Der Hamburger Jakob Henneken, auch bekannt unter seinem Künstlernamen SINNTHESE macht nervösen Synth-Pop, der tief verwurzelt ist in der Historie der Neuen Deutschen Welle und der experimentellen Kunstmusik. Seit mehreren Jahren lebt und studiert der junge Künstler in Wien und ist kreativ vielfältig tätig. Am 25.04.2025 veröffentlicht er sein Langspieldebütalbum „Sünder und Sinnstifter“. Im mica-Interview mit Ylva Hintersteiner hat er über sein neues Album gesprochen, über den Konsum, der unseren Alltag prägt und darüber, ob KI ein kreatives, musikalisches Mittel sein kann.
Meine erste Frage: Du bist in Hamburg geboren, studierst aber jetzt in Wien – was hat dich nach Wien verschlagen?
Sinnthese: Ich war irgendwann nach der Matura mit einer Freundin in Wien. Davor hatte ich eigentlich relativ wenig von der Stadt gehört. Ich wusste zwar um das kulturelle Erbe von Wien, aber kannte jetzt niemanden, der da lebte. Wir waren dann ein paar Tage in Ottakring und mir hat das alles sehr gut gefallen. Zum einen das Hochherrschaftliche, dass es noch in Überresten gibt und dann auch diese Verbindung nach Osteuropa. Diese Mischung fand ich sehr ansprechen. Ich begann dann Musikwissenschaften und Philosophie zu studieren, das konnte ich hier gut an der Uni Wien machen. Ich wollte auch raus aus Hamburg, was sehen von der Welt, da hat sich das gut ergeben.
Zurzeit bist du bei bei der mdw gelandet – in welche Richtung geht dein Studium?
Sinnthese: Ich besuche einen Lehrgang für experimentelle und elektroakustische Komposition. Das dauert drei Jahre und da lerne ich alles mögliche an Komposition und Geschichte der experimentellen Musik. Im Vergleich zum Musikwissenschaftsstudium ist es schon noch einmal eine ganz andere Herangehensweise und ein praktischerer Ansatz zu studieren.
Hast du dich vor deinem Studium auch schon für experimentelle Musik interessiert?
Sinnthese: Ja, auf jeden Fall! Mit sechzehn Jahren habe ich mir meinen ersten Synthesizer gewünscht und seitdem mache ich eigentlich experimentelle Musik. Ich habe immer irgendeine Art von Musik gemacht, oft auch in Richtung abstrakte Musik. Vor drei, vier Jahren begann ich dann, popmusikalische Elemente mit experimenteller Musik zu mischen. Daraus sind Projekte entstanden wie das aktuelle Sinnthese-Projekt oder auch eine andere Band von mir, Die Nebenwirkung.

Du hast es schon ein wenig angesprochen – dein Stil bewegt sich irgendwo zwischen experimentellem NDW-Sound, Synth-Pop und Klangkunst. Gibt es eine Geschichte dazu, wie du auf diese Musik aufmerksam geworden bist?
Sinnthese: Ich wurde auf jeden Fall schon mit schräger Musik sozialisiert und habe als Kind durch meine Eltern immer schon schräge Musik gehört. Eine wichtige Figur für mich ist Felix Kubin, ein Experimentalmusiker aus Hamburg. Den habe ich mit etwa vierzehn, fünfzehn Jahren zum ersten Mal bewusst gehört und war sofort begeistert. Er kommt ein bisschen aus der Neuen Deutschen Welle, aber war relativ jung, als er seine ersten Sachen gemacht hat. Im Zuge dieses Interesses habe ich mir dann angehört, was es sonst noch in den 1980er Jahren in dieser Musikrichtung gab. Besonders gefallen hat mir die Mischung aus Popmusikstrukturen und einem sehr freien Ansatz, sowohl was den Text als auch den Klang betrifft.
These und Antithese musikalisch zusammenzubringen.
Dein aktuelles Projekt läuft unter dem Namen „Sinnthese“ – gibt es einen tieferen Sinn dahinter?
Sinnthese: (lacht) Ich habe mir den Namen ausgedacht, als ich meinen ersten Synthesizer bekommen habe und einen Namen gebraucht habe, unter dem ich all meine Sachen veröffentlichen kann. Ich spiele gerne mit Worten und da hat sich das sehr gut ergeben. Der tiefere Sinn dahinter wäre dann die Synthese von verschiedenen Dingen. Ich vereine gerne unterschiedliche Ansätze. These und Antithese musikalisch zusammenzubringen.
