Das alljährliche Wochenende Ende April in Witten ist gleichsam das kammermusikalische Pendant zur großen deutschen “neuen Musikmesse” Donaueschingen, die im Herbst stattfindet. Witten ist ein Ort der Uraufführungen, aber auch ein Treffpunkt all derer, die sich mit zeitgenössischer Musik beschäftigen. Ein Bericht von Nina Polaschegg, der sich ausführlich auch mit den dort präsentierten Kompositionen von Peter Ablinger beschäftigt.
Stimme und InstrumentalklangWo liegt dieser Ort? Das fragt man sich nicht nur außerhalb Deutschlands. Witten ist ein kleines Städtchen, nicht weit von Dortmund entfernt und alles andere als kulturell bedeutend. In den 30er Jahren rief ein Musikschullehrer dieses Festival für neue Musik ins Leben, seit 1969 wird es vom WDR, dem Westdeutschen Rundfunk veranstaltet. Und alljährlich sind die Konzerte gut besucht.
Der künstlerische Leiter des Festivals, Harry Vogt, betont die Vorteile gerade eines solch kleinen Veranstaltungs-Ortes: “Es wird natürlich immer den Charakter einer Fachmesse behalten. Das hätten wir in Köln garantiert nicht. In Köln verläuft sich ein Publikum ganz anders als in Witten. Wenn man in Witten ist, dann geht man auch in alle Konzerte, trifft Kollegen, hat die Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen. Ich denke, diese Festivals gehören auch in die kleinen Orte.” Mit elf Konzerten in zweieinhalb Tagen ist das Programm gut gefüllt. Während in Donaueschingen vorzugsweise Orchesterwerke aus der Taufe gehoben werden, widmen sich die Kammermusiktage in Witten den intimeren Besetzungen. Seit einigen Jahren gibt es neben den traditionellen Konzerten für zeitgenössische Musik auch eine experimentellere Schiene. Abwechselnd ist sie einem Komponisten oder einem Musikerkollektiv gewidmet, konzentriert sie sich auf Performances oder Grenzbereiche zwischen freier Improvisation und Komposition. In diesem Jahr durchzog das Thema Stimme sowohl die “konventionellen” Konzerte als auch die Performances.
Dabei standen weniger Vertonungen im Mittelpunkt als die Idee, die menschliche Stimme in rein instrumentalen Klang zu übertragen. George Aphergis beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Stimme, nicht nur in zahlreichen Bühnenstücken. Sein neues Bühnenwerk “Zeugen” mit Texten von Robert Walser komponierte er für sieben Handpuppen von Paul Klee für Stimme, Puppenspieler/Sprecher, Bassklarinette, Altsaxophon, Akkordeon, Cimbalon, Klavier und Live-Video. Kurze Prosastückchen, Charakterdarstellungen von Robert Walser werden gesprochen, scheinbar den Handpuppen Klees zugeordnet. Diese werden allerdings nicht als Akteure auf der Bühne bewegt, sondern mit einer Live-Kamera “ausgeleuchtet”. Bildausschnitte dieser skurrilen Figuren werden vergrößert auf eine Leinwand projiziert. Während hier das Detail zum Vorschein kommt, geht wird die Stimme, wenn sie vom verständlichen Sprechen der Texte umschlägt in Klangpoesie, in Sprachimitation, eher ins Vage, Gestische. Dennoch bleibt Aperghis hier, wie etwa auch in den in Witten ebenfalls erklungenen Kompositionen für Saxophon oder Klarinette, auf der Ebene der Sprachimitation. Das Ergebnis ist leider oft nicht mehr als ein instrumentales “Schnattern”.
Peter Ablinger: Sprachgestus und musikalischer Formsinn
Ganz anders wirkt die Musik Peter Ablingers in dessen beim Musikprotokoll des steirischen herbstes 2004 in Ausschnitten und hier in Erweiterung zu hörenden Zyklus “Voices & Piano” für Klavier und CD-Zuspielung. Über Lautsprecher zu hören waren die originalen Stimmen bekannter Persönlichkeiten, etwa von Ezra Pound, Billie Holliday, Morton Feldman, Mao Tse-Tung und anderen. Der Pianist, in diesem Fall der formidable Nicholas Hodges, spielte dazu eine Übersetzung der Sprache in Töne. Entstanden ist der Klaviersatz mithilfe eines Klangsyntheseverfahrens, das die Sprache möglichst genau in Töne überträgt, wobei klangfarbliche Nuancen, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, der Sprachgestus allesamt eine Rolle spielen. Ablingers Stück kann man als Sprachimitation verstehen, doch es ist weit mehr. Das Klavier ist bekanntermaßen das der menschlichen Stimme am weitesten entfernte Instrument; kein Atem oder dem Atmen gleichsam verwandtes Bogenspiel, kein Dauerton ermöglicht es dem Pianisten, eine menschliche Stimme klangfarblich zu imitieren. Aber gerade die Wahl dieses sprachfernen Instrumentes hat seinen Reiz – selbst wenn diese Wahl ursprünglich eher pragmatischen Überlegungen geschuldet war, wie Ablinger zugibt. Beim Hören des eher neutralen Klavierklanges bestaunt man nicht nur das klangliche Abbild der Sprache, die plötzliche Sprachähnlichkeit der rein akustischen, wortlosen Klaviergesten, wechselseitig kann man sowohl vom Wortsinn als auch vom Sprachgestus abstrahieren und im Klavierspiel die rein musikalisch gestaltete Form verfolgen. Anders ausgedrückt: Durch die Eliminierung des Wortsinns lenkt Ablinger die Konzentration auf scheinbar Nebensächliches der Sprache: den reinen Klang. Reduktion bewirkt keine Begrenzung hin zu einer Eindimensionalität des Klanges (Sprachgestus minus Wortsinn), sondern eine Umwandlung der Mehrdimensionalität: Sprache minus Wortsinn = Sprachgestus + musikalischer Formsinn.
