„DIE WIENER SZENE ZEIGT GEMEINSAM SOLIDARITÄT“ – ANNIKA STEIN (TONGRÆBER) IM MICA-INTERVIEW

Der Verein TONGRÆBER veröffentlichte zuletzt die „Ceasefire Compilation“– eine Zusammenstellung an Tracks von 24 Wiener Künstler:innen, die Zeitdokumente zwischen Ambient und Techno produziert haben. Alle Einnahmen aus dem Projekt gehen an Organisationen, die sich für Hilfe in der Ukraine einsetzen. Die Gründerin von TONGRÆBER, ANNIKA STEIN, hat im Gespräch mit Christoph Benkeser erklärt, wie es zu dem Projekt kam, wieso die Clubszene dadurch zusammenrücken kann und warum man nicht nur die Crowd pleasen muss.

Unter deinem Label Tongræber erschien zuletzt die „Ceasefire Compilation“. Darauf versammelst du Künstler:innen aus Wien, die jeweils einen Track veröffentlichen – alle Einnahmen gehen als Spenden an Hilfsorganisationen für die Ukraine.

Annika Stein: Im Zuge dieses Projekts fand ich schön zu sehen, dass sich die Wiener Szene nicht in einem Wettbewerb befindet. Es ging nicht darum, wer welche Gäste auf das eigene Event oder die alleinige Aufmerksamkeit bekommt. Mit dieser Compilation haben wir viele unterschiedliche Kollektive aus Wien zusammenbringen können. Deshalb ist es wichtig zu realisieren, dass wir gemeinsam Solidarität zeigen können, ohne an die Competition zu denken.

Wie bist du das Projekt angegangen?

Annika Stein: Als der Krieg ausgebrochen ist, hat es uns wirklich getroffen. Wir haben geweint und uns ohnmächtig gefühlt, konnte nichts machen. Dadurch haben wir den Gedanken entwickelt, als Gruppe von Artists aufzutreten, die zwar alle kein Geld und nicht die größte Reichweite haben, dafür aber gut produzieren können. Ich muss dazu sagen: Tongræber veröffentlicht erst seit Anfang dieses Jahres Musik. Wir hatten im Jänner den ersten gemeinsamen Label-Release, danach kam eine EP von ADHDJ im Februar. Davor haben wir unsere Produktionen über mehrere Jahre nur in unseren Live-Sets gespielt. Jetzt sind wir im Flow, deshalb konnten wir die „Ceasefire Compilation“ schnell aufstellen.

Von der alle Einnahmen an Hilfsorganisationen gehen.

Annika Stein: Genau, mein Partner hatte die Idee. Wir haben eine Aussendung aufgesetzt und an unser Netzwerk versendet. Außerdem haben wir bei female: pressure angefragt, das Projekt zu unterstützen. Das ist passiert, das Projekt hat die Runde gemacht. Plötzlich bekamen wir Tracks wie Journey to Tarab, Kultur for President, Hausgemacht, Meat Recordings, Bʉnker Mʉkke, Ananas, push und Klub Montage. Wir bekamen zusätzlich Support aus Deutschland, Spanien und Griechenland. Dabei hatten wir nur eine Deadline von einer Woche angegeben. Zum Glück gibt es genügend Produzent:innen, die unveröffentlichte Tracks auf ihrer Festplatte haben. Manche haben aber auch eigens Stücke für die Compilation produziert.

Cover “Ceasefire Compilation”

Tracks, die unterschiedlichste Genres abdecken.

Annika Stein: Das war uns wichtig. Wir sind Tongræber, ein Verein für elektronische Klangkunst. Bei uns hat Platz, was sich mit elektronischer Musik beschäftigt – auch wenn sich unser Verständnis davon stärker in Richtung Techno, Downtempo, Experimental und Ambient orientiert. Der Release ist eine Melange aus diesen Einflüssen. Wir haben erfahrene Produzent:innen und andere, die das erste Mal veröffentlicht haben. Hier kommt die Wiener Szene zusammen.

Ja, neben dem guten Zweck funktioniert die Veröffentlichung auch als Zeitdokument für das, was innerhalb der Wiener Szene gerade geht.