Dein Langspieldebütalbum heißt „Sünder und Sinnstifter“ – ebenfalls ein sehr spannender Name, wie ist es zu dem Titel gekommen?
Sinnthese: Ich mache sehr viel assoziatives Schreiben. Der Titel entstand in einer Phase, in der ich viel E-Mail-Kontakt mit Felix Kubin hatte. Ich wollte immer sehr kreativ und frei schreiben und habe mich auch sehr bemüht, das umzusetzen. Es hat sich dann so zusammengefügt, dass daraus eine Art Konzeptalbum entstanden ist, mit dem Anspruch, Gegenwartsphänomene zu behandeln und zu betrachten. Begonnen hat es mit ‚Feinstaub‘ und ‚Raststättenromantik‘, und daraus ergab sich die Idee, diese teils sehr dadaistischen Texte mit Bedeutung aufzuladen – und da passte der Titel gut.
Haben dich für dieses Album spezielle musikalische Einflüsse geprägt?
Sinnthese: Ich glaube schon diese Pioniere der 1980er Jahre. Palais Schaumburg und Der Plan sind zwei große Namen. Und dieser etwas freiere, elektroakustische Ansatz, der teilweise durchscheint, kommt durch die Beschäftigung mit experimenteller Musik seit dem Studium.
„Ich wollte Popmusik machen, die nicht so eine Figur als Projektionsfläche hat.”
Das Album ist jetzt kein ‚Comfort-Album‘ im klassischen Sinne. Es ist stellenweise dicht, chaotisch, fragmentiert und verzerrt – was fasziniert dich an dieser Stilrichtung?
Sinnthese: Ich gehe schon mit dem Ansatz rein, teilweise recht gerne nervige Musik zu machen oder etwas, das aneckt. Wo das genau herkommt, weiß ich nicht, aber es ist jedenfalls ein Verlangen von mir, in diesem Kosmos der Popmusik, in dem immer Figuren geschaffen werden, die Projektionsflächen für eigene Wünsche sind und relatable sein sollen, dagegen zu arbeiten. Ich wollte Popmusik machen, die nicht so eine Figur als Projektionsfläche hat. Deswegen auch die Texte. Es gibt schon oft Ich-Perspektiven und Bezüge zu jemandem. Aber es ist keine emotional nahbare Figur, die da erschaffen wird.
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Immer wieder kommen auch religiöse Referenzen vor, wie „Sünder“ aus dem Titel, oder das Intro „Beichte“ und natürlich am Ende mit dem Satz „Gott ist tot – ich muss leider leben“. Sind Religion und Glaube eine Thematik, die dich beschäftigt und begleitet?
Sinnthese: Ja, ich glaube schon. Zusätzlich auch die Sinnstifter, da Religion in der europäischen Geschichte lange Zeit einen so hohen Stellenwert hatte, der dann plötzlich relativ gering wurde. Jetzt müssen wir uns andere Sinnstifter suchen. Deswegen auch ein bisschen der Titel. Auch in den Texten greife ich immer wieder Gegenstände auf, die sich auf Konsum beziehen, der oft als Sinnstifter gesehen wird. Das Interesse kommt aber auch durch meinen Umzug nach Wien. Ich bin atheistisch aufgewachsen, und Norddeutschland ist zwar evangelisch geprägt, aber auf eine sehr niederschwellige Art und Weise. Religion spielt da nicht so eine große Rolle. Ich war dann doch überrascht, wie viele Menschen ich in Wien kennengelernt habe, die jedenfalls katholisch aufgewachsen sind. Auch wenn sich einige Leute davon frei machen wollen, spielt es im Hintergrund noch eine Rolle. Das ist definitiv auch in die Texte eingeflossen.
„Wir definieren uns einfach extrem viel über das was wir besitzen und bewegen uns ganze Zeit in so einem Rahmen von starkem Konsum.”
Gleichzeitig spielen sehr alltägliche, vielleicht sogar für manche unspannende Themen, wie Tiefgaragen, Rolltreppen und Raststädten eine Rolle in deinen Liedern – wie kommt es dazu?
