Am Montag, den 12. Juni starb der aus Ungarn stammende, in Wien und Hamburg lebende Komponist im Alter von 83 Jahren nach langer, schwerer Krankheit. “Mein Leben lang fand ich Dogmen uninteressant. In unentdeckte Bereiche vorzustoßen betrachte ich als meine vornehmste Aufgabe. Wie sich komplexe Strukturen aus höchst einfachen Prozessen entwickeln, das ist die Lektion, die wir aus dem Studium der Struktur lebendiger Organismen und tierischer wie menschlicher Gesellschaften lernen können.”
“Kunst ist etwas sehr Emotionelles [.] Die Musik ist für mich keine Insel, sondern Teil eines komplexen Lebens- und Arbeitszusammenhangs. In meiner Musik gibt es keine Weltanschauung. [.] Ich bin gegen Gurus, Sendungsbewusstsein und schöne Worte. Ich liebe den heutigen Pluralismus.”
Die Musikwelt trauert um György Ligeti. Er war einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Am Montag, den 12. Juni starb der aus Ungarn stammende, in Wien und Hamburg lebende österreichische Staatsbürger im Alter von 83 Jahren nach langer, schwerer Krankheit. György Ligeti hatte bereits die Ehrungen anlässlich seines 80. Geburtstags (Adorno-Preis der Stadt Frankfurt/Main) im Jahr 2003 im Rollstuhl empfangen müssen. Bei Wien Modern 2003, wo ihm eine große Personale gewidmet wurde, war er bei einigen Konzerten noch mitten unter uns – im obligaten bunten Pullover. Das Publikum feierte ihn und die von ihm gespielten Werke enthusiastisch: Es war eine begeisternde Festivalwoche, in dem sein schillerndes, vielschichtiges OEuvre in geballter Form zu hören, zu erleben war – von den berühmten Atmosphères (1961) über das Requiem (1963-65), dem Poème symphonique für 100 Metronome (der zugleich simpelsten wie ingeniösesen Versuchsanordnung in Sachen Polyrhythmik), Auszügen aus der Oper Le Grand Macabre, dem tollkühnen Klavierkonzert aus den achtziger Jahren und natürlich den epochalen Études pour piano, die sich von ihrem kompositorischen und innovativen Rang her mit den großen Klavierkompendien von Chopin oder Debussy auf eine Stufe stellen lassen. Für die Meisten war das die letzte Begegnung mit Ligeti in der Öffentlichkeit.
Geboren wurde György Ligeti am 28. Mai 1923 in der Kleinstadt Dicsöszentmarton (seit 1920 zu Siebenbürgen/Rumänien gehörig). Fast seine gesamte Familie – Ligeti war jüdischer Herkunft – wurde von den Nationalsozialisten ermordet, der Vater in Bergen-Belsen, der Bruder im KZ Mauthausen, die Mutter überlebte das Lager Auschwitz-Birkenau.
In Klausenburg besuchte Ligeti die ungarische Volksschule und das rumänische Gymnasium, bei Ferenc Farkas erhielt er am Konservatorium Kompositionsunterricht. Bereits 1939 schrieb er eigene Symphoniesätze. Von 1945-49 studierte er an der Budapester Musikhochschule Musiktheorie und Komposition, zeitweise auch Volksmusikforschung, war dort dann bis zu seiner Flucht nach dem Ungarn-Aufstand 1956 als Dozent tätig. Heimlich hörte er westliche Radiosendungen, um die aktuellsten musikalischen Entwicklungen verfolgen zu können. Bereits die Klavierstücke Musica Ricercata (1951-53) weisen ihn als originären Neuerer aus.
Nach kurzem Aufenthalt in Wien arbeitete György Ligeti 1957/58 als freier Mitarbeiter im Studio für elektronische Musik des WDR Köln. Von Herbert Eimerts hatte er die Einladung dorthin erhalten, lernte dort Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Luciano Berio, Mauricio Kagel und andere Komponisten der Neuen Musik-Avantgarde kennen. In dieser Zeit entstanden einige elektronische Kompositionen, doch widmete er sich später weiter verstärkt der Instrumentalmusik, die jedoch von der Auseinandersetzung mit elektronisch erzeugten Klängen beeinflusst ist.
Seine Orchesterstücke Apparitions (1958-1959) und Atmosphères (1961) – letzteres Werk brachte ihn ins internationale Rampenlicht der Aufmerksamkeit – begründen einen neuen Klangflächenstil der extremen polyphonen Verdichtung (Mikro-Polyphonie): Eröffnet wird Atmosphères mit einem – so massiven wie stillen – Cluster-Akkord, in dem jeder Ton der chromatischen Skala über fünf Oktaven gleichzeitig erklingt. Weitere signifikante Stücke aus den sechziger Jahren: Requiem, Lux aeterna, Lontano, Continuum, Ramifications, Zweites Streichquartett. Auszüge aus einigen dieser Werke erlangten Berühmtheit als Soundtrack zu Stanley Kubricks Film “2001: A Space Odyssey”. Das Honorar dafür erhielt er Jahrzehnte später.
1959-69 in Wien lebend, wurde György Ligeti 1967 auch österreichischer Staatsbürger, war Dozent bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, Gastprofessor für Komposition in Stockholm, Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, und hatte 1973-89 eine Professur an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Musik in Hamburg inne.
Seine Oper Le Grand Macabre (1974-1977, zweite Version:1996) steht international immer wieder auf den Spielplänen. Die Aufführung 1997 bei den Salzburger Festspielen wurde zu einem Triumph des Komponisten.
In den achtziger und neunziger Jahren hat György Ligeti seine komplexen polyrhythmischen Kompositionstechniken weiterentwickelt, sie mit polyphonen Techniken des XIV. Jahrhunderts, aber auch mit verschiedenen ethnischen Musiken (u. a. zentralafrikanischer Stämme) bereichert. Wichtige Werke dieser Zeit: Das Horntrio (1982), die Etudes pour piano (1985-95, Troisième livre: 1996-2001), das Klavier- (1985-88) und das Violinkonzert (1990-92), Nonsense Madrigals (1988-1993), Sonate für Viola solo (1991-1994), Hamburger Konzert für Horn und Kammerorchester (1999) Síppal, dobbal, nádihegeduvel/Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen für Mezzosopran und vier Schlagzeuger (2000). Zuletzt beschäftigte György Ligeti sich wieder mit Musiktheater, er wollte an einer Oper nach Lewis Carrolls Alice in Wonderland arbeiten, doch seine Krnakheit hat das wohl nicht mehr zugelassen.
Preise und Ehrungen hat György Ligeti in seinem Leben viele erhalten, wir nennen hier noch den Commandeur dans L’Ordre National des Arts et Lettres, den Polar-Musikpreis der Königlichen Musikakademie Schweden (2004) und den Frankfurter Musikpreis 2005 für sein Lebenswerk. In Österreich erhielt György Ligeti 1987 das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst der Republik Österreich, den Ehrenring der Stadt Wien, 1990 den Großen Österreichischen Staatspreis, seit 1990 ist er Ehrenmitglied des Österreichischen Komponistenbundes, seit 2003 Ehrenmitglied der Wiener Konzerthausgesellschaft. Er selbst hat einen Ligeti-Kompositionspreis gestiftet. (Heinz Rögl)