„Vermittlung im weitesten Sinne“ – LENA JAEGER (TONKÜNSTLER-ORCHESTER NIEDERÖSTERREICH) im mica-Interview

555 Sängerinnen und Sänger präsentieren im Goldenen Saal des WIENER MUSIKVEREINS gemeinsam Beethovens „Ode an die Freude“; Orchestermitglieder laden zu Wanderungen und Konzerten im Club oder im Zug ein: Das sind Beispiele des vielfältigen Musikvermittlungsangebots des TONKÜNSTLER-ORCHESTERS NIEDERÖSTERREICH. Malina Meier sprach mit Musikvermittlerin LENA JAEGER, die die Leitung der sogenannten Tonspiele seit Mai 2017 innehat, über diese außergewöhnlichen Projekte des Orchesters gesprochen.

Am 22. April 2018 findet das große Abschlusskonzert zum Musikvermittlungsformat „Seid umschlungen, Millionen“ im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins statt. Dabei spielt das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich Ludwig van Beethovens 9. Symphonie und wird dabei von 555 Sängerinnen und Sängern unterstützt. Dieses Projekt wird in dieser Form nun bereits zum dritten Mal durchgeführt. Wie gestaltet sich dieses Format genau? 

Lena Jaeger: Ursprünglich hat unser Chefdirigent Yutaka Sado das Projekt aus Osaka, Japan, importiert. Dieses Jahr führt er das Format dort schon zum 36. Mal mit 10.000 Sängerinnen und Sängern durch.
Wir haben extra für das Format zwei Projektchöre gegründet, einen in Sankt Pölten und einen in Wien. Außerdem haben wir bereits bestehende Chöre hinzugenommen, in diesem Jahr neu den Chor Neue Wiener Stimmen und den Chor Sankt Peter und Paul. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es generationsübergreifend ist, denn wir haben Anmeldungen von ganzen Familien, von denen dann drei Generationen mitsingen, Mutter, Tochter und Oma zum Beispiel. Außerdem müssen keinerlei Kenntnisse mitgebracht werden, singen kann ja eigentlich jede und jeder, wodurch der Zugang sehr niederschwellig ist.
Durch das Projekt haben sich viele Leute kennengelernt, was auch dazu geführt hat, dass ein Teil des Chores jetzt bereits zum zweiten oder dritten Mal in Japan bei den 10.000 Sängerinnen und Sängern mitgewirkt hat. Letztes Jahr ist sogar eine Gruppe ganz selbstständig, also ohne das Team des Tonkünstler-Orchesters, nach Japan geflogen. Und dieses Mal kommen 35 Japanerinnen und Japaner zu uns, um beim Konzert mitzuwirken – es ist somit sehr international.

Bei 555 Sängerinnen und Sängern stellt sich die Frage, wie genau das alles koordiniert wird.

Lena Jaeger: Das ist natürlich eine Herausforderung, beispielsweise, was den Saal betrifft: Wir kriegen einfach nicht alle Leute auf die Bühne. Es haben ungefähr 250 Menschen plus Orchester auf der Bühne Platz. Dann verteilen wir Stimmgruppen auf die Balkon-Parterrelogen. Das macht es, finde ich, klanglich zu etwas Besonderem, denn das Publikum erlebt das Konzert quasi in einem Surround-Sound. 

Wie genau findet die Vermittlung der Musik hierbei statt? 

Lena Jaeger: Es gab bislang immer Treffen mit den Musikerinnen und Musikern des Orchesters, es gab Workshops mit Orchestermitgliedern im Zusammenhang mit einer Führung im Beethovenhaus Baden.
Diesmal möchten wir gerne das Beethoven Museum in Wien, das neu eröffnet hat, besuchen. Eine Kollegin aus unserem Team führt Beethoven-Wanderungen durch. Dadurch lernen die Sängerinnen und Sänger nicht nur die Orchestermitglieder kennen, sondern in diesem Fall auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Managements. Zudem möchten wir dieses Mal einen Beethoven-Heurigen machen.
Wir versuchen, möglichst viele Optionen anzubieten, aber alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer können von den Kapazitäten her leider nicht in den Genuss aller Aktionen kommen. Diesmal gibt es zudem die Möglichkeit, an zwei Führungen im Musikverein teilzunehmen und eine Orchesterprobe zu besuchen. Das bieten wir zwar nur für die Projektchöre an, aber man muss dazusagen, dass in einem Projektchor ungefähr 120 Leute sind und somit etwa 240 Personen dieses Angebot ermöglicht bekommen.
Der Fokus liegt hierbei eher auf dem Inhalt, wobei es natürlich ein Wunsch ist, auch Beethovens 9. Symphonie zu vermitteln.

Bild Tonkuenstlerorchester Niederoesterreich
Tonkünstlerorchester Niederösterreich (c) Martina Siebenhandl

„Die Idee dabei ist, dass wir aus unserem Konzertsaal rausgehen und zu den Leuten hingehen, alles bei freiem Eintritt.“

Dann gibt es noch ein zweites Projekt, das in seiner Form sehr besonders ist, mit dem Titel „Klanginseln“.