Sinnthese: Vielleicht ist das auch so ein Ansatz – was sind die Platzhalter für Religion? Die Objekte und der Objektfetischismus, den wir haben. Wir definieren uns extrem viel über das, was wir besitzen, und bewegen uns die ganze Zeit in einem Rahmen von starkem Konsum. Da hat sich das Kaufhaus mit seinen Rolltreppenträumen gut eingefügt. Aber eben hochtrabende, bedeutungsvolle Sätze, gerne gepaart mit ganz plumpen und banalen Dingen. Das fand ich künstlerisch sehr spannend, zusammenzubringen und auf eine Art zu entzaubern. Ich nehme in meinem künstlerischen Prozess alles in mir auf, und das kommt dann in einer Form wieder heraus, vielleicht aber auch in anderen Kontexten.
Scheint Wien in deiner Musik durch?
Sinnthese: Gute Frage. Zumindest insofern, dass die Großstadt als Thema in meine Musik einfließt. Ich bin aber auch sehr kurz hier und maße mir nicht an, jetzt den Wiener Schmäh oder eine lokale Färbung mit einfließen zu lassen. (lacht) Ich fände es für mein musikalisches Produkt auch nicht so passend, weil es trotz den Banalitäten sehr losgelöst ist von konkreten Orten und Zuschreibungen. Das geht auch wieder einher mit dem, dass ich keine Kunstfigur erschaffen wollte. Trotzdem bin ich viel in Wien unterwegs, schaue mir Konzerte an und bin froh über die vielfältige Szene, gerade im Bereich der experimentellen Musik und das hat sicher auch eine Rolle gespielt darin, dass ich mich für mein Studium an der mdw entschlossen habe. Das fließt dann unweigerlich mit hinein.
Kannst du einen kleinen Einblick in deine Arbeitsweise geben? Wie entsteht deine Musik?
Sinnthese: Das Herzstück meiner Musik ist der Synthesizer, den ich damals bekommen habe, der KORG MS20. Mit dem mache ich entweder eine Melodie oder etwas Rhythmisches. Ich arbeite viel mit Loops, sodass ich in eine Art Trance komme und darin auch das assoziative Schreiben betreibe. Dabei produziere ich sehr viele Texte und spreche auch immer wieder, um zu schauen, was gut in den Loop hineinpasst. Die Texte basieren oft auf Alltagsbeobachtungen, die ich dann häufig auf meinem Handy notiere. Das fungiert dann als eine Art Datenbank für meine späteren Texte.
„Vieles ist analog, aber ich könnte zum Beispiel auch mit einem Vierspur-Tape-recorder aufnehmen, was ich im Moment nicht mache.”
Arbeitest du rein analog, rein digital oder gibt es da eine Mischung?
Sinnthese: Es ist eine Mischung und ich bin da auch nicht so festgefahren. Vieles ist analog, aber ich könnte zum Beispiel auch mit einem Vierspur-Tape-Recorder aufnehmen, was ich im Moment nicht mache. Da bin ich schon sehr froh über die Produktionsmöglichkeiten, die es heutzutage gibt. Man kann einfach super viel ausprobieren, Sachen löschen und bearbeiten, was rein analog nicht so leicht möglich wäre.

Den Korg MS20 als Herzstück hast du schon angesprochen. Mit welchen Geräten und Programmen arbeitest du noch gerne?
Sinnthese: Neben dem Korg jedenfalls mit der TR606, eine Drummachine, die ebenfalls in den 1980er Jahren viel verwendet wurde. Was ich auch sehr gerne habe, aber auf dem Album gar nicht so viel vorgekommen ist, ist Sampling von existierenden Filmen und Videos auf YouTube. Sowie ich textlich irgendwelche Sachen aus dem Alltag aufgreife, mache ich das auch mit Sound, den ich dann bearbeite und in meine Musik einbaue. Ein Beispiel ist die stark verzerrende Gitarre im Intro „Beichte“. Es gibt ja auf YouTube tausende Live-Streams mit Chill-Out Musik und davon habe ich ein Schnipsel verwendet. Das hat gut gepasst, weil diese Chill-Out Musik ein wenig leblos ist, die man jetzt mit KI auch endlos produzieren kann.
„Es kann möglicherweise interessante Impulse setzten, aber für mein künstlerisches Arbeiten ist es relativ unspannend.”
Interessanter Punkt, den du da erwähnst – wie stehst du aus künstlerischer Sicht zu KI und wird das auch im Studium thematisiert?