Annika Stein: Absolut, es ist ein Zeitdokument, das einen Moment in unserer Welt umfasst, in dem wir extrem nah an der Ukraine-Krise sind. Nicht nur geographisch, sondern auch emotional. Das zeigt sich deutlich in den einzelnen Musikstücken. Die Krise und der Schmerz der Zeit fließen in die Tracks ein, man hört das. Generell beobachte ich, dass die elektronische Musik in Wien seit der Pandemie immer aggressiver und härter, gleichzeitig aber auch emotionaler geworden ist. Ich merke das auch in meinen eigenen Produktionen. Der harte Techno spiegelt den Zeitgeist wider. Die Menschen leben unter einer Wolke von Angst, Depression und Furcht. Das zeigt sich in der und durch die Musik. Gleichzeitig wird sie zu einer Hilfestellung, um diese Angst zu bekämpfen.

Du meinst den aktuellen Abrissbirnen-Techno?

Annika Stein: Voll, trotzdem finden sich auf unserer Compilation auch Ambient-Tracks, die mich persönlich entspannen, wenn ich sie anhöre. Genau das ist gerade wichtig – eine Balance zu finden zwischen einem Ventil, um die Ängste und Aggressionen rauszulassen. Und eine Möglichkeit, sich aus diesem Zustand zu befreien und entspannen zu können.

Das funktioniert mit 24 Tracks auf der Compilation gut. Wie kommt das Projekt an?

Annika Stein: Wir haben den Release bisher nur auf Instagram beworben. Inzwischen haben wir außerdem ein paar Radioslots bekommen, es kommen also noch Kanäle dazu. Bisher haben wir durch den Release 412 Euro gesammelt. Das ist ein guter Anfang für unsere Reichweite. Deshalb danke an alle, die uns bisher supportet, mitorganisiert und Musik, Grafik und Verträge gemacht haben.

Für Spenden-Interessierte verlinken wir die Veröffentlichung hier. An welche Organisationen geht das gesammelte Geld?

Annika Stein: Wir splitten zwischen zwei Organisationen: Mission Lifeline und Queere Nothilfe Ukraine. Es geht dabei um Hilfe und Unterstützung bei der Flucht von Menschen aus der Ukraine. Und um den Support für marginalisierte Gruppen, die diese Situation besonders hart trifft.

Wie hast du die beiden Organisationen ausgewählt?

Annika Stein: Unser Vereinsmitglied Sandro [Nicolussi, Anm.] hat die Organisationen vorgeschlagen. Stehen solche Entscheidungen an, treffen wir sie innerhalb des Vereins generell demokratisch. Wir tauschen uns aus, wiegen ab – deshalb haben wir auch bewusst dazu entschieden, dass unsere Unterstützung nicht über die katholische Kirche läuft. Sowohl Lifeline als auch Queere Nothilfe sind unabhängige Organisationen, hinter denen wir zu 100 Prozent stehen.

Tongræber ist damit in Wien bisher das einzige Label, das sich in Form einer Compilation für die Ukraine-Krise einsetzt.

Annika Stein: Wir dachten, dass wir eines von vielen Labels sein werden. Meines Wissens ziehen noch andere nach. Trotzdem muss ich dazusagen: Die Situation ist für viele lähmend. Dafür passiert in Wien viel. Unterschiedlichste Organisator:innen haben Veranstaltungen organisiert, von denen alle Einnahmen an Spendenorganisationen gingen. In unserer Subkultur herrscht viel Solidarität.

Wir haben es vorhin kurz angesprochen: Tongræber existiert erst seit diesem Jahr als Label. Davor wäre so eine Aktion gar nicht möglich gewesen.

Annika Stein: Genau, schließlich haben wir davor hauptsächlich Events veranstaltet. Unser harter Kern hat sich 2018 kennengelernt. Seit Februar 2019 sind wir ein gemeinnütziger Verein. Wir haben also Veranstaltungen organisiert und Floors für andere Events wie „Zusammen Kommen“ in der Grellen Forelle gehostet. 2021 haben wir außerdem ein Video-Projekt probiert – Klangkunst im Ernst-Fuchs-Museum. In der Otto-Wagner-Villa haben wir verschiedene Live-Sets performt, filmkünstlerisch verarbeitet und als Online-Event präsentiert. Die Entwicklung hat gestimmt. Wir hatten zunehmend häufig Eigenproduktionen auf Lager. Deshalb wollten wir eine Plattform schaffen, um diese Kreativität mit der Welt zu teilen.

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Die Wiener Szene legt nicht mehr nur auf, immer mehr Leute beginnen zu produzieren.

Annika Stein: Es fühlt sich wie ein natürlicher Prozess an. Nach einer gewissen Zeit, in der man die Tracks anderer Leute spielt, will man automatisch mehr. Sich durch eigene Produktionen auszudrücken, ist außerdem ein ganz anderes Gefühl. Wien hat musikalisch so viel zu bieten, traut sich aber zu selten, es einer Außenwelt zu präsentieren.

