Wege eingeschlagen, sondern es wurden auch erstmals eigene Texte verfasst und das Spiel mit der Sprache und dem Dialekt, wenn auch noch nicht derart ausgeprägt, wie auf den nachfolgenden Alben, entwickelt.
Natürlich haben sich Binder und Falkner aber nicht bloß auf den Lorbeeren ausgeruht, die dank des Albums von allen Seiten an sie heran getragen wurden, sondern sind ausgezogen, um diese ihre musikalische Botschaft hinaus in die Welt zu tragen. Und damit ist nicht bloß die Welt gemeint, die für viele an den österreichischen Landesgrenzen ihr Ende nimmt. Vielmehr führte gleich die erste Tour sowohl über die Landes- als auch deutschen Sprachgrenzen hinaus, über Marseille, Amsterdam, Brüssel, London, bis hin nach Kuala Lumpur und Harare. Natürlich wurden auch hier keinerlei sprachlichen Zugeständnisse gemacht und der, den Sound dieser Band prägende, Dialekt beibehalten, was sich keineswegs negativ auf den Publikumsstrom ausgewirkt hat. “Wir kommen mit unserer Sprache überall an, auch wenn wir nicht in Europa spielen. In Pakistan, beispielsweise, oder auch in Sibirien, verstehen uns die Leute genau so. Es geht eben in erster Linie um Rhythmus und der ist universell. Man versteht ja auch nicht jeden Hip Hopper – es geht viel mehr darum, wie man das alles rüber bringt. Für uns ist Musik einfach eine Geschichte, wo Stimmungen entstehen und für alle Beteiligten ein lässiges Erlebnis statt findet. Wo etwas passiert, das man aber nicht genau definiert haben will. Musik bedeutet ganz einfach, ,abheben’, ,Bewegung’ – der Sound ist alles.”
Und in der Tat waren die nachfolgenden vier Jahre von jeder Menge Bewegung geprägt, die untrennbar mit einem ebenso lang anhaltenden Höhenflug, dem erwähnten “Abheben”, verbunden war. Es wurden die Alben “Pflug” (1992) und “Luft” (1993) veröffentlicht, so wie auch die Live-CD “Wirrwarr (1993). Im Jahr 1995 schließlich, kam der “Attwengerfilm” in die Kinos, ein Portrait der beiden Musiker mit Konzertaufnahmen, Video-Clip-artigen Umsetzungen einiger Stücke aus dem Attwenger-Repertoire sowie Interviews mit Musikerkollegen. In dieser Zeit wurde auch demonstriert, dass der Begriff “Bewegung” für Markus Binder und Hans-Peter Falkner nicht bloß eine Floskel darstellt, sondern sich tatsächlich auch im Output nieder schlägt. So finden sich etwa auf dem Album “Pflug” jede Menge punkige Feedback- und Uptempo-Orgien, während beim Nachfolge-Werk “Luft” das Akkordeon als Loop-Element fungiert und die Mundart-Adaptionen über Hip Hop-Beats dahin schweben. Dieser vier Jahre lang anhaltende ständige Höhenflug wurde im Jahr 1995 dann auch noch mit einer Tour bis nach Sibirien gekrönt, während der allerdings, so scheint es, die Motivation, die Band weiter zu führen, eingefroren war und so wurden Attwenger dann im Herbst desselben Jahres tatsächlich auf Eis gelegt – aufgelöst, wie von offizieller Seite her verlautbart wurde.
Damit unterscheiden sich Attwenger nicht besonders von unzähligen anderen Formationen – Auflösungen kommen schließlich in den besten Band-Familien vor. Und auch, dass sich die Mitglieder anschließend wieder in quasi Original-Besetzung zusammen gefunden haben, ist auch noch lange kein in der Musikgeschichte singuläres Großereignis. Allerdings finden sich im Zuge der Reunion zwei Tatsachen, mittels derer sich Attwenger signifikant vom Gros ihrer Künstler-Kollegen abheben konnten. Zum einen hat man bereits ein dreiviertel Jahr nach der Auflösung wieder an neuem Songmaterial gearbeitet und zum anderen ist es Binder und Falkner damit gelungen, nicht bloß an die alten musikalischen Qualitäten anzuknüpfen, sondern vielmehr, diesen, vor allem textlich, noch mal eines drauf zu setzen, wie die 1997er Platte “Song” eindrucksvoll zu dokumentieren weiß.