In Peter Ablingers Klanginstallation Portrait meiner Eltern (Quadraturen III) (2004) beteten zwei selbstspielende Klaviere den Rosenkranz. Für die Elektronik zeichnete Winfried Ritsch verantwortlich. Seine Entscheidung, in diesem Fall keinen leibhaftigen Pianisten einzusetzen, sondern die Klaviere mechanisch spielen zu lassen, führt Peter Ablinger darauf zurück, eine möglichst genaue Umsetzung von Sprache in Musik erreichen zu wollen. Er vergleicht die durch die elektronische Steuerung des Klavieres potentiell wesentlich höhere Anschlagsdichte mit der Auflösung eines Computerbildes. Je mehr Pixel, also je feiner die klangliche Auflösung, die potentielle Klangdichte(möglichkeit), desto schärfer und genauer wird das (Hör)bild, das klangliche Abbild. Das Ergebnis ist verblüffend deutlich und durch die hohe Lautstärke und mechanische Prägnanz, ja fast Aufdringlichkeit, erinnerte das mechanische Beten des Rosenkranzes nicht nur an eine christliche Form der Meditation, sondern auch an die Dogmatik der katholischen Kirche.
Peter Ablingers Werke waren zweifellos Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Gerade aufgrund ihrer Mehrdimensionalität hoben sie sich von Kompositionen für Instrument oder Stimme von Georges Aphergis, dem gleich mehrere Stücke nebst einem Gesprächskonzert gewidmet waren, oder auch von Carola Bauckholt oder Isabel Mundry ab. Letztere “vertonte” ein Gedicht von Thomas Kling, ließ dabei den Text von einer Sprecherin (Salome Kammer, die nicht nur hier, sondern auch in einem kleinen Solokonzert sowie Aphergis Puppentheater überzeugte) vortragen und überließ den “Sologesang” einem Trompeter (Marco Blauw). Dazu sang der WDR-Rundfunkchor. Doch die von Isabel Mundry im Programmheft beschriebene Nähe zum Text in sowohl formaler als auch inhaltlicher Form waren weder im Chor noch im Part der Solotrompete klar herauszuhören.
Eine gekonnte Stimmperformance bot Amanda Steward, die zusammen mit Stefan Froleyks an seinen skurril-raffinierten Selbstbauinstrumenten zu hören war. In Walter Zimmermanns großangelegtem Klavierstück Voces Abandonadas begann das Klavier scheinbar sangliche Motive einzustreuen; Zimmermann suchte nach einem Weg, unzählige Sentenzen aus Antonio Porchas Voces in Klanggesten zu übersetzen, wobei so mache kurze Stilanleihen der Klaviergeschichte durchschimmerten.
Die Wittener Tage für neue Kammermusik sind kein Festival, das alle Konzerte unter ein Thema stellt. Entsprechend waren zahlreiche Werke auch völlig ohne einen Bezug zur Stimme. Elektronik spielte in diesem Jahr dabei selten eine Rolle. Ivan Fedele setzte fast schon zu zaghaft, nur an wenigen Stellen deutlich vernehmbar, elektronische Klangbearbeitung in Form einer Umsetzung spielerischer, also visueller Gesten in Klang ein. Es spielten der Akkordeonist Teodoro Anzellotti und das Arditti Quartett. Olga Neuwirth verwendete ein Zuspielband, um die live gespielten Klänge des Saxophonisten Marcus Weiss und der Pianistin Mathilde Hoursiangou nach und nach in immer entferntere Klanggefilde zu transformieren. Verfremdung/Entfremdung heißt ihr 2006 überarbeitetes Stück.
Ansonsten war auch diese Ausgabe des Festivals wie viele Uraufführungsfestivals. Man hört viel entfernt gestisch Verwandtes wie etwa die nicht neue, sich aber auch bei diesem Festival zeigende Tendenz der Suche nach Möglichkeiten, traditionelle Tonfolgen oder deutliche Bezüge zu tonalen Elementen und Klanggebung neu zu gestalten.
Hinweise:
Zeitton / Lothar Knessl über Witten am 24.5.2007
Wer gerne Ausführlicheres über die heurige Ausgabe der Wittener Kammermusiktage erfahren möchte, dem sei die Sendung Zeit-Ton am 24.5.2007 (Ö1. ,23.05 Uhr) empfohlen. Gestaltet wird sie von Lothar Knessl.
Mitschnitte der Wittener Konzerte und Performances werden vom 23. Mai bis 20. Juni 2007 jeweils mittwochs ab 20.05 Uhr in WDR 3 Konzert zu hören sein.
Foto Peter Ablinger: Siegrid Ablinger