Wie bist du eigentlich zum Produzieren gekommen?

Annika Stein: Ich hab als DJ angefangen und bin aus Liebe zur Musik zum Produzieren gekommen. Für mich war das neu, ich musste das lernen.

Lief das nach dem Narrativ: Gecrackte Ableton-Version und geht scho?

Annika Stein: Nein, gar nicht! Ich kaufe meine Musik, ich kaufe meine Software, ich kaufe mein Equipment. Das ist mein Business. Schließlich hab ich eine Musikproduktionsfirma – wenn ich nicht Geld bezahle für das, was ich verwende, kann ich mir umgekehrt nicht erwarten, bezahlt zu werden. Deshalb crack ich gar nichts.

Ehrliche Herangehensweise. Viele probieren sich erst aus, investieren später.

Annika Stein: Die erste Ableton-Version zum Ausprobieren bekommt man eh gratis. Mir war aber klar: Wenn ich mir in Richtung Musikbusiness was leisten will, arbeite ich ein paar Monate im Food Truck und verdien nebenbei Geld. Das hat immer funktioniert.

Dadurch geht ein ganz anderes Commitment für die Sache einher.

Annika Stein: Genau. Ich hab getan, was für meine Ziele notwendig war. Wenn das heißt, dass ich jede Woche irgendwo auftrete, um es mir leisten zu können, ein Studio aufzubauen, ist das Commitment – und das haben in Wien gerade viele. Krisenzeiten sind schließlich Blütenzeiten für die Kunst.

vlnr. ADHDJ, wereddafox, Annika Stein (c) Sarah Joy

Du produzierst oft Auf-die-Zwölf-Techno. Hart, brutal, kompromisslos. Da landen die wenigsten durch Zufall. Wie kommt’s bei dir?

Annika Stein: Techno hab ich das erste Mal im Food Truck gehört. Ich stand hinter der Fritteuse, während mir mein Kollege lauter Tracks von Klockworks [Label von Techno-Produzent Ben Klock, Anm.] vorgespielt hat. Das hat ein Feuer in mir entfacht. Ich kam zu Dark Techno, spielte früher aber noch langsamer und vor allem andere Tracks, weil sowohl Zeitgeist als auch Events andere waren. Dazwischen habe ich herumexperimentiert, Downtempo aufgelegt oder eher in Richtung Breaks. Mittlerweile spiele ich für ein Techno-Publikum, mit dem ich mich musikalisch wohlfühle.

Das entspricht auf jeden Fall dem Zeitgeist.

Annika Stein: Ja, es ist ehrliche Musik. Als ich mit 23 angefangen habe aufzulegen, spielte ich überwiegend Musik, von der ich wusste, dass sie die Leute mögen werden. Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich das widerlich fand. Deshalb hab ich meinen Stil geändert und bin konsequent geblieben – selbst wenn ich mit manchen Tracks manchmal den Floor leergespielt habe.

Dafür bist du …

Annika Stein: Jetzt da, wo ich sein will!

„DIE BEGEISTERUNG MUSS WÄHREND DES SPIELENS BEI MIR LIEGEN.“

An welchem Moment hast du realisiert, dass du nicht mehr nur die Crowd pleasen willst, sondern deinem künstlerischen Anspruch entsprechen willst?

Annika Stein: Die Begeisterung muss während des Spielens bei mir liegen. Nur dann kann ich sie auf andere übertragen. Wenn mich die eigene Musik anfuckt und nur das Publikum begeistert, fehlt eine Seite.

Und in welche Richtung möchtest du Tongræber weiterentwickeln? Siehst du es als Label, als Veranstaltungskollektiv, oder geht das mittlerweile ohnehin über?

Annika Stein: Gute Frage. Ich muss das mit meinen Kolleg:innen aus dem Verein besprechen. Schließlich sind die Entwicklungen, die wir bisher gemacht haben, doch unerwartet – wenn auch wunderschön! Allein deshalb liegt es mir daran, das Label weiterzuführen. Auf Veranstaltungsebene sind wir derzeit eher reserviert. Mini-Floor-Hostings werden wir zukünftig nicht mehr machen. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht, es zehrt an der Energie. Trotzdem sind wir Neuem nie verschlossen gegenüber.

Vielen Dank für das Gespräch, Annika!

Christoph Benkeser

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Links:
Ceasefire-Compilation (Bandcamp)
Tongraeber (Instagram)
Annika Stein (Facebook)
Annika Stein (Soundcloud)