Nach wie vor setzen Attwenger auf dieser Platte zwar auf die für sie zum Markenzeichen gewordenen Mundart-Sprachspielereien, allerdings sollten diese ab nun noch nuancierter und pointierter ausfallen. Und auch in Sachen Sound ist man keinesfalls stehen geblieben, sondern setzt, ganz im Gegenteil, einmal mehr auf Bewegung – diesmal auch im wörtlichen Sinn, mehr als jemals zuvor. Mit schier endlos scheinenden Trance-Nummern, geprägt von mäanderndem, repetitivem Gesang, ist “Song” sozusagen das Attwenger-Drum’N’Bass-Album geworden. Zudem wurde hier auch die Tradition begründet, die Alben mit doppeldeutigen Titeln zu versehen. So bedeutet “Song” im Dialekt einerseits “sagen”, andererseits  aber natürlich auch auf Englisch “Lied”. Derartiges sollte später auch auf den nachfolgenden Alben, “Sun” (Sonne) und “Dog” (Tag / Hund), seine Fortsetzung finden.

Bevor an diese allerdings auch nur im Entferntesten gedacht werden konnte, musste aber erstmal dem Drang, live aufzutreten, nachgegeben werden. Schließlich war die Phase der Konzertabstinenz hier die längste seit Bestehen der Formation. In jeder Menge einzelner Konzertauftritte sowie Touren, die die Band unter anderem bis nach Ho-Chi-Minh-City, Vietnam (1998) oder auch Lahore, Pakistan (2001) geführt hat, wurden jedoch sämtliche konzertbezogenen Versäumnisse mehr als wett gemacht und eine neue kreative Hochphase erreicht. In diese fallen auch die unterschiedlichsten Kooperationen mit internationalen Ausnahme-Musikern und Gruppen, wie etwa dem Avantgarde-Gitarristen Fred Frith oder der serbischen Roma-Blaskapelle Boban Markovic Orkestar.
Eine kreative Hochphase, man ahnt es bereits, resultiert freilich zwingend immer auch in neuen Stücken, derer auf dem 2002er Album “Sun” gleich 15 Stück ins rechte (Sonnen-)Licht gerückt wurden, darunter auch Ergebnisse der Zusammenarbeit mit oben genannten Künstlern. Mittlerweile dürfte es auch niemanden mehr überrascht haben, dass die einzige Stagnation, das einzig Gleichbleibende, das man bei Attwenger ausmachen kann, eben die Tatsache ist, dass der Sound wieder mal ein gutes Stück weit modifiziert wurde. So finden sich auf diesem Album natürlich wieder alte und liebgewonnene Elemente zwischen Dialekt und Sound, eine Flut an Geschichten, Klängen und Begegnungen, aber auch groovige Pop-Rhythmen sowie Elektro-Dub. Die alten Zeiten, wo lediglich gegen eine Drum-Machine angespielt wurde, gehören spätestens seit dieser Platte Endgültig der Vergangenheit an. Aber eben diese Bewegung ist es, wie Matthias Binder auch deutlich macht, der Attwenger ihren ganz speziellen Sound verdankt. “Es geht einfach immer weiter. Wir sind auf einer Stufe, die sehr ausbaufähig ist und wo wir alles Mögliche sammeln, bestimmte Sounds und Styles mischen. Das ist überhaupt das Wesentliche – viele verschiedene Sachen auszuprobieren und die Mischung. Das geht dann auch schon mal so weit, dass man von einer sich schließenden Klotüre inspiriert wird und versucht, das irgendwie umzusetzen.” Für einfach gestrickte Aussagen in den Texten bleibt bei der ganzen Experimentierfreudigkeit freilich nicht mehr allzu viel Platz, was allerdings durchaus geplant ist. “Die Aussage der Stücke soll ja auch nie so pur und einfach sein – es soll schon alles komplex bleiben. Es gibt zwar schon immer so kurze, greifbare Statements von uns, aber von dem, was der Markt eigentlich verlangen würde, halten wir uns im Allgemeinen fern.” Das wohl greifbarste und bekannteste Statement dieses Albums ist mit Sicherheit “Kaklakariada”, mit dem sie der um sich greifenden Kleingeistigkeit mit der höchstmöglichen Eleganz den Fehdehandschuh ins Gesicht schleudern.