Sinnthese: Ja, absolut. Vor ein paar Wochen hatte ich einen Workshop zu Artificial Voice Cloning. Es ist eben darum gegangen, wie man seine eigene Stimme oder komplett andere Stimmen erschafft. Zum Beispiel haben wir auch Fieldrecordings in diese Cloning Protokolle eingeschleust. Es ist schon lustig, aber man würde auch irgendwie selber darauf kommen, das so umzusetzen. So zufrieden war ich mit den Ergebnissen nicht. Es ist halt eine komplette Blackbox, wo du überhaupt nicht weißt, was da passiert. Es kann möglicherweise interessante Impulse setzten, aber für mein künstlerisches Arbeiten ist es relativ unspannend.
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Weil gerade Stimme auch das Thema war – wie arbeitest du mit der Stimme in deiner Musik?
Sinnthese: Ich bin da relativ puristisch. Wenn man zum Beispiel Darkwave macht, arbeitet man viel mit Hall, Delay und Distortion. Das kann sehr interessant sein, aber ich mag es eher, wenn die Stimme relativ klar ist. Ich habe zwar hin und wieder mit Chorus und Stereopanning gearbeitet, aber nur in sehr kleinem Rahmen. Es ist nicht wie ein Instrument mit dem ich sehr viel arbeite, sondern ein Mittel, um Inhalt zu transportieren.
„Oft beginne ich mit einem längeren Intro, um die Leute, egal wo sie gerade sind, in diese Welt, die ich erschaffe, einzuladen.”
Regelmäßige Tourneen im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus, gehören für dich auch dazu – wie kann ich mir ein Konzert von dir vorstellen?
Sinnthese: (lacht) Immer sehr unterschiedlich. Aber das liegt weniger daran, dass ich immer so unterschiedliche Musik spiele, sondern weil jeder Raum so anders ist und jede Publikumszusammensetzung. Es kommt sehr darauf an, wer diese Räume füllt, wer dort hingeht und wer zuvor gespielt hat oder nach mir spielen wird. Ich habe mit Jazz-Bands gespielt und das war sehr amüsant, weil davor alle Leute bekifft am Boden lagen und sich in ihre eigenen Sphären versetzt haben. Dann kam ich daher mit meiner sehr scharfkantigen Musik, die komplett anders war. Aber es hat funktioniert und hat die Leute auch abgeholt und mir hat das viel Spaß gemacht. Oft beginne ich mit einem längeren Intro, um die Leute, egal wo sie gerade sind, in diese Welt, die ich erschaffe, einzuladen.
Wie sehen deine nächsten (musikalischen) Pläne aus? Gibt es schon konkrete Ziele?
Sinnthese: Geplant ist jetzt mal eine große Europatour im November und Dezember. Dann bin ich aber auch mal froh, das Projekt jetzt einmal als physisches Produkt zu haben und dann auch abschließen zu können. Ich arbeite an manchen Songs seit 2020 und die jetzt fertig zu haben, ist schön. Zurzeit mache ich auch den Ton für einen Kurzfilm und möchte in diesem Bereich, auch im Kontext von experimenteller Musik, gerne mehr machen und mich darauf zu fokussieren.
„Uns haben die Orte gefehlt für mehr DIY und subkulturellem Punk Selbstverständnis.”
Und du organisierst zur Zeit auch eine Veranstaltungsreihe mit.
Sinnthese: Ja genau. Gemeinsam mit einer Freundin versuchen wir experimentelle Musik und schräge Pop-Musik zusammenzubringen. Das Ganze soll in der Schönbrunnerstraße 6 beim Vinylograph stattfinden. Brii aka Power ist schon seit den 1990er Jahren im Underground in Wien unterwegs und mir ist auch aufgefallen, als ich nach Wien kam, dass es nicht so viele Orte für experimentelle Musik gibt. Beziehungsweise jene, die es gibt, sind oft sehr elitär und akademisch geprägt. Uns haben die Orte gefehlt für mehr DIY und subkulturellem Punk-Selbstverständnis. Diesen Ort schaffen wir uns jetzt selbst. Die Veranstaltungsreihe läuft unter dem Namen Immer Wieder Sonntags und die erste Ausgabe findet am 11. Mai statt, ab 16 Uhr mit Gunship Collider und GRUBI.
Das hört sich wirklich interessant an.
Viel Erfolg damit und danke für das nette Gespräch!
Ylva Hintersteiner
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Live
25.04. Hafenklang, Hamburg
24.05. Chair De Poule, Paris FR
31.05. Blechsonne Festival
27.06. Fusion Festival
04.10. Žižkárna, Budweis CZ
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