Lena Jaeger: Dieses Projekt ist, wie auch „Seid umschlungen, Millionen“, durch eine Förderung der EU ermöglicht worden. Die Idee dabei war, zu schauen, ob es möglich ist, ein Projekt zu kreieren, bei dem es mehr Austausch zwischen Orchester und Management und gleichzeitig auch mit dem Publikum gibt. Wir haben uns überlegt, dass es spannend wäre, wenn die Orchester-Musikerinnen und -Musiker eigene Ideen einreichen könnten, also nicht nur musikalischer Art, sondern auch, dass sie sich eine besondere Konzert-Location aussuchen. Die Kolleginnen und Kollegen werden bei der Organisation ihrer Konzerte vom Management unterstützt, auch im Hinblick auf folgende Fragen: Welche Zielgruppe möchte ich ansprechen, wie kann ich diese erreichen, was muss ich prinzipiell bei der Organisation einer Veranstaltung beachten? Die Idee dabei ist, dass wir aus unserem Konzertsaal rausgehen und zu den Leuten hingehen, alles bei freiem Eintritt.
Sieben verschiedene „Klanginseln“ haben wir dabei konzipiert: Zunächst „Tonkünstler on top“, eine musikalische Wanderung auf den Schneeberg zum Thema „Musik und Berg“. Diese wurde von einer Musikwissenschaftlerin begleitet. Am Zielpunkt hat ein kleines Streicher-Ensemble ein separates Konzert gegeben. Dann hatten wir ein Konzert im Club Volksgarten in Wien, bei dem das Orchester ganz traditionell im Frack mit einem klassischen Programm aufgetreten ist und das Konzert von einem Musiker moderiert wurde. Außerdem gab es eine Wanderung durch die Weinberge unter dem Titel „Wein, Weib und Gesang“, ebenfalls in Begleitung einer Musikwissenschaftlerin und mit abschließender Stanzl-Musik. Die Harfenistin, die bei diesem Projekt dabei war, hat einen Tanz angeleitet, sodass das Publikum auch aktiv involviert war. Und wir hatten auch das sehr schöne Angebot „Tonkünstler Salon“, bei dem Privatpersonen quasi ein Hauskonzert buchen konnten.
Und dies sind die kommenden „Klanginseln“: eine im MuseumsQuartier, bei der unter Anleitung eines Künstlers zu Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ gemalt wird, eine, die sich „Silent Strings – live & remixed“ nennt, bei der mit den Silent-Instrumenten von Yamaha gespielt wird, und eine mit Musik von John Cage, bei der es auf einer Zugfahrt von Krems nach Spitz musikalische Aktionen geben wird.
Am 9. Juni 2018 wird es dann ein großes Abschlusskonzert mit einem Best-of der „Klanginseln“ geben.

„Ich glaube, man konnte einige Menschen erreichen […]“

Schaffen Sie es, mit diesem Format neue Zielgruppen zu erreichen?

Bild Lena Jaeger
Lena Jaeger (c) Tonkunstler Orchestra

Lena Jaeger: Im Club waren beispielsweise viele junge Leute im Publikum. Wir haben einen Fragebogen gemacht, um unter anderem zu schauen, ob die jungen Menschen das Orchester überhaupt kennen und ob sie zum allerersten Mal in einem klassischen Konzert sind. Für viele war es tatsächlich Neuland und die Begeisterung war sehr groß. Ich glaube, man konnte einige Menschen erreichen oder ihnen zumindest einmal zeigen, was klassische Musik überhaupt ist, und dadurch Berührungsängste abbauen.

Die „Klanginseln“ bilden ein sehr einzigartiges Vermittlungsformat – welche Bedeutung hat so ein Format für Sie als Musikvermittlerin?

Lena Jaeger: Ich sehe darin eine ganz tolle Idee und Möglichkeit, um den Musikerinnen und Musikern eine Plattform zu geben, sich selbst auszuprobieren. Es ist ein Projekt, bei dem wirklich experimentiert werden kann. Dabei laufen Dinge vielleicht nicht immer so, wie man es sich vorstellt, aber letzten Endes profitieren sowohl die Musikerinnen und Musiker als auch das Management davon. Ich glaube, die Kolleginnen und Kollegen lernen sehr viel durch diesen Prozess, denn sie sehen einfach mal eine andere Perspektive, die sie sonst nicht so mitbekommen. Normalerweise ist es ja so: Ich gehe als Musikerin oder Musiker zum Dienst, da liegen meine Noten auf, da stehen mein Stuhl und mein Pult, ich packe mein Instrument aus, ich bin spielbereit. Hier sehen sie aber mal, was dahintersteht. Es ist somit nicht nur ein Vermittlungsprojekt für das Publikum, sondern auch für das Management und das Orchester. Also Vermittlung im weitesten Sinne.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

Malina Meier

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