Gleich aus dem Windschatten dieses Albums heraus, haben Binder und Falkner dann die Live-Auftritte wieder aufgenommen, die sie unter anderem auch bis nach Mexiko geführt haben. Dass zwischendurch auch noch ein FM4-Alternative-Act Amadeus Music Award eingesackt werden konnte, bleibt da im Attwenger-Kosmos bloße Fußnote. Denn schon im Oktober 2005 wurde das sechste gemeinsame Album, “Dog”, ans Tageslicht befördert, das, wie gewohnt, wieder einen Schritt weiter darstellt, zugleich allerdings, diesmal in der gleichen Bewegung auch einen Schritt zurück, zu den Anfängen von Attwenger macht. Es ist sowohl Pop- als auch Rock’N’Roll- und Song-Album, das man da mit “Pop” ins Abspielgerät schiebt. Während “Sun” noch geprägt war von unbändiger Kollaborations- und Reiselust, wirkt dieses Album wie eine Art Rückbesinnung auf das Wesentliche, ein Begriff, den man jedoch keinesfalls mit Minimalismus verwechseln sollte.
Vielmehr findet sich auf “Dog” das ganze Musikuniversum, das Binder und Falkner seit der Gründung von Attwenger beständig ausgeweitet haben. Da sind die klassischen Quetschen-Punk-Kracher, dort die vielschichtigen elektronischen Spielereien, es finden sich Blues-angehauchte Stücke genauso wie solche, die zum Polka-Tanzen anregen wollen und daneben noch das erste Liebeslied sowie ein Remix des “Hits” vom Vorgänger-Album – “Kaklakariada”. War dieses Stück auf “Sun” noch das einzige seiner Art, so ist “Dog” nunmehr eine waschechte politische Platte, mit expliziter System- und Gesellschaftskritik geworden, bei der aber freilich das Attwenger’sche Augenzwinkern und der Humor nicht auf der Strecke geblieben sind. Die Protagonisten waren dann offenbar von ihrem eigenen Material selbst so begeistert, dass gleich ein halbes Jahr später, im April 2006, ein Album mit 17 Remix-Versionen diverser Dog-Stücke erschienen ist. Titel hierfür war, man glaubt es kaum, “Dog 2”.
Im selben Jahr wurde das Duo auch von Filmemacher Markus Kaiser-Mühlecker bei zahlreichen Konzertauftritten mit der Kamera begleitet sowie abseits der Bühne zu aufschlussreichen Plaudereien gebeten. Angereichert mit Material aus dem Videoarchiv entstand so eine wohl schon längst überfällige Dokumentation des Attwenger’schen Schaffens, das “Attwenger Adventure”. Das derweil letzte auf Tonträger festgehaltene Lebenszeichen der Band ist neben dieser Doku eine Kollaboration namens “So schnö kaust gor net schaun” mit den Hip Hop-Heroen Texta, die aus deren Album “Paroli” als Single ausgekoppelt wurde und sich innerhalb kürzester Zeit sowohl auf Platz Eins der Alternative-Charts als auch den Plattentellern diverser DJs wohlverdienter Weise wieder gefunden hat.
Nach einer etwas längeren Pause meldeten sich Attwenger 2011 mit einem neuen Album zurück. “Flux”, so der Titel dieses, offenbart einmal mehr das große Können des oberösterreichischen Duos. Abermals wird von den Beiden ein ungemein vielschichtiger Gesamtsound zusammengebastelt, in dem Elemente unterschiedlichster musikalischer Gattungen und Spielformen auf ganz wunderbare Weise in Einklang gebracht werden. Wiewohl Markus Binder und Hans-Peter Falkner ihre Musik nicht komplett neu erfinden. Immer noch finden sich in den Songs schwungvolle Polkarhythmen, immer noch werden deutliche Verbindungslinien hin zur Volkmusik gezogen und immer noch werden die überwiegend gesellschaftskritischen Texte in der Mundart zum Besten gegeben. Dennoch zeigen sich die neuen Songs in ihrem klanglichen Spektrum nochmals erweitert. Vielleicht noch stärker als bisher treten neben Einflüssen aus dem Hip Hop und der Elektronik nun auch solche aus dem Rock`n Roll und Swing. Was die gesamt Sache noch vielschichtiger und abwechslungsreicher erscheinen lässt.

Mit „Flux“ treten Attwenger eindrucksvoll den Beweis an, dass sie noch lange nicht das Ende der kreativen Fahnenstange erreicht haben, dass sie immer noch in der Lage sind, zu überraschen und neue Facetten ihres Schaffens zu offenbaren.

Michael Masen